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1973 kam es fast das ganze Jahr hindurch zu spontanen Streiks gegen die
inflationäre Preisentwicklung. Sie forderten i.d.R. Teuerungszuschläge.
Natürlich war dies auch verbunden mit der Unzufriedenheit über die
Ergebnisse der Tarifpolitik.
Die Gewerkschaft ÖTV hatte durch die Kündigung der Tarifverträge
für den öffentlichen Dienst zum 31.12.1973 erstmals die Rolle des
Schrittmachers für die Tarifrunde 1974 übernommen. Die Tarifkommission
forderte eine Lohn- und Gehaltserhöhung von 15 Prozent, mindestens DM 185
und ein Urlaubsgeld von DM 300.
Bundeswirtschaftsminister Fridrichs erklärte die Lohnforderungen für
unvertretbar und fahrlässig, Bundesinnenminister Genscher legte als Verhandlungsführer
der Arbeitgeber am 8. Januar 1974 ein Angebot in Höhe von 7,5 Prozent vor.
In der Zeit vom 10. Januar bis 6. Februar 1974 kam es zu vielen Warnstreiks
im öffentlichen Dienst, bei Post und Bahn. Rund 100000 Beschäftigte
beteiligten sich daran. Am 28. Januar machte Genscher das Angebot von 9,5 Prozent
und mindestens 130 DM.
Der hohe Erwartungsdruck der ÖTV-Mitglieder führte zur Ablehnung dieses
Angebots und zur Vorbereitung des Streiks durch Urabstimmung. Es stimmten 91,6
Prozent für den Ausstand. Zwischen 11. und 13. Februar wurde im öffentlichen
Dienst, teilweise auch bei Bahn und Post, gestreikt.
Dem schließlichen Verhandlungsergebnis von 11 Prozent Lohn- und Gehaltserhöhung,
mindestens aber DM 170, stimmten 61,8 Prozent der ÖTV-Mitglieder in einer
Urabstimmung zu.
Am 6. Mai 1974 trat Bundeskanzler Brandt zurück, ihm wurde auch vorgeworfen,
dass er sich von der ÖTV hätte erpressen lassen.
Wir dokumentieren in unserer Reihe »Fund- und Schmuckstücke aus 40 Jahren
express, für und mit Euch neu gelesen« den Beitrag von Aike Blechschmidt
aus express, Nr. 2, vom 12. Feb. 1974.
Wie müssen wir das Verhalten der Arbeitgeber in der diesjährigen Tarifrunde einschätzen? Läuft ihr hartes Auftreten nur auf eine besonders gut gelungene Nummer der alljährlichen Tarif-Schau hinaus? Oder kämpfen sie tatsächlich mit dem Rücken zur Wand? Die Antwort lautet: Das BRD-Kapital kämpft gegenwärtig (1. Halbjahr 1974) keineswegs mit dem Rücken zur Wand. Vielmehr ist die Lage der BRD im gegenwärtigen Abschwung ausgezeichnet, verglichen mit der Situation der BRD-Konkurrenten. Diese Ausgangslage zu erhalten, die Krise auf das Ausland abzuladen, um nicht Ende 1974 und 1975 mit dem Rücken zur Wand kämpfen zu müssen, das soll auf Kosten der BRD-Arbeiterklasse erreicht werden. Um die Erhaltung und den Ausbau der Vormachtstellung des BRD-Kapitals auf Kosten der Lohnabhängigen, darum geht es in der gegenwärtigen Lohnrunde.
Dazu folgende Punkte:
Die kapitalistische Weltwirtschaft macht gegenwärtig eine Talfahrt auf ganzer Linie durch, wie sie zuletzt 1957 zu beobachten war. So sicher dieser Punkt ist, so unsicher sind wir hinsichtlich der Stärke dieses Abschwungs und hinsichtlich der Tiefe der zu erwartenden Rezession (der kapitalistischen Weltwirtschaft). Die offiziellen Prognosen nützen uns dazu kaum. Einmal übertreiben sie, um durch Krisenmalerei auf die Arbeiterklasse disziplinierend einzuwirken. Dass gegenwärtig 2/3 aller Beschäftigten um ihren Arbeitsplatz bangen (Allensbach-Umfrage nach Frankfurter Rundschau vom 1. Februar 1974), zeigt, wie wichtig dieser Punkt ist. Andererseits untertreiben sie, um den Glauben der Arbeiterklasse an die Krisenfreiheit und Lenkbarkeit des Kapitalismus zu stützen. Sicher ist, dass jeder Abschwung, kommt er in Gang, seinerseits weiteren Abschwungtendenzen zum Ausbruch verhilft. Da wir gegenwärtig eher am Anfang des weltweiten Abschwungs sind, ist somit sein Andauern bis Ende 1974 ebenso sicher, wie seine Verschärfung (immer alles weltweit gesehen).
Können wir uns an der letzten Krise 1966/67 orientieren? Nein, denn die beschränkte sich damals auf die BRD. Nutzt uns ein Vergleich mit jenem ebenfalls weltweiten Abschwung von 1957? Wenn ja, dann müßte ja bald auch 1974 mit einem neuen und kräftigen Aufschwung zu rechnen sein. Aber dagegen spricht:
Fassen wir zusammen: Gegenüber 1957 niedrigere Profitrate bei stärkerer Arbeiterklasse bedeutet schärfere Klassenauseinandersetzungen bei Zunahme der Konkurrenz im internationalen Rahmen. Beides steigert sich gegenseitig, zuzüglich wurde, im wahrsten Sinne des Wortes, Öl ins Feuer gegossen. Das sind diejenigen Momente, die dagegen sprechen, dass es auch 1974 zu einem ebenso schnellen und heftigen Aufschwung kommt wie 1957. Wie immer es mit der konkreten Stärke des Abschwungs und der Tiefe der Rezession tatsächlich bestellt sein mag: eine realistische Politik des Kapitals muss die genannten Punkte einbeziehen, und das Verhalten der Regierung muss ihnen Rechnung tragen.
Das BRD-Kapital verfügt über enorme Devisenreserven, verglichen mit seinen kapitalistischen Konkurrenten. Ebenso über eine vergleichsweise ruhige und opferbereite Arbeiterschaft. Beides verschafft dem BRD-Kapital eine außerordentlich günstige Ausgangsposition, um verschärften Konkurrenzkampf günstig abzuschneiden. Dem japanischen Kapital bislang ärgster Dorn für die BRD-Unternehmer stehen die bisher härtesten Lohnkämpfe ins Haus, die Öl-Preis-Krise hat ihre Devisenbestände gerupft, so dass die offensive Ausdehnung des Kapitalexports in Frage gestellt ist.
In Italien kämpft die Bourgeoisie um ihre Existenz, in England spitzen sich die Lohnkämpfe auf eine Systemkrise hin zu, Frankreich flüchtet zur Abwertung, um über mehr Export (= Vollbeschäftigung) Ruhe im Lande zu bewahren. Mitten in dieser Verschärfung der Klassenauseinandersetzungen: die BRD als Insel der relativen wirtschaftlichen und politischen Stabilität. Bietet sie sich damit nicht den USA als Hilfssheriff geradezu an, nachdem die derzeit geschwächte EG der BRD viel von ihrer Konkurrenzgefährlichkeit für die USA genommen hat? Wo die BRD im südlichen Afrika ebenso wie in Südamerika schon längst zum Ordnungsfaktor Nr. 2 aufgerückt ist, wo die BRD und die USA Hauptkomplizen des Schahregimes sind? Diese Position auszubauen, muss für das BRD-Kapital verlockend sein.
Sich mit den US-Kapitalisten auf Kosten Dritter auf dem Weltmarkt zu arrangieren bzw. gestärkt einen neuen EG-Anlauf zu nehmen, muss die BRD-Herren gleichermaßen reizen. Vom Standpunkt des BRD-Kapitals aus ist es auf jeden Fall vernünftig, die fast einmalig günstige Situation nach Kräften zu nützen. Die Bedingung, die dabei eingehalten werden muß, lautet: Erhaltung der Exportüberschüsse.
In einem weltweiten Abschwung steigt die Nachfrage weniger oder geht sogar zurück. Am allermeisten bei Investitionsgütern , den Hauptexporten der BRD. Das bedeutet, dass die Preise auf dem Exportmarkt nicht mehr mit gleicher Munterkeit erhöht werden können, wie das noch im Boom möglich war, am wenigsten bei den Investitionsgütern, also bei den BRD-Exporten. Die rasante Erhöhung der BRD-Preise im Ausland (Aufwertungen), die in den letzten Jahren stattfanden (= Aufschwung bzw. Boomjahre), dürfen darüber nicht hinwegtäuschen. Das BRD-Kapital muss also in den kommenden Monaten preislich elastisch sein , etwas elastischer als die Konkurrenten. Die Preispolitik darf natürlich nicht auf Kosten der Profite gehen, denn dann würde die BRD-Investitionen gefährdet werden. Das muss eine Politik von Kapital und Regierung einbeziehen. Dazu eignet sich eine Ausdehnung der Staatsnachfrage ebensowenig wie die Vergrößerung der Geldmenge: beides würde den Preisauftrieb verstärken damit die Exportkapitale eher schwächen. Gleich wenig aktuell ist eine Abwertung, würde sie doch die (Öl-)Importe verteuern, den Kapitalexport erschweren und einen Abwertungswettlauf provozieren.
Bleibt die Lohnpolitik: durch sie soll das Exportkapital seine Preise elastisch halten können, ohne Profiteinbußen nehmen zu müssen. Dadurch bleiben auch die Investitionen der Exportkapitale auf alter Höhe bzw. werden darüber hinaus gesteigert. Was natürlich für alle übrigen Kapitale ebenso zutrifft.
Fehlende Kaufkraft wegen der Löhne? Aber ein Rückgang des privaten Konsums zu Gunsten von mehr Investition (privat und staatlich) ist ja das seit Jahren anvisierte Ziel! Die angesammelten Steuermilliarden sollen für staatliche Investitionen, nicht für staatliche Löhne ausgegeben werden. Mehr Konsum? Ja, aber durch mehr Lohn infolge mehr Arbeitsstunden, nicht infolge von mehr Stundenlohn , so solls laufen (siehe Brandts zweite Regierungserklärung). Mehr Arbeitsstunden zur Erarbeitung von mehr Export und von mehr Akkumulation (= Investition), also mehr Export und mehr Profit, das muss im Mittelpunkt an Politik stehen, die den Erfordernissen der kapitalistischen Wirtschaft gerecht werden will. Soll die Bundesregierung eine gute Politik treiben, so muss dies eine Politik gegen die Arbeiterklasse sein: schärfer vielleicht als in anderen Situationen tritt im Abschwung die Unvereinbarkeit der Interessen der Lohnarbeit mit denen des Kapitals zu Tage.
Hauptdisziplinierungsmittel ist noch immer die Angst um den Arbeitsplatz. Dass dieses Mittel auch gegenwärtig zieht, das zeigt das oben zitierte Umfrage-Ergebnis. Wird jedoch die ÖTV im Abschwung zum lohnpolitischen Eisbrecher, ziehen die anderen Kollegen nach mit den schlagenden Argument »was bei denen, das auch bei uns« , dann ist ein wichtiges Disziplinierungsmittel angeschlagen. Um also die Exportstrategie lohnpolitisch abzusichern, muss gegenwärtig die Hauptstoßrichtung gegen die ÖTV-Kollegen gerichtet werden.
Hinzu kommt ein zweites: wie schon erwähnt, ist eine Ausdehnung des Anteils der staatlichen Investitionen (9/10 Bauten) ein seit Jahren anvisiertes Ziel. Die Preissteigerungen (Bauten!) haben dem bislang einen Strich durch die Rechnung gemacht. Hinzukam, dass die Personalausgaben stark gestiegen sind. Die Schlußfolgerung ist klar: man will weit mehr. Geld für Investitionen ausgeben, um trotz Preissteigerung mehr real zu bekommen , auf Kosten des Personaletats. Dies umso mehr, wenn gleichzeitig ein »stabilitätspolitischer« Beitrag geleistet werden soll (sprich: weniger Kreditaufnahme). Für 1973 faßte der Sachverständigenrat die Marschroute wie folgt zusammen:
Wenn der Staat zwecks Stabilität weniger ausgibt, »so wären Kürzungen vor allem im Bereich des Staatsverbrauchs, weniger im investiven Bereich erforderlich. Insbesondere: Der Staat müßte es für vertretbar halten und durchsetzen können, dass die Einkommen im öffentlichen Dienst weniger stark steigen.« (Gutachten 1972, Ziffer 387)
Wegen der oben genannten Punkte gilt dies heute umso mehr.
Weil das BRD-Kapital die günstige Bedingung nutzen muß, kann ein längerer Streik (mit Radikalisierungsmöglichkeiten) kaum in seinem Interesse liegen. Schwergewicht liegt also auf der Propaganda, auf Verzögerungstaktik und Ablenkungsmanövern (Gesetzentwürfe etc.). Wie die Öl-Propaganda vom Ende 1973 zeigt, kann die zu Lügen gezwungene Regierungspropaganda zum Bumerang werden. Hier liegt für die Linke eine Chance, in (möglichst wenig marktschreierischer) Aufklärungsarbeit die kritischere Einstellung der Arbeiter und Angestellten gegenüber der »eigenen« Partei zu stärken und Systemzusammenhänge nachvollziehbar zu machen.
Bei fortgeschrittenen Kollegen ergibt die jetzige Lage verstärkt die Möglichkeit, auf die internationale Solidarität hinzuweisen (dass durch Krisenexport eine Arbeiterklasse gegen die andere ausgespielt wird). So kann auch die fatale Fixierung an die Arbeitsplatz-Sicherung per Export aufgelöst werden.
Bei der in breiten Kreisen gepflegten Ansicht, dass der Staat doch seinen Anteil auf Kosten des Konsums ausdehnen solle, ist in erster Linie der Verfügungsgesichtspunkt geltend zu machen: wer bestimmt darüber? In wessen Interesse wird was wo investiert?
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