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Warum Krankheit ohne Politik nicht heilbar ist

Ein Gespräch mit dem Medizinsoziologen Hans-Ulrich Deppe

»Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar«, so der in den achtziger Jahren noch als provokant geltende Titel Ihres Buches. Heute wird heftig über Gesundheitspolitik gestritten – allerdings wird die Debatte meist auf die Kosten des Gesundheitswesens reduziert. Was verstehen Sie, Herr Deppe, als Medizinsoziologie denn unter Gesundheitspolitik?

Unter Gesundheitspolitik verstehe ich die politische Regulierung des gesellschaftlichen Umgangs mit Krankheit und Gesundheit. Krankheit und Gesundheit lassen sich nicht auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse beschränken, sondern sind historisch und gesellschaftlich vermittelt. Und der gesellschaftliche Umgang damit ist abhängig von den jeweiligen politischen Kräftekonstellationen. In Deutschland reduziert sich Gesundheitspolitik weitgehend auf Krankheitspolitik und mit zunehmendem ökonomischem Druck gerinnt sie sogar zu einer Kostendämpfungspolitik. Ihre eigentlichen Ziele, Lebensverlängerung und Verbesserung der Lebensqualität – und zwar nicht nur für einzelne, sondern für alle –, geraten aus dem Blickfeld. Es gibt zur Zeit viele einzelne gesundheitspolitische Projekte, meistens empirische Untersuchungen. Dabei geht es u.a. um die Organisation medizinischer Institutionen, die Qualität der Krankenversorgung, die Bedeutung einzelner Krankheiten, das Verhalten von Versicherten und Kranken, die Honorierung von Ärzten, den Wettbewerb mit medizinischen Einrichtungen. Was fehlt, ist die übergeordnete perspektivische gesellschaftliche Orientierung. Lassen Sie es mich mit einer Metapher beschreiben: In der Gesundheitspolitik gibt es zur Zeit viele gut entwickelte einzelne Bäume, aber wie der daraus entstehende Wald aussieht – bzw. aussehen soll – ist unbekannt und wird nicht thematisiert.

Gesundheitspolitik ist aber nicht nur empirische Erhebung und theoretische Analyse, sondern sie ist Inhalt zahlreicher realer sozialer Bewegungen. Ich denke dabei an die Selbsthilfebewegung innerhalb und außerhalb des Gesundheitswesens, an soziale Bewegungen, die sich beispielsweise mit der Umwelt, Ernährung, sportlicher Betätigung unter dem Gesichtspunkt gesunder Lebensbedingungen befassen. Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang auch Gruppen, die wichtige Hilfe von hier aus in der Dritten Welt leisten.

Medizinsoziologie haben Sie als »Stoffwechsel zwischen Medizin und Gesellschaft« beschrieben. Sie hat also nicht nur den einzelnen Akteur – ob Arzt, Patient oder Krankenkasse – im Blick, sondern dieses komplizierte Beziehungsgeflecht. Welche wesentlichen Erkenntnisse über diesen Stoffwechsel hat die Medizinsoziologie in den vergangenen Jahren hervorgebracht?

Armut macht krank – so die knappe, plakative Erkenntnis, die durch zahlreiche Studien klar zu belegen ist. Die Medizinsoziologie hat in den vergangenen dreißig Jahren mit empirischen Untersuchungen dazu beigetragen, diese Zusammenhänge zu erhellen: So konnte nicht nur in Industrieländern, sondern weltweit festgestellt werden, dass mit fallendem Durchschnittseinkommen der Bevölkerung die Krankheiten ansteigen, dass in nahezu allen Gesellschaften die untersten Sozialschichten die häufigsten und die schwersten Erkrankungen haben und dass mit dem Abfall der Einkommen die Lebenserwartung deutlich sinkt. In neueren Untersuchungen konnte darüber hinaus sogar recht gut belegt werden, dass innerhalb der reichen Länder diejenigen, die die besten Lebenserwartungen haben, auch die geringsten Unterschiede in den Einkommen zu verzeichnen haben. Es geht hier um den Grad der Polarisierung in einer Gesellschaft.

Die Medizinsoziologie hat sich in den letzten Jahren gemeinsam mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen zu dem entwickelt, was heute als Gesundheitswissenschaft bezeichnet wird. Die Entwicklung kommt aus den USA und wird dort Public Health genannt. Dazu können neben der Medizinsoziologie Gesundheitspolitik, Gesundheitsökonomie, Pflegewissenschaften, Sozialmedizin u.a. gezählt werden. Public Health geht es um die Frage, welche gesellschaftlichen Bedingungen und welches soziale Verhalten krank machen. Gibt es bestimmte soziale Risiken und gesellschaftliche Bedingungen wie Umwelt –, Arbeits- und Lebensbedingungen, Familienkonstellationen, die Krankheiten verursachen oder bestimmte Krankheiten verstärken? Und wie reagiert die Gesellschaft auf solche Erkenntnisse?

Ist Prävention denn irgendwo als politisches Ziel verankert?

Prävention ist eine traditionelle gesellschaftliche Forderung, die aber Ende der siebziger Jahre durch die Weltgesundheitsorganisation erheblichen Auftrieb bekommen hat, weil sie die Gesundheitsförderung in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellte. Schon in Artikel I der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation von 1948 heißt es: Gesundheit ist ein menschliches Grundrecht. Und unter Gesundheit versteht die WHO körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden. Wir haben in Deutschland einen exorbitanten Nachholbedarf bei Prävention und Gesundheitsförderung, auch wenn seit 1988 dieser Gedanke im deutschen Sozialgesetzbuch verankert ist. Prävention muss weiterhin thematisiert werden, damit es zu einem Umdenkungsprozess in der Krankenversorgung kommt. (...)

Das Deutsche Gesundheitssystem gilt als besonders resistent gegenüber Reformen und als nur schwer steuerbar. Kann die Medizinsoziologie wissenschaftliche Instrumente anbieten, um das Gesundheitswesen zu regulieren?

Ja, die Medizinsoziologie kann hier viel dazu beitragen. Das deutsche Gesundheitssystem galt bis zur so genannten Seehofer-Reform 1993 als veränderungsresistent, aber unter dem ökonomischen Druck waren Veränderungen auf einmal möglich. Unser Gesundheitssystem ist stark verrechtlicht und bürokratisiert – im positiven und im negativen Sinn. Von daher ist es resistent, und es gibt auch gewisse Eigendynamiken. Wenn Sie fragen, was die Medizinische Soziologie zum Beispiel dazu beitragen kann, dann gehe ich von der wissenschaftlichen Seite aus: Wir brauchen zunächst Daten über den Gesundheitszustand der Bevölkerung und die Versorgungseinrichtungen – wir brauchen also eine zuverlässige Gesundheitsberichterstattung. Da hat Deutschland Nachholbedarf, das ist das eine. Aber wir müssen diese Zahlen auch interpretieren und in die Politikberatung einbringen. So arbeiten heute nahezu in allen Institutionen des Gesundheitssystems Medizinsoziologen. Lassen Sie mich nur als ein Beispiel für die notwendige Mitarbeit von Medizinsoziologen das gerade vorgelegte Gutachten des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen »Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit« erwähnen. Darin geht es nicht nur um Ökonomie, sondern auch um Zielsetzungen im Gesundheitswesen, die Gesundheitsförderung und Prävention, aber auch um Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement – genuine medizinsoziologische Sachverhalte!

Unter dem wirtschaftlichen Druck wird die Frage nach sozialer Gerechtigkeit im Gesundheitswesen neu gestellt werden müssen. Wie wird sich das auf die unteren sozialen Schichten auswirken?

Wenn nun – wie zuvor erläutert – in den untersten Einkommensgruppen mehr und schwere Krankheitsfälle zu verzeichnen sind, dann bedeutet das für die Krankenkassen: Die höchsten Ausgaben fallen bei denen an, die die geringsten Beiträge zahlen. Aus diesen beiden ökonomischen Gründen zählen die Einkommensschwachen zu unbeliebten Mitgliedern der Krankenkassen. Im Zuge des Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen versuchten die Kassen die jungen Gutverdienenden, die wenig krank werden, mit niedrigeren Beitragssätzen abzuwerben. Die Betriebe haben das natürlich unterstützt, weil die Arbeitgeber 50 Prozent des Beitrages bezahlen. Der Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen ist deshalb dringend diesen Erfordernissen anzupassen. Unter Gesichtspunkten sozialer Gerechtigkeit müsste sogar ein Wettbe-werb um chronisch Kranke stattfinden. Es müsste sich für die Kassen lohnen, schwer Kranke zu behalten, aber auch gezielte Prävention zu betreiben.

Sehen Sie im internationalen Vergleich Anzeichen dafür, dass die Diskussion über Kommerzialisierung aller Lebensbereiche an ihre Grenzen gestoßen ist, dass die Bürger statt dessen eine Diskussion über Gemeinwohl, über »common sense«, fordern?

Die neoliberale Welle nahm ihren Ausgang in den Vereinigten Staaten und kam über Großbritannien zu uns auf den Kontinent. In den USA und England wurde die Neoliberalisierung radikaler durchgesetzt als auf dem Kontinent, wo sich ein gewisser Widerstand entwickelt hat. Die USA haben die höchsten Ausgaben für Krankenversorgung auf der ganzen Welt. Sie haben außergewöhnlich hohe Verwaltungskosten. Auffallend ist auch, wie extrem sozial ungleich die Krankenversorgung dort ist. Es wird bereits von einem Scherbenhaufen verunglückter Deregulierung gesprochen. In England können wir beobachten, dass die Ökonomisierung vieler Lebensbereiche und die Aufgabe staatlicher Regulierungskompetenz zu einer Polarisierung innerhalb der Gesellschaft bis hin zur Auflösung gesellschaftlicher Strukturen und gesellschaftlicher Normen von Verantwortlichkeit geführt hat. Vor dem Hintergrund verschiedener krisenhaften Anlässe – ob das nun Unfälle in privatisierten gesellschaftlichen Bereichen oder Versäumnisse in der Landwirtschaft sind – haben viele Briten den Eindruck, das Gemeinwohl habe die Kontrolle über die Gesellschaft verloren. Die Sozialbürokratien in Europa sind im Vergleich mit den USA keineswegs zu teuer. Ihre Verwaltungskosten sind interessanterweise eher gering. Sie leisten einen hohen Beitrag zur gesellschaftlichen Stabilität.

Die medizinische Soziologie ist ohne den Aufbruch der 68er nicht denkbar. Sind die 68er mit ihren Ansätzen einer Kritischen Medizin, die den Kranken nicht als Objekt betrachtet, sondern als Subjekt in den Mittelpunkt stellt, gescheitert?

Nein, im Gegenteil: Die kritische und soziale Medizin, die sich im Rahmen der 68er Bewegung entwickelte, hat einiges in Bewegung gesetzt. Sie hat den Zusammenhang von sozialen Bedingungen und Krankheit thematisiert. Sie hat sich mit fragwürdigen autoritären Strukturen im Gesundheitswesen auseinander gesetzt. Sie hat kritisiert, dass der Kranke nur noch als Objekt wahrgenommen wird. Nicht zu vergessen ist auch, das sich diese Bewegung erstmals in der Bundesrepublik mit der Medizin im Nationalsozialismus befasst hat.

Ich denke, dass die stärkere Wahrnehmung der Psyche, also des Subjekts Kranker, mit auf die 68er Bewegung zurückzuführen ist. Nicht nur das Labor und damit die naturwissenschaftliche Medizin entscheidet über Gesundheit und Krankheit, sondern auch die Befindlichkeit, die Ängste, Zwänge und Gefühle der Menschen. Es gab bis 1967 keine gesellschaftlich anerkannten psychosomatischen Erkrankungen. 1967 wurden in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen psychosomatische Erkrankungen aufgenommen. Seitdem werden sie auch bezahlt und als Krankheit gesellschaftlich anerkannt. Vor kurzem sind die Psychotherapeuten mit in die kassenärztliche Versorgung aufgenommen worden. In diesen Zusammenhang sollte man sich auch wieder einmal des Ausspruchs von Alexander Mitscherlich, dem Frankfurter Psychoanalytiker, erinnern. Er sagte: »Medizin ohne Kenntnis der Phantasie ist Veterinärmedizin«.

Die Kombination von Biologie und Ökonomie kann zu fatalen Folgen führen, wenn sich das Menschenbild auf den »homo biologicus« und den »homo oecomicus« reduziert. Ich möchte hier gar nicht die spezifischen Erfahrungen unserer Geschichte bemühen, weil sich heute diese Beziehungen in einem anderen Licht, unter anderen politischen Bedingungen, darstellen. Aber ich denke, es ist Aufgabe, sich dieser Entwicklung bewusst zu werden und auf die Gesundheitspolitik in der Weise einzuwirken, dass das Gemeinwesen vor einer unkontrollierten und selbstbestimmten Kombination von Biologie und Ökonomie geschützt wird.

Das Interview mit Hans-Ulrich Deppe wurde zuerst veröffentlicht in: »Forschung Frankfurt. Wissenschaftsmagazin der Johann Wolfgang Goethe-Universität«, Nr. 03/2001.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/02


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