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Ouvertüre oder Abgesang?

Kleinlaute Töne statt Fanfaren – ver.di vor und nach dem Ausstieg der ÖTV

Heinz-Günter Lang

Seit 1994 wird in der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) darüber diskutiert, sich mit anderen Gewerkschaften zusammen zu schließen. Einen wesentlichen Grund für diese Überlegungen bildeten die negative Mitgliederentwicklung seit Anfang der 90er Jahre und die damit zusammenhängenden Einnahmeverluste: Ende 1991 hatte die HBV noch 737.075 Mitglieder, Ende 1993 waren es noch 538.782, also ein Verlust von 198.293 Mitgliedern.

Zunächst wurde versucht eine Kooperation zwischen HBV, IG Medien, Gewerkschaft Holz und Kunststoff, Gewerkschaft Textil und Bekleidung und Gewerkschaft Nahrung, Genuss und Gaststätten zu entwickeln. Die "fünf kleinen Tiger", wie sie genannt wurden, hatten in dem genannten Zeitraum 373.926 Mitglieder verloren. Durch die Entscheidung von GTB und GHK, sich der IGM anzuschließen, wurde dieser Versuch, bevor er überhaupt richtig zum Tragen kam, beendet.

Der HBV-Gewerkschaftstag 1995 nahm dann einen Antrag an, in dem die "Bildung einer privaten Dienstleistungsgewerkschaft unter Einbeziehung auch der DAG" gefordert wurde. Bereits im Februar 1996 verabschiedete der HBV-Gewerkschaftsausschuss ein Positionspapier "Für einen Verbund der Gewerkschaften im Dienstleistungssektor", in dem es schon nicht mehr nur um den privaten Dienstleistungssektor ging.

Die Deutsche Postgewerkschaft (DPG) hatte unterdessen eine private Unternehmensberatungsfirma beauftragt, die Entwicklung der DPG nach der Privatisierung der Deutschen Post zu untersuchen. Diese machte der DPG u.a. den Vorschlag, sich mit der HBV, der IG Medien etc. zusammenzuschließen. Die DPG unterbreitete HBV und IG Medien am 28. Oktober 1996 dann das Angebot, einen Verbund zu gründen. Die drei Gewerkschaften verabschiedeten den Verbundvertrag im November 1997.

Während der Diskussion zum Verbundvertrag kam es am 1. Juli 1997 zu Gesprächen zwischen den Gewerkschaften ÖTV, DPG, GdED, GEW, IG Medien, NGG, HBV und DAG. Der "Dienstleistungs-Achter" diskutierte über eine Neustrukturierung der Gewerkschaften im Dienstleistungssektor. Die NGG verabschiedete sich vor der am 4. Oktober 1997 unterschriebenen gemeinsamen Erklärung. Jetzt waren es nur noch sieben!

Vor der Einigung der Vorsitzenden auf einen "Entwurf zur politischen Plattform" im Februar 1998 verließ die GdED das gemeinsame Boot, und die GEW setzte ihre Beteiligung im Juli 1998 aus. Jetzt waren es nur noch fünf!

ÖTV, HBV, DPG, IG Medien und DAG entwickelten in der Folge ein Konzept zur Gründung einer "Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft" (Ver.di). Erst mit einer solchen Gewerkschaft sei es möglich:

Doch Tatsache bleibt: Die Interessen der Mitglieder können immer nur dann durchgesetzt werden, wenn die Mitglieder von ihren Forderungen überzeugt und bereit sind, sich für die Durchsetzung dieser Interessen aktiv einzusetzen.

Auch die Vermeidung von Gewerkschaftskonkurrenz ist damit nur zum Teil gegeben: Nicht zwischen DAG und den anderen DGB-Gewerkschaften, insofern Mitglieder der DAG auch in den Industriebetrieben beschäftigt sind, und auch nicht zwischen HBV und NGG sowie zwischen DPG und IG Metall. Es entsteht vielmehr neue Konkurrenz im Bereich industrienaher Dienstleistungen, für die sich die Industriegewerkschaften zuständig erklären.

Durchsetzungsfähigkeit in Fällen von Tarifflucht und/oder bei der Schaffung neuer Unternehmensstrukturen kann nur durch den Widerstand der organisierten Beschäftigten und durch deren Bereitschaft, dagegen zu kämpfen, erreicht werden. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist der durch die Spaltung des Arbeitgeberverbandes Einzelhandel bedingte Wegfall der Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge, durch den bei einer Reihe von Einzelhandelsbetrieben, wie z.B. WalMart und Schlecker, keine Tarifbindung mehr besteht.

Zudem würde der Zusammenschluss mit den anderen Gewerkschaften im Dienstleistungsbereich in den meisten Branchen nicht zu einer Erhöhung der Organisationsgrade führen. Diese Erhöhung war auch bislang in den zuständigen Einzelgewerkschaften abhängig von der konkreten Gewerkschaftspolitik und dem Einsatz ehren- und hauptamtlicher FunktionärInnen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass nicht darüber diskutiert wird, dass die vier DGB-Gewerkschaften in der Zeit von 1991 bis 1999 insgesamt 1.111.284 Mitglieder verloren haben.

Die Krise der Gewerkschaften ist in erster Linie eine politische Krise, sie ist nicht in den organisatorischen Strukturen der Gewerkschaften begründet. So werden keine Konzepte entwickelt oder angedacht, wie man der neoliberalen Politik, der Aufkündigung der Sozialpartnerschaft durch die Arbeitgeber und ihrer Verbände, den Folgen der Globalisierung und der Ausgliederung von Betrieben bzw. Betriebsteilen entgegentreten will.

Die gewerkschaftspolitischen Ziele, die mit der Aufhebung der Konkurrenz unter den Gewerkschaften verbunden sind, sind in den Hintergrund getreten; über – kontroverse – Wege zu ihrer Realisierung wird schon gar nicht mehr diskutiert:

Fusionen lösen die durch die politische Krise verursachten Probleme der Gewerkschaften nicht. Entsprechend werden auch die Ursachen des Mitgliederrückganges durch diese Zusammenschlüsse nicht beseitigt.

Bei der HBV gibt es durchaus Orts- und Bezirksverwaltungen mit Mitgliederzuwachs, steigenden Beitragseinnahmen und aktiver und lebendiger Gewerkschaftsarbeit. Ein Zeichen dafür, dass Größe allein Gewerkschaften nicht attraktiv macht. Die Menschen wollen keine anonymen Großorganisationen. Attraktivität können Gewerkschaften vielmehr erst gewinnen, wenn sie wieder mehr zu Mitmach-Gewerkschaften werden, mit denen die Menschen sich identifizieren und in denen sie etwas bewegen können.

Eine neue gewerkschaftliche Großorganisation ist dagegen kein Garant für aktive Gewerkschafts-arbeit. Es ist immer noch richtig, was Ossip K. Flechtheim 1963 festgestellt hat: "Der modernen Arbeiterbewegung, die innerhalb des Kapitalismus als eine Gegenbewegung entstand, ist es zwar gelungen, diesen scheinbar zu ‘sozialisieren’, also in Wirklichkeit ‘sozialer’ zu gestalten, wie sie auch die bürgerliche Gesellschaft in einigen Aspekten zu nivellieren und den Staat bis zu einem bestimmten Grade zu demokratisieren vermocht hat. Zugleich hat sich jedoch die (...) Arbeiterbewegung selber immer stärker in die bürgerlich-kapitalistisch-demokratische Gesellschafts-, Wirtschafts- und Staatsordnung integriert, sie hat sich ‘saturiert’ und ‘kapitalisiert’. (...) Die Arbeiterorganisationen befinden sich im Prozess einer immer weitergehenden ‘Institutionalisierung’ und ‘Bürokratisierung’".

Am 27. Juli 2000 hat der Hauptvorstand der ÖTV festgestellt, "dass die Zustimmung zu ver.di seit dem März dieses Jahres nicht gestiegen ist". Deshalb wird er in seiner Sitzung am 27./28. September 2000 "abschließend darüber beraten, ob die ÖTV weiterhin eine Verschmelzung zu ver.di, der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft, im März 2001 anstrebt."

Der ÖTV-Vorsitzende Herbert Mai machte in einem Interview mit der Berliner Zeitung am 21. August 2000 die HBV dafür verantwortlich, dass es nach dem derzeitigen Stand der Auseinandersetzung nicht genügend Bezirke geben würde: "Die ÖTV will in der neuen Gewerkschaft möglichst viele Bezirksstellen, in denen ehrenamtliche Gremien agieren und Einfluss nehmen können auf das Gewerkschaftsleben". Mai drängte auf vernünftige Lösungen und erklärte: "Wenn die HBV sich nicht bewegt und ihre Blockade aufgibt, sehe ich allerdings schwarz. In Bayern wären wir bereit, von jetzt 22 Verwaltungsstellen auf 13 zu reduzieren. Nach Ansicht von HBV sind das aber immer noch zu viel. Das ist soweit weg von der Realität, dass wir sagen: Dadurch kann die Frage, ob es ver.di geben wird, in der ÖTV auch mit Nein beantwortet werden".

Hintergrund ist, dass die ÖTV bereit wäre, die bisherigen 163 Kreisverwaltungen (Bezirke) auf 125 zu reduzieren, die HBV will aber nur 80. Ein offener Punkt sind auch die 13 Fachbereiche und deren politische Selbständigkeit in den ver.di-Strukturen sowie die Frage ihrer Finanzhoheit. Eine relativ autonome Fachbereichs-Struktur kann dazu führen, dass es in ver.di bis zu 13 Gewerkschaften geben könnte, wodurch eine einheitliche ver.di-Politik verhindert wird.

Die Reaktion von HBV, DPG, IG Medien und DAG auf die Situation in der ÖTV war der verzweifelte Versuch, den bisherigen Stand des Prozesses als beispielhaft für die Gründung von ver.di darzustellen. Wörtlich heißt es in der entsprechenden Presseerklärung vom 27. Juli 2000: "Die bislang erarbeiteten Lösungen und politischen Positionen werden dem Reformanspruch voll gerecht. (...) Deshalb werden die vier Gewerkschaften die Schaffung von ver.di. weiter vorantreiben."

Im weiteren Verlauf der Diskussionen in den vier Einzelgewerkschaften kam es dann zu einer Einigung dahingehend, dass HBV, DPG, IG Medien und DAG die neue Gewerkschaft ver.di gründen – mit der Perspektive, dass die ÖTV auch zu einem späteren Zeitpunkt ver.di noch beitreten könne. Dazu wurde eine "4+1-Lösung" als Zwischenschritt entwickelt, der der ÖTV übermittelt wurde. In diesem Papier sind auch mögliche Inhalte eines Kooperationsvertrages mit der ÖTV enthalten.

Interessant an dieser Vorgehensweise ist, dass die vier Vorstände fest davon überzeugt sind, dass auf ihren Gewerkschaftstagen die notwendige Mehrheit für die Auflösung ihrer Gewerkschaft erreicht wird.

Doch auch innerhalb der ÖTV gibt es Unzufriedenheit mit dieser Konstruktion. So wollten die Vorsitzenden der Hamburger ver.di-Gewerkschaften für Samstag, den 26. August, zu einer Funktionärskonferenz der ver.di-Bezirke und -Landesbezirke nach Mainz einladen. Thema sollte sein: "ver.di ist Zukunft". Nach heftigen Gegenreaktionen vor allem aus der ÖTV selbst wurde diese Konferenz wieder abgesagt. Daraufhin wurde ein "Hamburger Appell" entwickelt, mit dem unter der Überschrift "Wir wollen ver.di" in den Betrieben Unterschriften gesammelt werden sollen. Die HBV Frankfurt/Main hat diesen Appell übernommen und lässt bereits sammeln.

Was hat all dies mit den Interessen der meisten Mitglieder und Funktionäre zu tun?

Deutlich wird an der jüngsten Auseinandersetzung um ver.di., dass die Neugründung der Dienstleistungsgewerkschaft ein technokratischer Schöpfungsakt von oben ist. Verbunden damit ist der Verlust innergewerkschaftlicher Demokratie, von Identifikations-, Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten für Mitglieder und Funktionäre. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der am 10. Juli 2000 vorgelegte Entwurf der Satzung von ver.di, der bis zum 30. September 2000 diskutiert werden kann. Vorschläge zur Änderung können zwar noch gemacht werden, aber die Mitgliederversammlung der Gründungsorganisation ver.di – insgesamt 45 KollegInnen – wird am 22./23. Oktober 2000 eine endgültige Satzung beschließen. Diese Satzung kann auf dem geplanten Verschmelzungskongress im März 2001 dann nur angenommen oder abgelehnt werden.

Größe allein bedeutet auch nicht mehr Macht, denn klar ist: Gewerkschaften entstehen nicht am Reißbrett. Sie wachsen aus dem freien Zusammenschluss von Menschen. Gewerkschaftsmitglieder können nicht verschoben werden wie Aktienpakete. Gewerkschaften können und dürfen kein Spiegelbild der Konzerne sein – weder in Bezug auf ihren Entstehungsprozess noch hinsichtlich ihres demokratischen Aufbaus.

Wir wissen aus unseren Erfahrungen in der Gewerkschaft HBV, dass die Stärke von Gewerkschaften in der Bewegung ihrer Mitglieder manifest wird. Es ist sogar gefährlich, den Mitgliedern eine vermeintliche Stärke durch Größe zu suggerieren. Gerade die HBV lebt von Auseinandersetzungen, in denen es gelingt, die Mitglieder aktiv einzubeziehen und eine breite Bewegung zu entfalten. Dies hängt auch damit zusammen, dass die HBV weder eine große Stamm-Mitgliedschaft noch große Betriebseinheiten hat.

Die von HBV organisierten Betriebe sind besonders stark geprägt von den spezifischen Bedingungen der Kleinst-, Klein- und Mittelbetriebe. Gerade die Erfahrungen beim Aufbau von Betriebsräten in der Drogeriekette Schlecker und die Auseinandersetzung in den Lebensmittelfilialbetrieben von Nanz/Allfrisch beim Verkauf an Edeka/Neukauf im Raum Mannheim/Heidelberg sowie die Schließung des Großversandhauses Schöpflin in Lörrach durch Quelle machen deutlich, dass neue Arbeitskampfformen, verbunden z.B. mit Boykottaufruf, auch eine kleine Gewerkschaft mächtig machen können. Voraussetzung dafür ist Bewegungsfreiheit vor Ort und im Landesbezirk, damit überhaupt Bewegung entwickelt werden kann und auch aus Kleinsteinheiten die Beschäftigten eine Gewerkschaft haben.

Die neue Dienstleistungsgewerkschaft würde dagegen eine Megagewerkschaft mit mehr Bürokratie und weniger Demokratie. Die so genannte Matrixorganisation – d.h. die Struktur der Ebenen und Fachbereiche – macht deutlich: Es sind objektiv zu viele Gremien erforderlich, die durch Ehrenamtliche nicht mehr kontrollierbar sind. Es geht ja nicht nur um die Fachbereiche – auch die horizontalen Ebenen müssen aufgebaut werden, strukturiert und kontrollierbar sein.

Dies zeigt deutlich: Die neue Gewerkschaft wird nicht von den Mitgliedern entwickelt und strukturiert, sondern hauptsächlich von den Gewerkschaftsapparaten.

Die neue Gewerkschaft entspringt nicht dem Bedürfnis der meisten Mitglieder. Sie ist eine Kopfgeburt der geschäftsführenden Hauptvorstände und wird deshalb zwangsläufig die Kräfte des Apparates absorbieren und viel mit Direktiven erledigen müssen.

Dezentralität, mehr Demokratie, erlebbare Alltagskultur und die Orientierung an den betrieblichen Konflikten der Mitglieder machen Gewerkschaften attraktiver als schiere Größe. Identifikations-, zahlreiche Entscheidungs- und Beteiligungsmöglichkeiten für Mitglieder und insbesondere Aktive zeichnen die HBV aus.

Wenn wir diese HBV-Kultur erhalten wollen, müssen wir jetzt in der HBV diskutieren und dafür Mehrheiten gewinnen, dass der Außerordentliche Gewerkschaftstag vom 12. – 14. September 2000 eine Bilanzierung vornimmt und der ver.di-Prozess beendet wird.

Erschienen in: express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Nr. 8/2000
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