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Chaos – dein Name sei ver.di

Peter Balluff* zur gewerkschaftlichen Organisationsmisere

Jedem Neuanfang wird eine hundertägige Schonfrist eingeräumt. Nachdem diese am 30. September 2001 abgelaufen war, lohnt es sich einen ersten Blick auf das neugeschaffene Gebilde ver.di (Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft) zu werfen.
Gerne wäre man bereit, trotz einiger »Geburtswehen« zu konstatieren, dass diese Organisation alles in allem auf einem gutem Weg ist. Dies kann aber, trotz allem Wohlwollen, nicht behauptet werden.

Sowohl innen- wie auch außenpolitisch befinden wir uns in einer angespannten politischen Lage. Der Anschlag auf das World Trade Center am 11. September hat Spuren und Wunden hinterlassen, die lange Zeit anhalten werden. Der zur Zeit stattfindende Rachefeldzug des US-amerikanischen Militärs müsste, bei aller vermeintlichen Loyalität, die deutsche Gewerkschaftsbewegung, die sich so gerne den Ehrentitel als »einzige Friedensbewegung« verleiht, dazu veranlassen, eine eindeutige Position zu beziehen.

Der oft gescholtene Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sieht sich nur veranlasst, Presseerklärungen abzugeben, hinter der sich auch die Gewerkschaft ver.di verschanzt. Aber bei genauem Hinsehen wird deutlich, dass bei dieser Presseerklärung die Feinheiten im Detail stecken. Wenn es dort heißt: »Allein mit mili-tärischen Mitteln ist der Terrorismus nicht zu bekämpfen...«, so artikuliert der DGB gerade mit dieser Wortwahl, dass er den Einsatz von militärischen Aktionen nicht grundsätzlich ablehnt, sondern sie sich als eine Option offenhält und auch zukünftig Terroranschläge, wer immer solche durchführt, gerne mit Bomben bestraft sehen möchte. Dabei bleibt undefiniert, welche Aktionen als Terror eingestuft werden können. Ist die Besatzungspolitik der Israelis in palästinensischen Gebieten als Antwort auf Selbstmordattentate, die Anschläge der Eta, die Besetzung des russischen Militärs in Tschetschenien oder die Abschiebung von Flüchtlingen in unsichere Drittländer Terror?

Vielleicht ist es zuviel verlangt, von einer sich neu strukturierenden Gewerkschaft, bei der unterschiedliche Kulturen aufeinander prallen, zu verlangen, hierzu eine Position zu beziehen. Es sei aber die Bemerkung gestattet, dass die Welt nicht darauf wartet, bis sich eine neu gegründete Gewerkschaft in Deutschland sortiert hat. Dieser Prozess der Neusortierung wird lange, schmerzhaft und teilweise auch qualvoll sein. Die »Gründerväter und -mütter« haben sicherlich geahnt, dass das Zusammenwachsen unterschiedlicher gewerkschaftlicher Kulturen schwierig sein wird, die Dimension wird sie nunmehr sicherlich überraschen.

Die Bandbreite reicht von einer eher bürokratischen ÖTV bis hin zu einer eher links ausgerichteten Gewerkschaft hbv. In der täglichen Arbeit führt dies oftmals zu einer Lähmung, weil das Verständnis füreinander fehlt und demzufolge eine abwartende, sich belauernde Position, bezogen wird.

Die durch den Gewerkschaftstag beschlossene Matrixorganisation trägt auch nicht gerade dazu bei, innovative zukunftsweisende Projekte voranzubringen. Sicherlich wird das Festhalten an dieser Matrixorganisation dadurch verbrämt, dass eine vermeintliche Basisdemokratie vorgegaukelt, jedoch führt dies dazu, dass Vorgänge, deren Sinnhaftigkeit einerseits zwar erkannt werden, andererseits aber in die Gremien abgeschoben wird und dort, angesichts der langen Laufzeit, »versauern«.

 

Es gilt das Motto: »Es lebe der Vorgang«

Die Beschäftigten der neuen Organisation ver.di sind dadurch, auch wenn keine statistischen Erhebungen vorliegen, in ihrer überwiegenden Zahl frustriert und demotiviert. Für eine positive Stimmung trägt auch nicht die Aussage bei, dass es einen Personalüberhang von 1000 Beschäftigten gibt und der Kreis der politischen Sekretäre »überaltet« sei und auch dort für einen Austausch gesorgt werden muss.

Ruft man sich in Erinnerung, dass der Zusammenschluss zur Gewerkschaft ver.di nur dadurch erkauft wurde, dass den Beschäftigten eine umfangreiche Beschäftigungsgarantie zugesichert wurde, so ergibt sich aus der Feststellung, dass es einen Personalüberhang gibt und der Unmöglichkeit diesen Beschäftigungsüberhang abzubauen, perspektivisch ein nicht zu unterschätzendes finanzielles Problem für die neue Organisation ver.di.

In diesem Zusammenhang muss man fast schon wieder den Mangel an politischem Feingefühl bewundern, wie sich die neu geschaffene Führungsebene in Selbstbedienungsmentalität ihre Gehälter erhöht und eine neue Zentrale bezieht, wo sich die Tagesmiete (!) auf 46000 DM beläuft. Die Presseveröffentlichung war dementsprechend und die Reaktionen der Mitglieder und potentiellen Mitglieder ebenso.

Die Neuaufnahmenquote ist so niedrig wie seit Jahren nicht mehr. Die Abgangsquote übersteigt voraus-sichtlich den Level des letzten Jahres. Voraussichtlich wird die Organisation zwischen 3,5 – 4,5 Prozent ihrer Mitglieder im Jahre 2001 verlieren, was auf Basis von 3 Millionen Mitglieder ca. 100000 Mitgliederverlust (brutto) bedeuten würde. Unterstellt, diese Tendenz setzt sich über die nächsten Jahre fort, so wird ver.di zum Jahreswechsel 2006/2007 25 Prozent ihrer Mitglieder verloren haben, was voraussichtlich zum finanziellen Kollaps der Organisation – dies dann vor dem 2. ordentlichen Gewerkschaftskongress – führen wird. Beängstigend ist, dass kein Signal zum Gegensteuern folgt, es sich sogar eher der Eindruck breit macht, dass diese Tendenz billigend in Kauf genommen wird.

Das Hauptaugenmerk richtet sich z.Zt. auf die Frage der »Budgetierung«, d.h. welche Mittel stehen in den nächsten Jahren für Sach- und Personalkosten zur Verfügung. Sind einzelne Fachbereiche nicht bereit, Mit-tel für finanziell nicht gut ausgerüstete Fachbereiche und Ebenenstrukturen abzugeben, wird perspektivisch die Gewerkschaftsarbeit in diesen Bereichen eingestellt. Nun ist die Runde für die »Zocker« eröffnet.

In der Budgetierungsfrage spielen auch die gewerkschaftseigenen Bildungsstätten eine traurige Rolle. Jedem Beteiligten war klar, dass die Bildungsstätten in ihrer Gesamtheit keine Überlebenschancen haben. Unterschiedliche Gerüchte werden nunmehr in den Raum gesetzt, angefangen von der Feststellung, dass die lukrativsten Bildungsstätten verkauft werden müssen, weil diese am meisten Veräußerungsgewinn bringen, bis hin zu den unrentabelsten, weil diese nicht kostendeckend arbeiten. Es ist zu befürchten, dass wieder einmal ein schlüssiges Konzept fehlt (wie wäre es denn mit der Ausgliederung in eine eigene Gesellschaft?) und die Organisation, »so oder so«, das Nachsehen haben wird.

In diesem Jahr stehen in allen wichtigen Branchen Tarifverhandlungen an. Dabei darf man nicht unberücksichtigt lassen, dass noch eine Bundestagswahl ins Haus steht. Die »Altorganisation ÖTV« ist »fein aus dem Schneider«, weil ihre Tarifrunde erst im Oktober 2002 richtig an Fahrt gewinnt. Für die anderen Branchen bedeutet es wieder die Auseinandersetzung mit den Fragen »Globalisierung«, »Haushaltsanierung« und »Sparpolitik«. Alles schaut gespannt zur großen IG Metall, in der Hoffnung, dass ein akzeptabler Tarifabschluss Sogwirkung entwickelt. Wenn dies kein Trugschluss ist. Verschämt wird verschwiegen, dass es für das Reisebürogewerbe schon einen Tarifvertrag gibt, mit einer 2,7 prozentigen Gehaltserhöhung, aber mit 7 »Nullmonaten«.

Wenn sich die Gewerkschaften darüber hinaus wieder in Abhängigkeit zur SPD begeben, sind die Ergebnisse jetzt schon absehbar. Es wird schon gemunkelt, dass die Gewerkschaftsvorsitzenden mit dem Bundeskanzler »Lohnleitlinien« diskutieren. Eine »2« vor dem Komma wird jedoch nicht das Interesse für die Gewerkschaften steigern. Auch hier befinden sich die Gewerkschaften wieder in der Zwickmühle.

Es wäre an der Zeit, von der selbstzerstörerischen Nabelschau Abstand zu nehmen, klare politische Ziele (beispielsweise Gesundheitsreform) zu definieren und diese auch mit Aktionen zu untermauern. Die Gewerkschaft ver.di ist aufgefordert, einen außerordentlichen Gewerkschaftstag einzuberufen, um eine politische Plattform zu erarbeiten und zur Aktionsfähigkeit zurückzukehren.

 

* Peter Balluff ist Sekretär bei der Gewerkschaft ver.di, Mainz

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3/02


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