letzte Änderung am 23. Juli 2003 | |
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Der Zug der Gewerkschaftslemminge ist lang und zieht sich schon eine Weile. Bekannt sind diese netten Nager (Lemmus spp., Dicostronyx spp.) für ihre Dickfelligkeit und hervorragende Anpassungsfähigkeit an karge Tundra- und Polarlandschaften, die sie selbst unter Bedingungen eisiger Kälte überleben lässt. Geschätzt werden sie aufgrund ihrer Bedeutung fürs ökologische Ganze: Unterirdisches Leben und permanentes Buddeln von Gängen lockert den Boden und lässt neue Pflänzchen sprießen Wachstum als nützliches Nebenprodukt steter Wühlarbeit. Doch nicht zuletzt kennt man sie eben auch als scheinbar kopflose Menge, die in großer Zahl zunächst spontan, aber dann umso entschiedener ihrem eigenen Untergang entgegenstrebt. Die Wissenschaft der Ökologie, die ihre Ursprünge in Malthus und Darwin bekanntlich nie aufkündigen konnte, hat für dieses Phänomen eine freundliche Erklärung parat: »notwendige Selbstregulation der Population aufgrund von Nahrungsverknappung«.
Nun weiß man, dass die harten »Gesetze« der Natur nur bedingt auf die Menschengattung und ihr diverses Sozialleben zu übertragen sind, zumal sie ohnehin meist nur der ebenso vereinfachende wie angestrengte Anwendungsversuch dem Gesellschaftsleben abgeschauter Soziallehren sind meist der gerade herrschenden , um über den Umweg des Tier- und Pflanzenreichs dann mit den Weihen echter Wissenschaft ausgestattet als Zeigefinger und Maßstab für die Einrichtung des Sozialen zu dienen. Und solange noch nicht ausgemacht ist, wie weit die Naturalisierung des Menschenreiches noch voran schreitet, so dass von »Gesetzen« der Reproduktion, des Untergangs und des notwendigen Einfügens ins scheinbar interesselos funktionierende Ganze des Systems die Rede sein könnte, so lange kann auch der Grund solcher Analogiebildungen angezweifelt werden.
Staunen aber sei dem Zeitgenossen erlaubt angesichts eines Phänomens, für das die IG Metall nur den jüngsten Beleg in einer langen Reihe von Indizien geliefert hat: der kollektiven Selbstabschaffung als Gewerkschaft. Mit dem Verzicht auf die Fortsetzung des Streiks und einen Abschluss im Osten hat die IGM zum Ausdruck gebracht, was ver.di in Berlin fast unbemerkt neben dem Spektakel, das um die IGM tobt mit einem Abschluss vollbracht hat, der nicht minder selbstmörderischen Charakter hat: Wowereit und Bsirske unterzeichneten dort, nachdem Berlin als Arbeitgeber aus dem Arbeitgeberverband und den Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst ausgestiegen war, einen Vertrag, der zwar die bundesweiten Tarifsteigerungen von 2,4 und zwei Mal 1 Prozent bis 2005 übernimmt, dafür aber die Arbeitszeit für die rund 100000 ArbeiterInnen und Angestellten um 812 Prozent kürzt ohne Lohnausgleich.
»Sonnenklar« ist nun leider nicht, wie es im Osten mit der 35-Stundenwoche, d.h. mit der Angleichung von Arbeitszeiten und Löhnen an den Westen, weiter geht und wann hier jemals der Status einer inner-bundesrepublikanischen Sonderwirtschaftszone aufgehoben werden soll, aber zumindest eins: solche Ergebnisse wären auch ohne Gewerkschaften zu haben (gewesen). Die Gewerkschaften haben sich damit, in einer Öffentlichkeit, die dies lange in Erinnerung behalten wird, als absolut überflüssig erwiesen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Kein Mensch braucht Gewerkschaften, die volles Verständnis für und Einsehen in die Notwendigkeiten kapitalistischer Verwertung zu ihrem Programm und zur Richtschnur ihrer Praxis machen. Für ein solches Praxisverständnis gibt es bereits ein gerüttelt Maß gut gerüsteter und publizistisch gestärkter Interessenvertretung, die sich, unterstützt durch eine entsprechende Regierungspolitik, dieser ihrer Anliegen auch und sogar besser ohne Gewerkschaften annimmt: die sich die Senkung von individuellen und gesellschaftlichen Reproduktionskosten der Arbeitskraft auf die Fahnen geschrieben hat, die »Befreiung« des Lohnarbeitsverhältnisses von allen historisch erworbenen Rechten bis auf dessen nackte, individuelle Form der ebenso einfachen wie doppelten Freiheit der Arbeitskraft hinunter, die Diffamierung aller Formen sozialer Sicherheit und die entsprechende Abschaffung bzw. Senkung aller bisherigen Formen staatlicher Gewährleistung und gesellschaftlicher Finanzierung von Aufgaben. Die aber sind auch wenn kein Kapitalvertreter, zumindest kraft seines Amtes, dies begreifen kann nur gesellschaftlich zu erbringen: Gesundheit, Altersvorsorge, Absicherung gegen Armut und Arbeitslosigkeit, Bildung usw., das alles geht nicht auf in privater Kalkulation.
Weil dies so ist, wird vielleicht, aber auch das scheint derzeit verzichtbar, die soziale Integrationsfunktion noch einmal gebraucht. Doch damit ist der Weg und das Schicksal gelber Gewerkschaften vorgezeichnet. Die Frage stellt sich, ob es das ist, was die Gewerkschaften wollen können, oder anders: ob und warum Opposition gegen diese Entwicklung noch nicht einmal mehr denkbar scheint.
Dass dies so scheint, lässt sich an dem Votum weiter Teile einer IGM-Betriebsrätekonferenz in Frankfurt/ Main während der heißen Phase des Streiks um die 35-Stundenwoche festmachen. Vor dem Hintergrund einer seit Monaten hysterisch betriebenen bundesweiten Sündenbockpropaganda, die unangenehme historische Vergleiche nahe legt, kündigten Spitzenvertreter von DaimlerChrysler, VW, Ford etc. ihre Solidarität mit den Streikenden auf. Allen voran der Rüsselsheimer Klaus Franz, Mitglied im GBR und Euro-Betriebsrat, dessen Position in der Presse als repräsentativ für die der Mitglieder vorgestellt (und verdreht) wurde. Franz, der seinen Karriereinstinkt hinreichend (z.B. bei der Unterzeichnung von Krankenrückkehrgesprächen, durch seine mangelnde Unterstützung während des Bochumer Streiks gegen das Outsourcing einer kompletten Belegschaft im Zuge der GM/Fiat-Kooperation) unter Beweis gestellt hat und sich selbst als überzeugter Co-Manager versteht (»Geteiltes Leid ist halbes Leid«, so sein Motto zum letzten GM-Kostensparprogramm), spannte sich vor den Karren des »Richtungsstreits« um Peters/Huber. Das eigenartige Phänomen, dass sich ehemalige KBWler die Unterstützung ehemaliger MLPDler gegen vermeintliche »Blockierer« wie Peters zum Anliegen machen, und zwar aus Gründen der »Modernisierung« der Gewerkschaft, wäre eine eigene zeithistorische Untersuchung wert. Doch das würde eine genauere Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Ökonomieverständnis und politischem Populismus in beiden Organisationen voraussetzen. Zurück zum Kern der Begründung von Franz Auslassungen in der für ihre Gewerkschaftsfreundlichkeit bekannten Welt: »mangelnder Realitätssinn« der Streikenden und ihrer Stellvertreter in den eigenen Reihen. Nie sei der Streik von einer breiten Bewegung getragen worden, sofortiger Abbruch des Streiks im Interesse einer »vernünftigen Verhandlungslösung« laute das Gebot der Stunde. Dem schloss sich auch Klaus Zwickel und offensichtlich die Mehrheit der Verhandlungskommission und ihrer BeraterInnen im Tarifstreik um die 35-Stundenwoche an. Es ist dieser Realitätssinn, der die Geister scheidet und nicht erst mit dem Union-Bashing von oben eingetrichtert werden musste.
Doch was ist die Realität für die Gewerkschaften und ihre Mitglieder? Dass man mit wenigen gar nicht erst anfangen braucht, Forderungen zu entwickeln? Dass im Osten »real« nichts zu holen war? Dass Lohnverzicht Standortvorteile schafft, oder auch nur sichert? Dass das Kapital niedrige und am besten noch niedrigere Löhne sucht, um sich nicht nur erhalten, sondern auch vermehren zu können? Dass es zugleich mehr Aufträge braucht, aber für den Absatz nicht unbedingt aufs Inland angewiesen ist? Dass es die Bevölkerung, sei es die eigene oder eine andere, überhaupt immer nur als Mittel zum Zweck braucht?
Was unterscheidet die gewerkschaftliche Realität dann von diesen Auffassungen? Moral? Voluntarismus? Die besseren ökonomischen Rezepte? Auf was stützt sich die Vorstellung, dass es bei dem Arbeitskampf im Osten um mehr ging, wie sie offenbar von einigen KollegInnen während des Streiks doch vertreten wurde? Von Interesse wäre hier dementsprechend auch weniger, warum Menschen im Osten, aber zunehmend auch im Westen nicht (mehr) in der Gewerkschaft sind, sondern warum sie trotzdem an ihr festhalten bzw. sich neu organisieren. Da uns das Streik-Ende kurz vor Redaktionsschluss erwischt hat, wollen wir in den nächsten Ausgaben versuchen, diesen Fragen näher auf den Grund zu gehen. Dabei soll vor allem der Zusammenhang von Organisationsgrad, Tariffähigkeit, Streikbereitschaft und Mitgliederbewusstsein untersucht werden: Welche Konsequenzen haben Öffnungsklauseln und die Verbetrieblichung von gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen für die Entwicklung der Mitgliederzahlen einerseits und für das Bewusstsein und den Umgang mit ökonomischen Notwendigkeiten andererseits? Stimmt die These von der Neutralisierung der Auseinandersetzungen durch zunehmende Verbetrieblichung? Wie nehmen Belegschaften die Differenz zwischen sich, der Situation ihres Betriebs und der Politik ihrer Gewerkschaft wahr?
Dass es nicht nur den »Realismus« des IGM-Vorstands gibt, sondern durchaus andere Einschätzungen zur Situation im Osten, zeigt der dokumentierte Protestbrief und ein Protestschreiben Bochumer Vertrauensleute an Franz. (Red. LabourNet: siehe dazu "Klaus Franz ist nicht die Opel-Belegschaft")
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