letzte Änderung am 18. Dez. 2002

LabourNet Germany ARCHIV! Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Home -> Diskussion -> Gewerkschaftsstrategien -> intern. Erfahrungen -> Ancel Suchen

Alten Ballast abwerfen

Wirtschaftsnationalismus als Reformhindernis No.1 – meint Judy Ancel*

»Changing to Organize« – über die Bilanz der Organisierungskampagnen des AFL-CIO in den USA lässt sich ebenso streiten wie über den Ansatz, mit dem dort unter massivem Einsatz von finanziellen und personellen Ressourcen seit 1995 versucht wurde, der Gewerkschaftsbewegung neues Leben einzuhauchen. Immerhin findet diese Debatte in den USA statt, im Unterschied zur Situation hier, wo eine systematische Auswertung der zahlreichen Mitgliedergewinnungsprogramme der letzten Jahre fehlt. Nach den Beiträgen von Kate Bronfenbrenner und Kim Moody in express 8 und 9/2002 setzen wir nun die der Zeitschrift »The Nation« entnommene Serie eher grundsätzlicher theoretisch-politischer Beiträge mit der Kritik von Judy Ancel fort, bevor wir in den nächsten Ausgaben die betrieblich und gewerkschaftlich Aktiven, die sich derzeit in der Zeitschrift Labor Notes mit diesem Thema befassen, zu Wort kommen lassen.

 

Viele GewerkschaftsaktivistInnen aus den USA und Mexiko überdenken momentan ihre Einstellung zueinander. Die Haltung der US-Gewerkschaften[1] war in vielen Aspekten Produkt des Kalten Krieges und des unsere Geschichte kennzeichnenden Wirtschaftsnationalismus –, und Mexikaner haben uns oft daran erinnert, welches Misstrauen sie den US-Amerikanern und ihren Gewerkschaften entgegenbringen.

John Sweeneys Neuerungen in der Außenpolitik der AFL-CIO stellen einen großen Fortschritt dar. Aber damit ist lediglich ein erster Schritt zum Aufbau internationaler Solidarität gemacht.

Ein wenig Geschichte: Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Außenpolitik der ArbeiterInnenbewegung eng an die dominante, am Modell der ›Sozialpartnerschaft‹ orientierte Auffassung von Gewerkschaftsarbeit geknüpft, welche auch dafür verantwortlich war, dass die US-amerikanischen ArbeiterInnen im Betrieb wehrlos da standen, als in der Reagan-Ära zum Angriff auf sie geblasen wurde. Der Konnex zwischen Paktiererei mit den Unternehmen und gewerkschaftlicher Außenpolitik ist die Leiche, die die AFL-CIO aus dem Keller holen muss, wenn sie sichergehen will, dass die alte Politik nicht wieder aufersteht.

Die internationale Politik der AFL-CIO unter George Meany und Lane Kirkland diente weitgehend den Zielen der US-Regierung – und damit den Zielen des Unternehmertums. Das American Institute for Free Labor Development (AIFLD) zum Beispiel, der Arm der AFL-CIO in Lateinamerika, war von der Kennedy-Regierung initiiert worden. Es wurde von der Regierung finanziert und diente als CIA-Posten.

Meany schloss einen Pakt mit dem Teufel, weil er glaubte, je reicher die US-Firmen mit der Beherrschung der Weltwirtschaft würden, desto mehr würden seine Mitglieder profitieren. Die AFL-CIO und ihre so genannten free labor institutes trafen Unterscheidungen zwischen ›gute‹ und ›schlechte‹ Gewerkschaften anhand des Kriteriums, wie freundlich diese den USA und ihren Unternehmen gesonnen waren. Die AFL-CIO kollaborierte mit der CIA, um sicherzustellen, dass ArbeiterInnen in armen Ländern nur pro-US-amerikanische Gewerkschaften bekommen konnten. Sie bezeichnete Gewerkschaften, die sich dagegen wehrten, ihre Länder für US-Investitionen sicher zu machen, als ›kommunistisch‹ oder ›unfrei‹.

Besonders das AIFLD spielte eine zentrale Rolle bei der Informationsbeschaffung über Mitglieder, Strukturen, Politik und Ideologie von Gewerkschaften in ganz Lateinamerika. Mit einer Finanzierung, die in den Jahren 1963 bis 1974 zu 84 Prozent aus Regierungsquellen stammte, war das AIFLD am Sturz demokratisch gewählter Regierungen in Guyana, Brasilien, der Dominikanischen Republik und Chile beteiligt.

Eine folgenschwere Fehlkalkulation

In den achtziger Jahren konnten Unternehmen damit beginnen, Arbeit in ärmere Länder zu exportieren. So wurde offensichtlich, dass der Glaube von Meany und Kirkland, man könne in den USA einen hohen Lebensstandard halten, während man die Arbeitsbedingungen in den armen Ländern ignorierte, eine folgenschwere Fehlkalkulation gewesen war.

Sweeney hat mit dieser Politik nicht nur deshalb gebrochen, weil er mit seiner Außenpolitik den Bedürfnissen der US-amerikanischen ArbeiterInnen besser gerecht werden wollte, sondern auch, weil sich die unternehmerische USA und die US-Regierung aus dem Meany-Pakt zurückgezogen hatten. Die US-amerikanische ArbeiterInnenbewegung ist nun auf die Solidarität der ArbeiterInnen in der transnationalen Ökonomie angewiesen, wenn sie die Abwärtsspirale stoppen will.

Der Versuch, uns von der Vergangenheit zu befreien, wird durch den Ballast erschwert, den wir immer noch mit uns herumschleppen. Das Erbe, welches das AIFLD und andere internationale Institute uns hinterlassen haben, beinhaltet 1. die Gewohnheit, den ArbeiterInnen und GewerkschafterInnen in anderen Ländern zu sagen, was am besten für sie ist; 2. die Tatsache, dass wir unsere eigenen Interessen durch die Brille des Wirtschaftsnationalismus sehen; 3. die andauernde Finanzierung aus Regierungsquellen, sowie 4. ein Defizit an offener Diskussion über die Gestaltung der internationalen ArbeiterInnenbewegung.

Um diesen Ballast loszuwerden, sollte die Sweeney-Führung einen von oben nach unten wirkenden Bildungs- und Mobilisierungsplan einsetzen. Dieser muss alle vier genannten Bornierungen ansprechen:

1. »Wir wissen, was am besten für Euch ist«

Die Geschichte ist voll von US-amerikanischen Arbeitervertretern, die in andere Länder gehen und dort lokale Gruppierungen der ArbeiterInnenbewegung selektieren, unterminieren, kooptieren und manipulieren. Indem man einfach die Politik ändert, wird man nicht unbedingt automatisch die Gewohnheit los, den Anderen zu sagen, was gut für sie ist – ebenso wenig wie die Vorliebe dafür, die Gruppen, mit denen man zusammenarbeitet, zu dominieren oder zu kontrollieren.

Entsprechende Praktiken haben sich bis auf die lokale Ebene niedergeschlagen, wo sie sogar dem Gestus von manchen Gewerkschaftsmitgliedern anhaften, die sich für die internationale Solidarität engagieren. Wie viele von uns haben schon US-amerikanische Gewerkschafter über ein armes Land sagen hören: »Wir sollten einfach hingehen und denen beibringen, wie man sich organisiert«, oder: »Ich verstehe nicht, warum diese Leute sich das bieten lassen. Das könnte uns nicht passieren.« Es wurde sogar schon vorgeschlagen, »Buy America«-T-Shirts als Solidaritätsgeschenke nach Mexiko mitzunehmen. Das einzige Mittel gegen eine solche Haltung sind Kontakte von Mensch zu Mensch, damit die US-amerikanischen GewerkschafterInnen zuhören und etwas erfahren können über die Schwierigkeiten, mit denen ArbeiterInnen in anderen Ländern zu kämpfen haben.

Solch ein Austausch ist nicht einseitig. So habe ich bei mexikanischen Gruppen bspw. neue Techniken zur ArbeiterInnenbildung kennen gelernt, Taktiken für direkte Aktionen sowie ihre beeindruckende Balance zwischen Geduld, Optimismus und dem Gefühl für den richtigen Zeitpunkt zum Handeln. Sie sagen ihrerseits, sie haben bei uns gesehen, welche Macht eine unabhängige lokale ArbeiterInnenbewegung entfalten kann, haben etwas über strategische Planung, das globale System, unternehmensweite Kampagnen erfahren und nicht zuletzt auch gesehen, dass nicht alle Gringos überbezahlte Rassisten sind. Die Bedeutung der Etablierung von gleichberechtigten Beziehungen kann also gar nicht zu hoch eingeschätzt werden. Wenn das nicht gelingt, werden sich diejenigen, die Kontakte mit der US-ArbeiterInnenbewegung aufbauen, stets dem Vorwurf ausgesetzt sehen, bloße Marionetten der Gringos zu sein.

2. »America first«

Das Erbe von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit vor allem gegenüber AsiatInnen und MexikanerInnen; die Einstellung, dass der Rest der Welt ruhig arm bleiben kann, so lange nur wir unser Stück vom Kuchen bekommen; »Buy America«-Kampagnen: All das ist in den USA tief verwurzelt. Die Gewerkschaftsbewegung muss ihre Mitglieder dazu anleiten, den Wirtschaftsnationalismus abzulehnen, und klarstellen, wie sehr dieser den Abwärtstrend anheizt.

Auf diesem Feld sind Fortschritte erzielt worden, vor allem mit der kürzlich vorgenommenen Überarbeitung der Position der Gewerkschaften zur Einwanderung. Aber wenn man am dünnen Lack des Internationalismus kratzt, kommt darunter oft schon wieder der Wirtschaftsnationalismus zum Vorschein. Zwei Beispiele dafür sind die noch nicht lang zurückliegenden Gewerkschaftskampagnen gegen dauerhafte normale Handelsbeziehungen mit China sowie die Deregulierung des LKW-Transports im Bereich des North American Free Trade Agreement (NAFTA). In beiden Fällen hätte eine klare Linie gezogen werden können, welche US- und chinesische ArbeiterInnen – oder im anderen Fall: US- und mexikanische LKW-FahrerInnen – gemeinsam gegen die Regierungen und Unternehmen beider Länder positioniert hätte. Stattdessen lautete die Parole: Wir (Regierung, Unternehmen und Gewerkschaftsmitglieder der USA) gegen das korrupte und/oder undemokratische China bzw. Mexiko. Im Angesicht des wirtschaftlichen Abschwungs wird die Verteufelung von Ausländern und Einwanderern wahrscheinlich wieder einsetzen, und nicht zu knapp.

3. »Folge dem Geld«

Die Auslandsaktivitäten der AFL-CIO, inzwischen in der Regie ihres American Center for International Labor Solidarity (ACILS), werden noch immer von der Regierung finanziert. Das gleiche gilt für die neuen Büros der Föderation in Mexico City und Honduras. Eine kurze Nachforschung ergibt, dass die ACILS-Programme in über dreißig Ländern – von Russland über Südafrika bis nach Indonesien – von der zum Außenministerium gehörenden US Agency for International Development (USAID) finanziert werden.

Das USAID angegliederte Global Center for Democracy and Governance erklärt, es messe »der Rolle der freien und unabhängigen Gewerkschaften als einem wichtigen Bestandteil der Zivilgesellschaft besondere Bedeutung bei. In vielen Entwicklungsländern wird die Fähigkeit des Labor-Sektors, sich frei zu organisieren und seine Unterstützung für politische und ökonomische Liberalisierung zum Ausdruck zu bringen, durch eine restriktive Gesetzgebung und regulatorische Praktiken eingeschränkt.«

Man liegt wohl kaum falsch mit der Annahme, dass mit »politischer und ökonomischer Liberalisierung« die Lieblingsthemen der Unternehmen – Privatisierung und ›Freier Hande‹ – gemeint sind. Die AFL-CIO hat gegen beide deutlich Stellung bezogen, und dennoch wird ACILS mit 45 Mio. US-Dollar (Laufzeit: fünf Jahre) durch das Democracy and Governance-Projekt gefördert. Außerdem bekommt das ACILS weitere vier Mio. USD pro Jahr vom National Endowment for Democracy, womit in den achtziger Jahren AIFLD-Projekte in El Salvador und Nicaragua finanziert wurden. Zwar tragen einige der regierungsfinanzierten Programme durchaus zur Solidarität unter ArbeiterInnen bei, aber angesichts der Geschichte und der Geldquellen kann das ACILS nicht leugnen, dass es sich in einem kompromittierenden Einklang mit Zielen der US-Außenpolitik wiederfindet, die nicht eben als ArbeiterInnen-freundlich interpretiert werden können.

4. »Gewerkschaftspolitik ist Sache der Führung«

Die AFL-CIO hält ihre Außenpolitik vor ihren Mitgliedern geheim. Wie viele haben bspw. das Dokument zu Gesicht bekommen, das die AFL-CIO gemeinsam mit der Confederación de Trabajadores de México (CTM) unterzeichnet hat und in dem beide bekräftigen, dass sie sich wechselseitig als die »repräsentative ArbeiterInnenorganisation« des jeweils anderen Landes anerkennen? Die von der früheren Regierungspartei dominierte CTM ist ein durch und durch korrupter Dachverband, der routinemäßig die Rechte der mexikanischen ArbeiterInnen verletzt.

Auf der lokalen Ebene gibt es Tausende von AktivistInnen, welche die Kämpfe gegen Sweatshops und NAFTA, gegen die »fast track«-Verhandlungsvollmacht für den US-Präsidenten[2] und gegen die Welthandelsorganisation WTO von Anfang an miterlebt und mitgestaltet haben. Sie verfügen über Erfahrungen, die für die Strategieentwicklung der AFL-CIO und ihrer assoziierten Gewerkschaften sehr wertvoll sein könnten. Diese Menschen werden aber kaum je angesprochen.

Viele Mitglieder der heutigen Gewerkschaftsführung waren in der Meany/Kirkland-Ära auch schon dabei. John Sweeney saß in den Beiräten aller vier so genannten free labor institutes, ebenso wie Andere, die nun dem Vorstand der AFL-CIO angehören. Es wird Zeit, zuzugeben, dass diese Politik ArbeiterInnen in anderen Ländern lange verhehlten Schaden zugefügt und das Ansehen der US-amerikanischen ArbeiterInnenbewegung schwer beschädigt hat.

Eine neue Solidarität

In ihrem Buch über Wirtschaftsnationalismus ruft Dana Frank dazu auf, die Konfliktlinie, welche »Die« und »Uns« voneinander abgrenzt, neu zu bestimmen. Wenn »Wir« wirklich die ArbeiterInnen der ganzen Welt in einer globalen Wirtschaft bezeichnen soll, dann muss die internationale Politik der US-ArbeiterInnenbe-wegung auf den Interessen von uns allen begründet sein, ob US-AmerikanerInnen, MexikanerInnen, ChinesInnen, SerbInnen oder SüdafrikanerInnen. Um diesen Wandel zu ermöglichen, muss internationale Solidarität eine Bemühung an der Basis, zwischen Menschen sein, so dass die Isolation der US-amerikanischen ArbeiterInnen einem Verständnis für gemeinsame Interessen weichen kann.

Die Beziehung zwischen den United Electrical Workers (UE) und der mexikanischen Frente Autentico del Trabajo (FAT) könnte ein Modell für den Aufbau tatsächlicher Solidarität sein. Auf jeder Ebene dieser Gewerkschaften ist ein starkes Bewusstsein für die Notwendigkeit vorhanden, eine Beziehung zwischen Gleichberechtigten aufzubauen. Die Mitglieder sind in diesen Prozess durch häufige Besuche, interne Bildungsmaßnahmen sowie regelmäßige Berichterstattung über gemeinsame Aktivitäten eingebunden.

Wenn die AFL-CIO der Öffentlichkeit reinen Wein einschenken, ihre Archive zugänglich machen und bekennen würde, welche Rolle sie während des Kalten Krieges gespielt hat, so wäre das ein guter Anfang. Eine Resolution, welche die AFL-CIO auffordert, dies zu tun, wurde letzten Herbst vom South Bay Labor Council verabschiedet und macht nun die Runde durch weitere regionale Delegiertenversammlungen der Gewerkschaft.

Außerdem wäre es sehr hilfreich, wenn die AFL-CIO endlich einsehen würde, dass die US-Außenpolitik (der Demokraten wie der Republikaner) allein auf das Ziel zugeschnitten ist, die US-Unternehmen zu unterstützen. Dann könnte die ArbeiterInnenbewegung nämlich anfangen, eine unabhängige internationale Politik zu entwickeln und umzusetzen, die sich an den Interessen der ArbeiterInnen orientiert, wo auch immer auf der Welt.

 

Übersetzung: Anne Scheidhauer

* Judy Ancel ist Geschäftsführerin des »Institute for Labor Studies« in Kansas City und Beirats-Mitglied der »Coalition for Justice in the Maquiladoras«.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 11-12/02

Anmerkungen:

1) Anmerkung der Redaktion und der Übersetzerin: Obwohl es in diesem Beitrag in emanzipatorischer Absicht um das Verhältnis der US-amerikanischen und mexikanischen Gewerkschaftsbewegung geht, verwendet Ancel im Original durchgängig nur die Bezeichnung »amerikanisch«. Wir haben diesen problematischen Begriffsgebrauch, der sich auch in dem etwas instrumentellen Verständnis der Notwendigkeit der Solidarität ausdrückt (»... um die Abwärtsspirale in den USA zu stoppen«), in der Übertragung geändert.

2) Schon lange – und seit dem 11. September 2001 häufig untermauert mit dem Argument »Freihandel stärkt den Kampf gegen Terror« – wird in den USA versucht, den Kongress dazu zu bewegen, dem Präsidenten eine sehr weitgehende Autonomie beim Abschluss internationaler Handelsabkommen einzuräumen und sich damit selbst das Recht zu beschneiden, die Modifikation solcher Abkommen zu verlangen. Entsprechenden Vorschlägen zufolge soll das Parlament nur noch pauschal zustimmen oder ablehnen dürfen (d.Ü.; vgl. zu den Fast-Track-Vollmachten auch Thomas Fritz im Attac-Rundbrief 2 vom 4. Oktober 2001).

LabourNet Germany Top ^