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Updated: 18.12.2012 15:51
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Kotau vorm Kapital?

Gewerkschaften & Gesundheitsreform im US-Wahlkampf

Der US-amerikanische Gewerkschaftsdachverband hat im Juli 2007 unter seinen Mitgliedern eine Umfrage über die Notwendigkeit einer Gesundheitsreform in den USA durchgeführt. [1] Dabei kam Folgendes heraus:

  • 71 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder meinen, die Gesundheitsversorgung sei für die gewählten Vertreter ein »kritisches« Thema (zum Vergleich: 75 Prozent meinten das beim Thema Irak, 67 Prozent beim Terrorismus und 43 Prozent bei der Ökonomie).
  • 82 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder sagen, die Gesundheitsversorgung sei in einem »kritischen Zustand« (32 Prozent) bzw. habe »große Probleme« (50 Prozent).
  • 76 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder sind der Meinung, die Gesundheitsversorgung müsse entweder von Grund auf erneuert werden (30 Prozent) oder brauche zumindest größere Reformen (46 Prozent).
  • 82 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder sagen, die Regierung solle für die Gesundheitsversorgung »mehr tun« (zum Vergleich: 67 Prozent meinen das bei der Bildung und 63 Prozent bei den Themen Arbeit und Beschäftigung).

Die Ergebnisse von Umfragen des Senders CBS und der New York Times, die ebenfalls auf der Homepage der AFL-CIO veröffentlicht sind, weisen in eine ähnliche Richtung. Das Thema Gesundheitsversorgung und Gesundheitsreform brennt den Gewerkschafte(r)n in den USA unter den Nägeln – verständlicherweise. Spätestens seit Michael Moores Film »Sicko« über die Gesundheitsversorgung in den USA [2] dürfte auch jedem interessierten Gewerkschafter hierzulande klar sein, warum. Es mag deshalb auch nicht verwundern, dass die US-Gewerkschaften sich gerade, was das Thema Gesundheitsreform angeht, verschärft in den Wahlkampf zwischen Republikanern und Demokraten einmischen. Sowohl die AFL-CIO als auch die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU rufen nicht zuletzt deshalb zur Wahl und aktiven Unterstützung von Barack Obama und den Demokraten auf. Nun ist das Programm von den Demokraten – natürlich nicht nur, was das Gesundheitswesen angeht – politisch das sympathischere als das der Republikaner, die sich mit John McCains designierter Vize Sarah Palin einen selbst ernannten »Pitbull mit Lippenstift« zum Aushängeschild gewählt haben. Auf der Homepage der SEIU wird gefragt, wessen Gesundheitsreform-Plan für die Familien besser sei, und eine deutliche Antwort gleich mitformuliert: »Es ist klar. Nur Barack Obamas Vorhaben wird die Kosten kontrollieren, den Versichertenkreis bzw. die Zahl der medizinisch Versorgten ausweiten und die Versicherungsgesellschaften in die Verantwortung nehmen.« [3] McCains Pläne für das US-Gesundheitswesen würden hingegen ein »schlimmes Problem noch schlimmer machen«. [4]

Sowohl die AFL-CIO als auch die SEIU sind Mitglied von Health Care for America Now [5] (Gesundheitsversorgung für Amerika jetzt). Health Care for America Now (HCAN) ist laut Selbstdarstellung im Internet eine Graswurzelbewegung, in der sich inzwischen Millionen US-Amerikaner für eine qualitativ hochwertige und bezahlbare Gesundheitsversorgung für alle organisieren. Sie wollen die »Menschen bei der Arbeit, zu Hause, in der Nachbarschaft oder online organisieren.« HCAN hat inzwischen über 80 Mitgliedsorganisationen und unterstützt ebenfalls Obama und die Demokraten.

Aber versprechen und planen die Demokraten tatsächlich eine Reform des Gesundheitswesens, die eine qualitative hochwertige und bezahlbare Gesundheitsversorgung für alle garantieren kann? Darüber wird in den US-Gewerkschaften – nicht erst seit diesem Wahlkampf – heftig gestritten.

Im Rahmen unserer Berichterstattung über den skandalösen Tarifvertrag der UAW mit General Motors, der als Zugeständnis an die Arbeitgeber die Einrichtung eines VEBA (Voluntary Employee Beneficiary Association) genannten Gesundheitsfonds beinhaltete [6], berichteten wir auch über Widerstand gegen diese vermeintlichen Lösungen und alternative Forderungen: Mitglieder des Center for Labor Renewal (CLR), wie das frühere UAW-Vorstandsmitglied Jerry Tucker, plädieren z.B. für eine grundsätzliche Lösung des Problems: das so genannte Single-Payer-System (dazu gleich mehr).

Die Idee für das Center for Labor Renewal entstand lt. Selbstdarstellung Anfang 2005 im Rahmen einer Debatte, als sich zeigte, dass die Gewerkschaftsführungen die fundamentale Krise der Arbeiterklasse vollständig ignorierten. Es wurde nach einem Treffen von Aktivisten von Gewerkschaften, Worker Centers und verschiedenen Organisationen aus der Gewerkschaftsbewegung im Frühjahr 2006 gegründet und weitet sich seitdem immer mehr aus mit dem Ziel, die »Arbeiterbewegung zu transformieren und zu erneuern, hin zu einer progressiven sozialen Bewegung in den USA und international«. [7] Auf der Webseite des CLR findet man nun einen interessanten Artikel von Rose Ann DeMoro, der Geschäftsführerin der California Nurses Association/National Nurses Organizing Committee. Die Gewerkschaft der kalifornischen Krankenschwestern engagiert sich mit dem Slogan: »Wir brauchen keine Versicherung; was wir brauchen, ist eine garantierte Versorgung für alle in den USA – und nicht nur für die, die es bezahlen können« [8] ebenfalls für ein Single-Payer-System und für die entsprechende Gesetzesinitiative HR 676. [9]

Rose Ann DeMoro kritisiert in diesem Artikel [10], die Koalition Health Care for America Now gebe ihre Pläne für eine wirkliche Reform auf, indem sie sich für Obamas Gesundheitspläne einsetzt. Man habe bei der Suche nach einem vermeintlich politisch durchsetzbaren Konzept schon im Voraus den Gedanken an eine grundsätzliche Reform aufgegeben. Letztere müsste darin bestehen, das staatliche Gesundheitssystem Medicare, das bislang nur für ältere und behinderte Menschen zur Verfügung steht, für alle zugänglich zu machen und zu verbessern. Sie wirft der HCAN und damit der AFL-CIO wie der SEIU vor, mit ihrem im Konsens mit den Demokraten abgestimmten Konzept falsche Hoffnungen auf einen grundsätzlichen Wandel zu wecken und damit zu verhindern, dass eine wirkliche Reform auf den Weg gebracht wird.

Im Kern ist DeMoros Vorwurf, dass die Demokraten und ihre Unterstützer die Macht der Versicherungen nicht wirklich angehen, sondern nur den universalen Zugang zu dem bestehenden System von Belegärzten, Krankenhäusern und den großen privaten Krankenversicherungen verbessern wollen, ganz wie es auch der National Health Plan von Obama vorsieht. Der Vorschlag der HCAN würde nichts an der Praxis der Versicherungsgesellschaften ändern, ihren Profit höher zu bewerten als die Gesundheit der Versicherten. Weiterhin würden Versicherungsgesellschaften Behandlungen ablehnen, und weiterhin sei davon auszugehen, dass Familien sich die steigenden Versicherungsbeiträge kaum mehr leisten können; dies werde durch die aktuelle Finanzmarktkrise nun noch verschärft. Rose Ann DeMoro hält es für naiv, wenn HCAN meint, die Versicherungsgesellschaften müssten in Zukunft, also nach der Wahl Obamas, kontrolliert werden, »um sicherzustellen, dass die Risiken fair verteilt sind« und dass die »Versicherungen Versicherte nicht abweisen, die Raten anheben und die Deckung der Versicherungsleistungen von der Vorerkrankung abhängig machen oder eine Behandlung verzögern oder gar ablehnen«. (HCAN, zitiert von Rose Ann DeMoro) DeMoro resümiert, diese guten Absichten würden nichts an dem schon jetzt gescheiterten System ändern, und es gebe nur einen Weg, den Missbrauch durch die Versicherungsgesellschaften zu stoppen: Man müsse die Versicherungsgesellschaften insgesamt stoppen.

Ganz ähnlich argumentiert Kip Sullivan in den Labor Notes. Sein Artikel trägt den Titel: »Die Gewerkschaften unterstützen einen Plan, der eine wirkliche Gesundheitsreform verhindern könnte.« [11] Seiner Einschätzung nach wird Obama, falls er die Wahl gewinnt, massiv unter Druck stehen, eine universale Krankenversicherung einzurichten – nicht nur, weil das bisherige System in den Augen der Öffentlichkeit abgewirtschaftet hat, sondern auch weil viele Organisationen hart dafür gearbeitet haben. Die Lösung, die die mächtigsten unter diesen Organisationen, darunter die AFL-CIO und die SEIU, propagieren, geht aber seiner Ansicht nach das Problem nicht an. Im Gegenteil: Ihre Pläne würden die Versicherungsindustrie weiter mästen und deren Opposition gegen eine wirkliche Reform damit nur noch verstärken, und damit werde der Tag, an dem alle US-Amerikaner Zugang zu einer bezahlbaren Versicherung bekommen, auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Die Zauberformel dieser Pläne lautet »garantierte bezahlbare Wahl« (guaranteed affordable choice) und sieht vor, dass ein staatliches Gesundheitsprogramm wie Medicare sich im Wettbewerb neben den 1500 privaten Versicherungsgesellschaften am Markt behaupten soll. Die Bevölkerung soll steuerfinanzierte Unterstützung bekommen, um sich entweder bei privaten oder staatlichen Anbietern versichern zu können. So wolle man einen Wettbewerb entfachen, der im Gesundheitswesen aber noch nie funktioniert habe. Wenn man die gesamte Versicherungsindustrie so im Zentrum des Gesundheitswesens bestehen lasse, werde die »garantierte bezahlbare Wahl« aber lediglich bedeuten, dass Steuer- und Beitragszahler weiterhin Milliarden Dollar für unnötige Bürokratie bezahlen würden.

Sullivan verweist darauf, dass die AFL-CIO und die SEIU seltsamerweise einen komplett anderen Plan ebenfalls befürworten: nämlich das Single-Payer-System. Der Vorstand der AFL-CIO hat ein solches Konzept befürwortet, indem er im März 2007 die Ausweitung von Medicare auf Menschen jeden Alters gefordert hat. Die SEIU befürwortete die Gesetzesinitiative HR 676 bei ihrem Gewerkschaftstag im Juni 2008. Mit »Single Payer« ist ein System gemeint, das in Kanada und anderen Ländern existiert und dessen Kern darin besteht, dass eine zentrale Instanz in öffentlicher Hand allein für die Verteilung der Gelder zuständig ist. Sie soll also die 1500 Versicherungsgesellschaften nicht ergänzen, sondern ersetzen und Grenzen der Ausgaben für Ärzte, Krankenhäuser und Pharmafirmen festlegen. Patienten haben die freie Arzt- und Krankenhauswahl. Sullivan meint, nur ein solches System könne erreichen, dass jeder medizinisch versorgt werden könne – und zwar mit dem gleichen oder weniger Geld als jetzt.

Denn die Ersetzung all dieser Versicherungsgesellschaften und dutzender Regierungsprogramme durch eine Instanz würde die immensen Kosten verringern, die entstehen weil Ärzte und Krankenhäuser den Versicherungsgesellschaften oftmals umfänglich begründen müssen, warum sie welche Leistung erbracht haben; außerdem würden all die Kosten für Marketing, hohe Gehälter in den Führungsetagen und für die Profite wegfallen. Die Frage, die die Gewerkschaften umgehen wollen, ist, ob die bloße Existenz eines öffentlichen Gesundheitsprogramms in dem Dschungel der privaten Versicherer diese zwingen würde, die Beiträge zu senken – ohne dass sie Rosinen picken oder Behandlungen einfach verzögern oder ablehnen. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Versicherungsindustrie mit den staatlichen Programmen in Konkurrenz tritt, indem sie die Leistungen bei den »schlechten Risiken« so zurückfahren, dass es für die Betroffenen günstiger ist, in ein staatliches Programm zu wechseln. Das wiederum würde die Beiträge der staatlichen Programme in die Höhe treiben und die Beiträge der Privaten senken. Das könnte so weit gehen, dass die staatlichen Programme wieder vom Markt verdrängt würden.

Augenwischerei

Die Befürwortung eines Single-Payer-Systems durch die AFL-CIO und die SEIU hält Sullivan allerdings für Augenwischerei, da diese all ihre Energie in das Konzept der »garantierten bezahlbaren Wahl« steckten – als Gewerkschaften sowie als Mitglieder der HCAN, welche Single Payer als »politisch nicht umsetzbar« kritisiert.

Eine Erklärung eines SEIU-Mitglieds dafür, warum die AFL-CIO und die SEIU das Single-Payer-System erst befürworteten, dann aber Pläne unterstützten, die die Kosten sicher nicht senken werden, ist die, dass man mit Obama erst einmal an die Macht kommen und dann die Debatte darüber führen müsse, was nun der bessere Plan sei. Ähnlich habe sich auch Nick Unger, der Experte für Gesundheitspolitik der AFL-CIO geäußert. Aber Sullivan meint, dass sich die Verfechter der »garantierten bezahlbaren Wahl« längst entschieden haben, was der bessere Plan ist und dass sie davon auch die Demokraten, John Edwards, Hillary Clinton und Barack Obama überzeugt hätten. Mike Carano, ein Mitglied des Teamsters Local 348 in Ohio und seit langer Zeit Aktivist im Single-Payer Action Network, bietet eine andere Erklärung an: »Die AFL-CIO und die SEIU sind eng verbunden mit der Demokratischen Partei, und die will nicht an die Versicherungsindustrie ran. Die AFL-CIO und die SEIU wollen die Demokraten unterstützen und sie nicht verärgern...« [12]

Ein Schelm, wer dabei an den sozialdemokratischen deutschen Bundeskanzler denkt, der auch gesagt hat: »Mit mir als Kanzler wird es keine Aufhebung der privaten Krankenversicherung geben...« Überhaupt erinnert diese Konstellation ein wenig an die deutschen Verhältnisse während der rot-grünen Regierungszeit, wo die Gewerkschaften eine der schlimmsten Gesundheitsreformen passieren ließen, weil man den Sozialdemokraten »nicht in den Rücken fallen wollte« – um anschließend bei der Kritik der Reform wieder den Mund voll zu nehmen. Das Grundproblem für die US-Gewerkschafter ist also die Frage: Wie umgehen mit den Versprechungen von den Demokraten? Natürlich ist es für alle erst einmal wichtig, die Bush-Regierung loszuwerden. Aber hier wie dort muss klar sein, dass es weder sinnvoll noch politisch klug ist, die Mitglieder über die wirklichen Inhalte z.B. des Gesundheitsprogramms von Obama und den Demokraten zu täuschen. Im Gegenteil, die kritischen Kollegen in den USA meinen, dass dies sogar eine wirkliche Reform verhindert.

NaRa

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/08


(1) Vgl. www.aflcio.org/issues/healthcare/reform.cfm externer Link (übersetzt von N.R.)

(2) Siehe die Artikel von Sal Godo und Nadja Rakowitz im express 6-7/08

(3) Vgl. das Infoblatt der SEIU zur Wahl: www.americansforhealthcare.org/the-election externer Link

(4) Vgl. www.americansforhealthcare.org/the-election externer Link

(5) Vgl. www.healthcareforamericanow.org externer Link

(6) Vgl. Tonyia Young: »Sicko mit und trotz UAW«, in: express 10-11/07

(7) Vgl. www.centerforlaborrenewal.org externer Link

(8) Vgl. www.guaranteedhealthcare.org/node externer Link

(9) Vgl. www.hr676.org/ externer Link

(10) Rose Ann DeMoro: »Why is Health Care for America now giving up on real reform?«, in: www.centerforlaborrenewal.org

(11) Vgl. Kip Sullivan: »Unions Back Plan that Could Kill Off Real Health Care Reform«, in: labornotes vom 1. August 2008, http://labornotes.org/node/1849 externer Link (übersetzt von NR)

(12) Ebd.


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