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Updated: 18.12.2012 15:51
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Sicko mit und trotz UAW

Tonyia Young* zum US-weiten Streik gegen GM

Michael Moores neuer Film »Sicko« hat noch einmal einige der grotesken Folgen einer weitgehend privat organisierten Gesundheitsversorgung veranschaulicht. Das US-Gesundheitssystem – korrekt müsste es heißen: Nicht-System – ist nicht nur das teuerste und verwaltungsaufwändigste der Welt, es sorgt auch dafür, dass über 47 Mio. US-BürgerInnen keinerlei Gesundheitsversicherung haben und weitere zig Millionen als unterversorgt gelten. Einer der Gründe: In der Phase der Stärke nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatten US-Gewerkschaften betriebliche Gesundheits- (und Renten-)versicherungen für einzelne Unternehmen erkämpft, aus denen Beiträge und Gesundheitsleistungen für die jeweiligen Beschäftigten, RuheständlerInnen und deren Hinterbliebene finanziert wurden. Die Konsequenzen dieser Privatisierung zeigen sich jetzt, u.a. in dem in mehrerer Hinsicht bemerkenswerten Streik der UAW. Wir dokumentieren die Übersetzung eines Berichts, der vor Abschluss der jüngsten Tarifverhandlungen verfasst wurde. Über Details des Abschlusses werden wir in der nächsten Ausgabe ausführlich berichten – nur so viel vorweg: 65 Prozent der UAW-Mitglieder stimmten dem Deal zu, die UAW hat damit die Chance verpasst, das laut Umfragen drängendste gesellschaftliche Konfliktthema Gesundheitsversorgung aufzugreifen und sich für ein allgemeines, flächendeckendes Gesundheitssystem einzusetzen.

Zum ersten Mal seit 37 Jahren startete die UAW (United Auto Workers) Ende September einen zweitägigen landesweiten Streik gegen General Motors. Nachdem die Streik-Deadline am 24. September verstrichen war, strömten mehr als 73000 Produktionsarbeiter aus den GM-Betrieben. In der Hoffnung, dass die UAW und GM zu einer landesweiten Vereinbarung kommen würden, war der GM-Vertrag seit dem 14. September praktisch jeweils stündlich verlängert worden; die Verträge mit Ford und Chrysler liefen unterdessen weiter.[1]

Laut Ron Gettlefinger, Vorsitzender der UAW, wurde der Streik ausgerufen, nachdem sich die UAW in Bezug auf Fragen der Arbeitsplatzsicherheit nicht habe durchsetzen können. Es sei, so Gettlefinger, bei dem Streik nicht um den Gesundheitsfonds VEBA (Voluntary Employee Beneficiary Association [2]) gegangen: »Ich bin, wie auch schon 2005, überzeugt, dass es in unserem wohlverstandenen Interesse liegt, für unsere Ruheständler einen solchen Fonds einzurichten. Das war nie ein Thema für uns.« Andere Verhandlungsthemen waren eine zweistufige Lohnstruktur (mit unterschiedlichen Löhnen für Neueingestellte und bereits Beschäftigte; Anm. d. Red.), Betriebsschließungen, Outsourcing, erzwungene 10-Stunden-Arbeitstage wie auch diverse Eingruppierungsregelungen und Änderungen von Arbeitsrichtlinien.

Am ersten Tag des Streiks stand die Produktion in allen GM-Werken der USA komplett still. Am zweiten Tag des Streiks, als das Material entlang der Produktionskette knapp wurde, wurden Berichte bekannt, dass GM Betriebe in Kanada geschlossen haben. Auch wichtige Zulieferer wie Delphi stellten die Produktion gegen Ende des zweiten Tages ein.

Aufgeworfene Fragen

Während dieser unerwartete Gebrauch von Macht viele Beobachter schockierte, stellten Aktivisten aus den Reihen der Gewerkschaft die Frage nach den Hintergründen der Streikstrategie. Basis-Aktivisten vor Ort hatten sich zwar schnell solidarisiert, doch wurden die Streikposten von den Arbeitern selbst nur spärlich besucht – selbst bei Hauptproduktionsstätten wie dem Cadillac Poletown-Werk in Hamtramck, Michigan.

Auch die Atmosphäre in den Gewerkschaftshäusern war einigermaßen gedrückt. Mitgliedermobilisierung und Kommunikation waren während des kurzen Streiks zum größten Teil nicht existent, was viele Mitglieder mit der Frage zurückließ, was mit dem Streik erreicht werden solle. Diese Fragen potenzierten sich zwei Tage später, als Gewerkschaftsoffizielle am 26. September auf einer Pressekonferenz um vier Uhr morgens eine provisorische Vereinbarung verkündeten. Gettlefinger behauptete, dass der Streik die Verhandlungsblockade durchbrochen habe und mutmaßte, dass »der Streik wahrscheinlich unserer Seite mehr geholfen hat als ihrer«. Früh durch die Presse bekannt gewordene Details des Abkommens zeigen, dass der vorgeschlagene Vierjahresvertrag mehrere weitreichende Konzessionen beinhaltet.

Zu einigen dieser Vertragsdetails dürfte der Gesundheitsfonds VEBA gehören, der sich zu 70 Prozent aus Verpflichtungen speist, die GM für die Gesundheitsversorgung seiner Rentner eingegangen ist; abgesenkte Löhne und Sozialleistungen für Neueinstellungen; ein Lohnstopp für alle auf Stundenbasis Beschäftigten und mehr. (...)

Auftritt: VEBA

Vorschläge vor dem Streik, dass die Kosten für VEBA auf die UAW-Ruheständler umgeschichtet werden könnten und die Gewerkschaft zum alleinigen Investor und Manager eines 35 Milliarden US-Dollar-Fonds würde, passten einer wachsenden Anzahl von UAW-Mitgliedern nicht. Diese Gewerkschafter, die sich aktiv gegen VEBA organisiert hatten, meinen, dass der Streik die Mitglieder vom Widerstand in Bezug auf VEBA abgelenkt habe. »Das ist Akt eins, Szene eins in einem Drama, das aufgeführt wird, um den irreführenden Eindruck zu vermitteln, dass Gettelfinger und Co. wirklich kämpfen und dass der Vertrag, den sie uns bringen, wirklich das ›Beste ist, was sie tun können‹«, sagte Larry Christensen, Chrysler-Beschäftigter im Ruhestand und aktiv bei »Soldiers of Solidarity« (SOS). Christensen meint, standhafte Entschlossenheit in der Ablehnung von VEBA und anderen erwarteten Konzessionen sei entscheidend: »Es könnte einen zweiten Akt geben, wenn die Mitgliedschaft sich entschließt, härter zu bleiben als GM und Gettelfinger zusammen«, sagte er. »Entweder erreichen wir Akt Zwei, oder der Vertrag enthält lauter rote Warnzeichen [für Mitglieder; Anm. Labornotes].«

Die Alarmzeichen begannen für Mitglieder zu blinken, als nur einige Tage vor dem Streik die ehemaligen Vorstandsmitglieder Jerry Tucker, Warren Davis und Paul Schrade einen offenen Brief an UAW-Vorstand Ron Gettelfinger und die Verhandlungsführer in der Tarifauseinandersetzung schrieben. [3] Der Brief warnte, dass Verträge über betriebliche Krankenversicherungen, in denen die Kosten auf Arbeiter abgewälzt würden, nicht nur eine massive Verletzung von Arbeiterrechten darstellen, sondern auch die historischen Ziele der Gewerkschaften und die Orientierung auf soziale Gerechtigkeit beschädigen würden. Dem Brief folgte die intensive mediale Überprüfung eines weiteren, aktienbasierten VEBA-Fonds in der Autoindustrie. Warren Davis kritisierte die UAW für ihre Defizite bei der Vertretung der Interessen der Beschäftigten und sagte darüber hinaus, dass die UAW bewährte Strategien – wie etwa flexible Streiks – ignoriere. Innerhalb von Tagen hatte sich die UAW in eine Sackgasse bewegt.

»Single-Payer-Solution«

Ehemalige UAW-Funktionäre sagen, dass die Einführung von VEBA – statt eines dringend benötigten flächendeckenden Gesundheitssystems – die landesweite Krise des Gesundheitswesens nicht lösen oder die Autobauer retten werde. »Warum hören wir nicht mehr Paukenschläge von den Gewerkschaften, die diese ganze Argumentation sehr schnell kontern könnten, indem sie sagen ›Nein‹, wir gehen diesen Weg«, meinte Jerry Tucker, früheres UAW-Vorstandsmitglied und Mitbegründer des Center of Labor Renewal. »Wir gehen nach Washington, und wir werden den Erlass eines universellen, umfassenden ›Single payer‹-Gesundheits-Plans4 fordern.« Tucker sagte darüber hinaus, dass die Autobauer ihre Unterstützung für ein nationales Gesundheitssystem demonstrieren sollten, wie die Beschäftigten in Kanada dies getan und damit das Problem der »Legacy Costs« der Autobeschäftigten, also der Kosten für die Krankenversicherungsbeiträge und die Pensionsverpflichtungen gelöst hätten.

Automobilarbeiter sind nicht die einzigen, die sich für eine Lösung nach dem Single Payer-Modell organisieren. Das Single Payer Action Network (SPAN) in Ohio begann im Jahr 2000 mit nur sechs Mitgliedern, einen Plan für ein Gesundheitssystem im Bundesstaat Ohio zu diskutieren. Im Jahr 2002, als die Pensionsleistungen von 600000 Stahlarbeitern gestrichen wurden, wuchs die Koalition rasant. Andere Organisationen wie Healthcare Now (Gesundheitsversorgung Jetzt) und Physicians for National Healthcare (Ärzte für ein landesweites Gesundheitssystem) sagen, dass nun die Zeit für ein landesweites Gesundheitssystem gekommen sei und unterstützen den Vorschlag für ein Single Payer-Gesetz, der von dem Kongressabgeordneten John Conyers aus Michigan eingebracht wurde. (H.R. 676)

Opposition wird fortgesetzt

SOS, eine Aktivistengruppe von aktiven und pensionierten Automobilarbeitern, startete eine Kampagne mit dem Titel »Stimm’ mit Nein ab, achte auf die roten Warnzeichen«, in der sie die UAW-Mitglieder vor möglichen Konzessionen warnte. Diese Kampagne hatte in den vergangenen Monaten unter den Beschäftigten in den Betrieben Fahrt aufgenommen. Im Sog des Streiks fuhren SOS-Aktivisten fort, Flugblätter zu verteilen und mit Mitarbeitern über »Rote Warnzeichen« zu sprechen, wie etwa den möglichen Deal ›Bonuszahlungen gegen Einführung eines zweistufigen Lohnsystems‹. »Der Zweistufen-Lohn hielt bei Delphi gerade mal für die Dauer einer Vertragslaufzeit, und mittlerweile sind wir alle Arbeiter zweiter Klasse«, so SOS-Mitbegründer Todd Jordan.

Mitglieder von Allison Transmission in Indianapolis, einem kürzlich verkauften GM-Werk, haben im Betrieb aktiv mobilisiert, indem sie Mitglieder aufforderten, jeden Vertrag, der einen VEBA-Fonds oder Konzessionen seitens der Arbeiter beinhaltet, abzulehnen. »Ich weiß, wo wir herkommen, und ich kann erkennen, wo sie uns hin zu bekommen versuchen, und das ist nicht gut«, sagte Theresa Barber, Beschäftigte bei Allison. »Wenn keiner anfängt aufzustehen, werden wir alle verlieren.«

Zu einer Reihe weiterer organisierter Proteste zählt auch die Demonstration von etwa 1000 UAW-Mitgliedern bei Chrysler, die noch vor dem Streik zum Chrysler-Hauptquartier in Auburn Hills zogen, um ihre Unzufriedenheit mit den Verhandlungen vor Ort zu zeigen, die in Konkurrenz zu den landesweiten Gesprächen liefen.

Obgleich UAW-Funktionäre verlauten ließen, sie seien »voll darauf konzentriert, einen Vertragsentwurf zu erzielen, der die Bedürfnisse unserer aktiven und pensionierten Mitglieder verbindet«, bleibt die Frage offen, ob die Gewerkschaft genug Überzeugungskraft besitzt, um Mitglieder von der Ratifizierung eines Vertrags zu überzeugen.

Doch eines ist sicher, Automobilarbeiter werden auf knallrote Warnzeichen achten.

Aus: Labor Notes, Nr. 343, Oktober 2007

*Tonyia Young hat in der Autoindustrie gearbeitet, ist mittlerweile Administratorin von FactoryRat.com und freischaffende Autorin.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10-11/07


(1) Tarifverhandlungen für die Automobilindustrie wurden üblicherweise in einem der »Big Three«-Unternehmen (GM, Chrysler, Ford) geführt und als Muster auf die anderen Automobilfirmen übertragen.

(2) Bestandteil der Verhandlungen war der Vorschlag, dass die Gewerkschaft mit der Einführung dieses unternehmensbezogenen Gesundheitsfonds ab 2010 auch dessen Verwaltung übernehmen sollte. GM hatte vor Abschluss des Vertrages widersprüchliche Angaben darüber gemacht, wie hoch der Anteil der GM-Beiträge zu dem Fonds ausfallen werde – die Angaben lagen zwischen 50 und unter 30 Mrd. Dollar. Unklar ist darüber hinaus bis heute, was im Falle eines Bankrotts mit den Verpflichtungen von GM passiert

(3) Siehe http://labornotes.org/node/1326 externer Link


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