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Wir gegen rechts

Besprechung einer Broschüre zum gewerkschaftlichen Antirassismus

Von Ralf Brodesser

"Toleranz statt Gleichstellung", dieses Prinzip lag auch jenem "Aufstand der Anständigen" zugrunde, der im letzten Jahr von einer großen Allianz aus Regierung, linken Eliten und zivilgesellschaftlichen Gruppen veranstaltet wurde und dessen Verständnis von Anständigkeit sich derzeit in der parteiübergreifenden Zustimmung zu einem äußerst restriktiven und repressiven Mix aus sicherheits- und ausländerrechtlichen Novellen zeigt, das unter dem Titel Sicherheitspaket II möglichst Ende Februar durch den Bundesrat gehen soll.

Am Beispiel einer Broschüre der HBV Hamburg mit dem Titel "Zusammen Arbeiten und Leben im Betrieb – gegen Diskriminierung jedweder Art"[1] analysiert Ralf Brodesser den Diskurs zum Thema Ausländerrechte, innere und soziale Sicherheit.

 

Zunächst ein kurzer inhaltlicher Überblick: Der Focus der Materialien liegt auf dem betrieblichen Arbeiten und Leben und hier im Besonderen auf der Positionierung gegen jegliche Form der Diskriminierung. Nach dem Vorwort des HBV-Geschäftsführers Ulrich Meinecke beginnt die Broschüre mit einer "Verabredung", die die Aufforderung beinhaltet, aus der Rolle des "Zuschauers"[2] herauszutreten, selbst die Initiative zu ergreifen und somit aktiv für ein "friedliches und weltoffenes Zusammenleben" sowie "für ein demokratisches Miteinander" einzutreten; an die LeserInnen wird appelliert, diese "Verabredung" zu unterschreiben. Das erste Kapitel gibt einen Überblick über "Aktionsbeispiele" und enthält einen Aufruf verschiedener GewerkschafterInnen aus diversen Einzelgewerkschaften mit dem Titel: "Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen: Wehrt Euch – jetzt!" Es wird aufgefordert, diesen Aufruf zu unterschreiben. Hieran schließen sich zwei Zeitungsartikel an, in denen Aktionen der Wirtschaft "gegen Rechts" hervorgehoben werden. Das zweite Kapitel besteht aus Dokumentationen der Frankfurter Rundschau (FR), die eine "Bilanz rechtsextremistischer Gewalt in Deutschland der vergangenen zehn Jahre" darlegen. Das dritte Kapitel ist unterteilt in "Hintergrundinfos des DGB-Bundesvorstandes aus migrationspolitischen Handreichungen" und "Diskriminierung am Arbeitsplatz – aktiv werden für Gleichbehandlung". Hier geht es zunächst um Begriffsklärungen: Was ist Gleichstellung? Wo liegt der Unterschied zur "Gleichbehandlung"? Was ist Diskriminierung und was Ungleichbehandlung? Es wird nach "Gründen für Diskriminierung am Arbeitsplatz" gefragt, "Motive und Funktionen (subjektiv) diskriminierender Verhaltensweisen" werden thematisiert und anschließend "Handlungsmöglichkeiten für gewerkschaftliche und betriebliche Interessenvertreterinnen und -vertreter" aufgeführt. Im vierten Kapitel werden "Betriebsvereinbarungen/betriebliche Absprachen im Rahmen eines UN-Leitbildes" präsentiert. Die Betriebsvereinbarungen von VW, Thyssen Stahl AG, Ruhrkohle AG, Niederlassung Briefpost Frankfurt sowie TWB Presswerk GmbH werden als positive Beispiele dargestellt, zwei davon (VW und Briefpost Niederlassung) sind im Volltext beigefügt. Das fünfte Kapitel befasst sich mit "Rechtliche(n) Grundlagen", also mit "Instrumente(n) gegen Diskriminierung und Ungleichbehandlung am Arbeitsplatz", mit dem "Schutz vor Diskriminierung im nationalen und internationalen Recht" sowie mit "Stellungnahmen zu einem Antidiskriminierungsgesetz".. Im letzten Kapitel schließlich werden lokale Beispiele aus Hamburg aufgeführt wie die Rede von Martin Dieckmann (damaliger stellv. BR-Vorsitzender bei Gruner & Jahr) für die IG Medien bei einer Kundgebung vor Gruner & Jahr gegen Nazi-Aufmärsche oder Photos einer Kundgebung. Als ‘krönenden’ Abschluss gibt es die "Berliner Rede" von Bundespräsident Rau vom 12. Mai 2000 mit dem Titel "Ohne Angst und ohne Träumereien in Deutschland leben".

Die Gliederung macht deutlich, dass es sich um Materialien[3] – etymologisch: um Rohstoffe, Hilfsmittel und Unterlagen, also um etwas, was weiterbearbeitet werden muss – handelt. So verstehen es auch die HerausgeberInnen. Doch genau hierin liegt ein konzeptionelles Problem, denn die Materialien sind in sich widersprüchlich, ohne dass dies thematisiert wird: Es wird Einigkeit zwischen Gewerkschaften, Wirtschaft und Staat gegen "Faschismus", gegen "Rechts" und gegen "rechtsextreme Gewalt" demonstriert. Ziel ist es, eine breite Hegemonie in der "Gesellschaft" gegen "Rechts" herzustellen. Dieser Diskurs heute ist so stark, dass man sich ihm unschwer entziehen kann. Und auch aus emanzipatorischer Perspektive stößt ein breites Bündnis gegen "Rechts" auf Zustimmung; verstehen sich die Linken doch überwiegend als antifaschistisch. Worin besteht also das Problem?

  1. Die Materialien sollen kohärent erscheinen, doch die unterschiedlichen Intentionen der drei Akteursgruppen werden damit ausgeblendet.
  2. Der Schwerpunkt der Materialien liegt auf der Suche nach dem "persönlichen Rassismus" (Aumann u.a. 2000, S. 173), wobei darunter die Suche nach potentiellen Rassisten verstanden wird.
  3. An vielen Stellen der Broschüre werden zudem Diskriminierung und rechtsextreme Gewalt gleichgesetzt. So setzen die "Aktionsbeispiele" insgesamt auf das Thema rechtsextreme Gewalt, obwohl der Focus der Materialien auf der Diskriminierung liegen soll.
  4. Ein weiterer Punkt schließlich hängt damit unmittelbar zusammen; hier geht es um Sanktionen gegen die Täter. Sanktionen in den unterschiedlichsten Formen werden von allen in der Broschüre vertretenen Akteursgruppen begrüßt. So wird in einem DGB-Papier ein "Verbot von Aufmärschen" gefordert; die Projektleiterin für die Betriebsvereinbarung bei VW, Traudel Klitzke, wird zitiert mit den Worten: "Ausländerfeindlichkeit darf es bei uns nicht geben. Wer sich daneben benimmt, fliegt raus" (als Maßnahmen werden dabei aufgeführt: Belehrung, Verwarnung, Verweis oder Geldbuße, aber auch Versetzung, Abmahnung, Kündigung sowie Beratungs- und Therapieangebote); und auch Rau setzt auf Bestrafung rechtsextremer Gewalt. Die Sicht auf den "persönlichen Rassismus" unterstreicht den ‘Herr-im-Hause-Standpunkt’, ohne dass dies von den HerausgeberInnen problematisiert wird. Gewerkschaften, Wirtschaft und Staat treten in der Broschüre als Troika gegen den Rassismus auf, obwohl sich die Gruppen zum Teil explizit voneinander abgrenzen.

So profilieren sich Vertreter der Wirtschaft gegenüber der Politik mit den Worten: "Während die Politik mehr oder minder hilflos den rechtsextremen Ausschreitungen und der plumpen Ausländerfeindlichkeit gegenüber steht, handelt die schleswig-holsteinische Wirtschaft", und weiter – gegen Politik und Gesellschaft gerichtet: "Alle diskutieren [...] wir machen etwas!" Äußerst problematisch ist auch das Ausländerbild, das in diesem Text transportiert wird. Zitiert wird eine als positiv hervorgehobene Aktion des Moderators Carsten Köthe von Radio Schleswig-Holstein: Köthe hatte in dieser Aktion gesagt: "Mein Name ist Hassan. Ich lebe seit zwölf Jahren in Kiel und komme aus der Türkei und arbeite zurzeit in Laboe. Das ist auch meine Heimat, meine zweite Heimat." Im Vordergrund steht also der nützliche, weil arbeitende Ausländer (ein Merkmal, das in den Materialien durchgängig zu finden ist), der irgendwann in seine erste Heimat zurückkehrt.

Die Gewerkschaften grenzen sich partiell gegen diese utilitaristische Sicht ab: "Immer noch wird der ‘Nutzen’ der Arbeitskraft für die Wirtschaft herausgestellt". An anderen Stellen wird jedoch der wirtschaftliche Erfolg auch von Gewerkschaftsseite betont: "Wir wissen, dass unsere menschlichen Fähigkeiten die entscheidende Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg sind". Dies gilt dann auch als Begründung für Mitmenschlichkeit und Miteinander. Die Gewerkschaftsvertreter grenzen sich aber auch gegen den Staat und dessen ‘Nicht-Handeln’ ab und fordern bspw. von den Landesregierungen, "mit allen rechtsstaatlichen Mitteln gegen die kriminellen Gewalttäter der rechten Szene" vorzugehen.

Hiermit hat wiederum Bundespräsident Rau keine Probleme. Widersprüchlich argumentiert er dagegen in Bezug auf die Dauer des Aufenthaltsrechts; hier redet er einmal von qualifizierten Ausländern auf Zeit (Green-Card), ein anderes Mal kritisiert er den Begriff des "Gastarbeiters", da dieser auf eine begrenzte Zeit ausgerichtet sei. Raus Rede ist durchzogen von dem Versuch der Kohärenzbildung, also dem Versuch, alle ins Boot zu holen, einerseits und dem erhobenen Zeigefinger gegen die Wirtschaft – die erkennen soll, dass sie nur durch Ausländer erfolgreich sein kann –, gegen die Bevölkerung – die soll sich weiterqualifizieren, dann brauchen wir weniger Ausländer – und gegen die Ausländer, an die er einen ganzen Katalog von Forderungen richtet, andererseits.

Deutlich wird, dass das vielzitierte Wir gegen Rechts in sich höchst heterogen ist, doch wozu dient die Produktion dieses Wir?

Die imaginäre Konstruktion des Wir stellt nach Bourdieu eine "invariante Funktion des Rassismus" dar, denn sie ist Teil der notwendigen Legitimation für die Existenz einer Gruppe (vgl. Bourdieu 1993, S. 252). Auf den konkreten Gegenstand bezogen heißt das, dass Wirtschaft, Staat und Gewerkschaften eine je unterschiedliche Konstruktion des Wir haben. Wie präsentiert sich diese nun in den "Materialien", und was bedeutet das für den Kampf gegen Rechts?

In der "Verabredung" besteht das Wir aus den UnterzeichnerInnen, die sich selbst als aktiv und eigeninitiativ darstellen: "Wir treten aus der Rolle des Zuschauers hinaus", und: "Wir grenzen uns deutlich gegen Abwertungen durch verbale Übergriffe ab". Aus der Perspektive der Sozialpsychologie Fromms kann dieser Aktionismus als "Geschäftigkeit", d.h. als Ausdruck einer Überkompensierung eines Ohnmachtgefühls interpretiert werden (vgl. Fromm 1993, S. 143). Kennzeichen der "Geschäftigkeit" ist, dass die Handlungen im Verhältnis "zum zu lösenden Problem nebensächlich und untergeordnet sind, und dass die Geschäftigkeit keine Beziehung zu den fundamentalen Zügen der zu lösenden Aufgabe hat" (ebd.). Durch die Betonung der Aktivität wird die eigene Einbezogenheit in den "institutionellen Rassismus" (Aumann u.a.), verstanden als "Fort-schreiben eines diskriminierenden Zustandes durch konformes Handeln mit den bestehenden Normen, ohne dass subjektiv ein Unrechtsbewusstsein entsteht oder Vorurteile im Spiel sein müssen" (ebd., S. 174), ausgeblendet. Dass dem so ist zeigt auch das technokratische Setzen auf Herrschaftsstrukturen zur Lösung des "Problems".

Trotz aller Widersprüche der drei Akteursgruppen ist hier eine Gemeinsamkeit zu erkennen. Das kollektive, als gut und richtig definierte Wir wertet sich selbst durch die Distanzierung vom "braunen Mob" auf und baut auf ein Arrangement mit den herrschenden Strukturen. Es wird an die Landesregierungen appelliert, mit "allen rechtsstaatlichen Mitteln" zu handeln; dem Arbeitgeber wird "die Pflicht zur Überwachung der Einhaltung des Gleichheitsgrundsatzes übertragen" und somit das Direktionsrecht reproduziert; in der BV bei VW fällt dem Betriebsrat u.a. die Aufgabe zu, "den zuständigen Gremien Gegenmaßnahmen und ggf. arbeitsrechtliche Konsequenzen im Rahmen der bestehenden Verfahren vorzuschlagen".. Der Rassismusdiskurs zeigt eine integrationsfördernde Wirkung und scheint den Gegensatz von Kapital und Arbeit zu verdrängen.

Doch warum engagiert sich das Kapital gegen Rechts und konstruiert sich als Verfechter der Demokratie? In den Materialien heißt es von Seiten der Wirtschaft: "Alle Menschen [...] sind in unserer Demokratie herzlich willkommen!" Dieses "uns" trennt zwischen In- und Ausländern, denn diese kommen in unsere inländische Demokratie – ein Faktor, der auch bei Rau eine erhebliche Rolle spielt. Und warum sind ‘die Ausländer’ in "unserer" Demokratie willkommen? In der VW-Betriebsvereinbarung wird im ersten Absatz der Präambel der "wirtschaftliche Erfolg eines Unternehmens" hervorgehoben, der in den Kontext des partnerschaftlichen Verhaltens am Arbeitsplatz gestellt wird. Diskriminierungen werden abgelehnt, weil sie die Basis eines "positiven innerbetrieblichen Arbeitsklimas" zerstören, im "Unternehmen ein eingeengtes, stressbelastendes und entwürdigendes Arbeits- und Lernumfeld" schaffen und "nicht zu letzt zu gesundheitlichen Störungen" führen. Dem stehen Erfahrungen der Beschäftigten in den Betrieben gegenüber, die (unabhängig von der ‘Herkunft’ der Beschäftigten) vor allem gekennzeichnet sind von Ellbogenmentalität statt partnerschaftlichem Verhalten und Intensivierung der Arbeit statt stressfreiem Arbeiten. Einer der Grundsätze in der Betriebsvereinbarung von VW ist der Respekt der Persönlichkeit eines jeden Werksangehörigen. Doch die Erfahrung der Beschäftigten ist i.d.R. geprägt durch Unterordnung – selbst in Arbeitsverhältnissen, in denen Vertrauensarbeitszeit und/oder teilautonome Arbeits- oder Projektgruppen die Regel sind. An solchen Respektsverletzungen wird jedoch kein Anstoß genommen: "Menschliche Verzierungen, Höflichkeit, das ‘gute Klima’, die ‘Nettigkeit’ des Chefs machen es vielen Menschen vollends unmöglich, in dem Herrschaftsverhältnis irgendetwas Anstößiges zu sehen. Der wahre Charakter dieses Rollenspiels zeigt sich erst, wenn der Untergeordnete seine Rolle durchbricht, indem er den Befehlssendern den Gehorsam verweigert. Gewöhnlich folgt auf eine solche Regelverletzung irgendeine Art von Strafe" (Duhm 1973, S. 33).

Doch kommen wir zurück zum "wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens". MigrantInnen erscheinen im gegenwärtigen Diskurs zwar einerseits als Asylanten, Wirtschaftsflüchtlinge, Fundamentalisten und Terroristen (vgl. Hirsch 1996, S. 157), andererseits wird jedoch ihre Bedeutung als notwendige Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft hervorgehoben – ein Punkt, der in den Materialien immer wieder betont wird. Zu differenzieren ist dabei zum einen nach ihrem Arbeitsmarkt-Status und den gesellschaftlichen Positionen, die ihnen durch rassistische Praktiken zugewiesen werden: 1) illegale LohnarbeiterInnen; 2) LohnarbeiterInnen, deren Aufenthaltsgenehmigung an ein Arbeitsverhältnis mehr oder weniger gebunden ist; 3) MigrantInnen mit einem unbegrenzten Aufenthaltsrecht und 4) eingebürgerte MigrantInnen (vgl. Diettrich 1999, S. 167)[4]. Ausdruck der rassistischen Diskriminierung sind zum anderen aber auch Merkmale, die in der Regel in all diesen Statusgruppen anzutreffen sind: niedrigere Löhne (im Verhältnis zur Mehrheitsbevölkerung), Tätigkeiten in peripheren Segmenten des Arbeitsmarktes, hohe körperliche Belastungen, stupide Tätigkeiten und schlechtere Aufstiegschancen (vgl. ebd.). Die Profite beinhalten also eine spezifisch rassistische Form der Überausbeutung, der insbesondere MigrantInnen unterliegen. Die andere Seite rassistischer Diskriminierung zeigt sich in der Hervorhebung besonderer Eigenschaften – wie z.B. Computer-Kenntnisse – in Verbindung mit der Nationalität, wie dies den Green-Card-Programmen zu Grunde liegt.

Deutlich wird hieran, dass die rassistischen Diskurse in sich widersprüchlich bestimmt sind und ‘das Kapital’ durchaus verschiedene Interessen verfolgt. Aus Gründen einer fragilen und fragwürdigen Hegemoniebildung "gegen Rechts" werden diese jedoch in der Broschüre nicht thematisiert.

Kommen wir nun zu den Gründen des Staates, sich gegen Rechts zu positionieren. Der erste Teil von Raus Rede stellt anhand von statistischem Material einen positiven Zusammenhang von Zuwanderung und wirtschaftlichem Erfolg her. Gehen die Gewerkschaften eher vom unqualifizierten ausländischen Beschäftigten als Normalfall aus, setzt Rau auf qualifizierte ArbeitsmigrantInnen. Hinsichtlich der bereits hier lebenden MigrantInnen meint Rau: "Sie sind geblieben – und die meisten auch zu unser aller Vorteil", und weiter konkretisierend: "Ohne Arbeiter und Angestellte aus anderen Ländern kämen viele Wirtschaftszweige in große Schwierigkeiten". "Unser aller Vorteil" wird hier also auf den wirtschaftlichen reduziert und das Wir unter die Interessen des Kapitals subsumiert. Zudem deutet sich hier eine Spaltung in gute und schlechte "Zuwanderer" ab, die sich durch die ganze Rede zieht. Ein weiteres Beispiel: "Die ganz überwiegende Mehrheit der ausländischen Bevölkerung kommt ihren Pflichten nach und trägt dazu bei, dass wir Wohlstand erwirtschaften und soziale Sicherheit finanzieren können". Interessant ist, dass nicht die "ausländische Bevölkerung" den Wohlstand erwirtschaftet, sondern wiederum das imaginäre Wir. Ein weiterer wichtiger Punkt, der sich durch die Rede zieht, sind die "Pflichten": "Was dürfen und müssen wir von denen verlangen, die auf Dauer in Deutschland leben und arbeiten wollen?". Für Rau ist es selbstverständlich, dass wir etwas verlangen können, nämlich dass sich "Zuwanderer" an "demokratisch festgelegte Regeln" halten. Es drängt sich die Frage auf, wer das Wir ist, das die Regeln festgelegt hat. Rau setzt auf einen imaginären "gesellschaftlichen Grundkonsens", auf gemeinsame Werte (nicht Regeln!), die von den "Zuwanderern" akzeptiert und geteilt werden sollen. Das Aufenthaltsrecht wird geknüpft an die Pflicht, sich mit diesen Werten, mit unserer Tradition sowie unserer Sprache vertraut zu machen. Dahinter steht das neue Credo der Neuen Mitte: ‘Keine Rechte ohne Pflichten’.. Andererseits deutet Rau auch Pflichten der Deutschen an: "Wir werden auf auswärtige Spitzenkräfte nicht verzichten können. Aber wir müssen dringend unsere (Hervorhebung R.B.) eigenen Qualifizierungsanstrengungen verstärken". Lernen wird hier reduziert auf nützliche Verwertbarkeit. Indirekt sagt Rau hiermit auch, dass wir weniger "Zuwanderer" brauchen, wenn wir nur richtig viel lernen. Ganz auf der Linie des neoliberalen Main- und Malestreams, wie er auch im Konzept des "aktivierenden Staates" zum Ausdruck kommt, wird die individuelle Eigenverantwortung der ‘BürgerInnen’ bemüht in Form des "lebenslangen Lernens" etwas gegen Einwanderung zu tun. Die bis Mitte der 70er Jahre übernommene staatliche ‘Verantwortung’ wird in den Konzepten der Neuen Mitte privatisiert und als individuelle Leistung abgefordert. Die Zuwanderungspolitik à la Rau reduziert sich auf die Funktion, den deutschen Standort angesichts globalisierter Kapitalbewegungen wettbewerbsfähig zu machen – an Verweisen auf die Notwendigkeit "wirtschaftlichen Erfolgs" mangelt es bei Rau nicht.

Die "Normalisierung von Ausgrenzung" tritt so als "diskursive Selbstverständlichkeit" auf, mit der "die Existenzberechtigung der ‘Fremden’, der eigentlich ‘Nicht-Dazugehörigen’" davon abhängig gemacht wird, "inwieweit sie für die ‘eigenen Belange von Nachteil oder von Nutzen sind’" (Osterkamp 2000, S. 175). Neben dieser Diskriminierung zum Wohle der Wirtschaft und der "sozialen Sicherheit" spielt die staatliche Diskriminierung ‘Inländer’ gegen ‘Ausländer’ aus. Welche Menschen oder Menschengruppen durch "herrschende Ausgrenzungsdiskurse" konstruiert werden, "ist je nach konkret-historischen Bedingungen unterschiedlich und sehr vielfältig: Letztlich ist jede(r) als Frau, Ostdeutsche(r), Arbeitslose(r); Alter(r) .... nicht nur potentielles Subjekt, sondern auch potentielles Objekt eines Netzes von Wechselausgrenzungen und Zuschreibungen" (Aumann u.a., ebd.). Die Materialien negieren bzw. verdrängen diesen Aspekt der "vielen Rassismen" (Bourdieu), statt ihn zu durchdringen.

 

Fazit

Ideologie, so Gramsci, muss, um wirksam zu werden, "den Erfordernissen einer komplexen und organischen Geschichtsperiode entsprechen" (GH 11, §12, 1391). Das heißt, die Ideologie muss nützliche Erklärungen im Alltag der Menschen liefern können; sie lässt die Welt kohärent erscheinen und verdeckt Widersprüche. Vor dem Hintergrund der Krise der Gewerkschaften können die Materialien als ideologischer Versuch analysiert werden – wie in der Phase bis Mitte der 70er Jahre –, wieder Bestandteil des hegemonialen Blocks zu werden. Aus emanzipatorischer Perspektive jedoch kann Antidiskriminierung so nicht funktionieren. Die hier aufgedeckten Widersprüche und Herrschaftsinteressen müssen von den kollektiven Akteuren und Subjekten analysiert und bearbeitet werden, denn nur so wird deutlich, dass befreiende Politikpraxen in einer Kooperation mit Kapital und Staat nicht zu leben sind. Eine antidiskriminierende Politik muss auf "wirkliche Durchdringung" (Willis) gerichtet sein und nicht auf ideologische Verschleierung. Die Zielsetzung meiner Kritik ist eben nicht das "Aufspüren und Ändern von Ausgrenzern und damit ein Vollzug einer Ausgrenzungsbewegung im Namen der Überwindung der Ausgrenzung, sondern die gemeinsame Dekonstruktion der herrschenden Diskurse und die Überwindung selbstschädigender Verhaftetheiten des eigenen Denkens und Handelns in diesen Diskursen" (ebd., S. 180; Hervorhebung R.B.). Es kann also nicht darum gehen, in einer Krise Handlungsfähigkeit auf Kosten anderer zu erlangen, sondern eine Handlungsfähigkeit zu entwickeln, die das Arrangement mit den bestehenden Strukturen überwindet und sich kollektiv gegen die alltägliche Reproduktion aller rassistischen Strukturen wendet. Wenn die Gewerkschaften wirklich "gegen Diskriminierung jedweder Art" eintreten wollen, ist es notwendig, Antirassismus als verallgemeinerbare, kapitalismusüberwindende Praxis hegemoniefähig zu machen.

 

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 11-12/01

Literatur

Aumann, G./Wagner, P./Wiesner, C.: "Rassismus als Selbstentmächtigung", in: Fried, B./Kaindl, Ch./Markard, M./Wolf, G. (Hg.): "Erkenntnis und Parteilichkeit – Kritische Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft, 4. Kongress Kritische Psychologie, 2. Auflage, Berlin/Hamburg 2000, S. 173-181

Bourdieu, P.: "Soziologische Fragen", 1. Aufl., Frankfurt/Main 1993

Diettrich, B.: "Klassenfragmentierung im Postfordismus – Geschlecht, Arbeit, Rassismus, Marginalisierung", Münster/Hamburg 1999

Duhm, D.: "Angst im Kapitalismus – Zweiter Versuch der gesellschaftlichen Begründung zwischenmenschlicher Angst in der kapitalistischen Warengesellschaft", 4. Aufl., Lampertheim 1973

Fried, B./Kaindl, Ch./Markard, M./Wolf, G. (Hg.): "Erkenntnis und Parteilichkeit – Kritische Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft", 4. Kongress Kritische Psychologie, 2. Aufl., Berlin/Hamburg 2000

Fromm, E.: "Die Gesellschaft als Gegenstand der Psychoanalyse – Frühe Schriften zur Sozialpsychologie", Frankfurt/Main 1993

Gramsci, A.: Gefängnishefte Heft 1-29, Bd. 1-9, Hamburg/Berlin 1991

Hirsch, J.: "Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus", 2. Aufl., Berlin 1996

Willis, P.: "Spaß am Widerstand – Gegenkultur in einer Arbeiterschule", Frankfurt/Main 1979

 

Anmerkungen:

1) Im folgenden immer als ‘Materialien’ bezeichnet.

2) Zitate ohne spezielle Quellenangabe beziehen sich alle auf die hier diskutierten Materialien der HBV.

3) Als solche werden sie ja auch von den Herausgebern verstanden.

4) Nicht berücksichtigt wird bei einer solchen Unterteilung die besondere Position von Migrantinnen, die zusätzlich zur rassistischen Diskriminierung durch die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung (trotz formeller Gleichstellung) benachteiligt werden.


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