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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Amnesty international spricht von "Justizparodie" Tunesien, Massenprozess in Gafsa (Fortsetzung) : Amnesty international spricht von "Justizparodie". Unterdessen droht, am heutigen Tag oder morgen früh, die Abschiebung eines Teilnehmers an der Solidarität aus Frankreich - in Richtung Gafsa - ,Urgent Action' möglich! (Angaben inklusive Kontakt am Schluss des Artikels). Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat die tunesischen Behörden dazu aufgefordert, unverzüglich und ohne Vorbedingungen alle verurteilten Angeklagten aus dem Massenprozess gegen Protestteilnehmer/innen im tunesischen Gafsa freizulassen. "Das Urteil und die verhängten Strafen treten die justice (Anm.: im Französischen und Englischen doppeldeutig, da sowohl <Justiz> als auch <Gerechtigkeit> bedeutend) mit Füßen. Sie dürfen nicht aufrecht erhalten werden", erklärte dazu Hassiba Hadj Sahraoui - die stellvertretende Direktorin des "Programms Mittlere Osten und Nordafrika" bei Amnesty international. Und sie fügte hinzu: "Die tunesischen Behörden müssen sofort/unverzüglich aufhören, sozialen Protest als einen Straftatbestand zu betrachten. Statt friedliche Demonstranten und Gewerkschafter(innen) vor Gericht zu stellen, müssen sie eher die Foltervorwürfe, die gegen sie gerichtet sind, untersuchen." Ferner erklärte sie: "Dieser Prozess wirft einmal mehr Fragen nach der Unabhängigkeit der Judikative in Tunesien auf, und er zeigt die Entschlossenheit der Behörden, alle unabhängigen Stimmen im Land zu ersticken." Amnesty International erklärte sich "besorgt über die gravierenden Verletzungen internationaler Normen, die anlässlich dieses Prozesses begangen worden sind. Insbesondere konnte die Anwälte/Anwältinnen nicht für ihre Klienten plädieren; die Angeklagten wurden vor dem Gericht nicht befragt; und Letzteres hat die Anträge der Anwälte/Anwältinnen auf eine medizinische Untersuchung, um eventuelle Spuren von Folter festzustellen und Zeugen zwecks Befragung vorzuladen, abgewiesen." (Erklärung vom 12. Dezember 2008 ) Am 13. Dezember reagierte auch die "Beobachtungsstelle für den Schutz der Verteidiger der Menschenrechte" (Observatoire pour la protection des défenseurs des droits de l'Homme), ein gemeinsames Programm des Internationalen Verbands der Menschenrechtsvereinigungen (französ. FIDH) und der Weltorganisation gegen die Folter (französ. OMCT), auf den Prozess von Gafsa. Inter der Überschrift "Ein Urteil ohne Prozess" erklärte die Organisation, sie "verurteile entschiede die Prozessparodie in der Affäre der <38 von Gafsa>". Dort heißt es u.a. : "Dieser Prozess (.) hat den Respekt des Rechts auf Verteidigung vor Gericht eingespart. Das Urteil wurde gefällt, ohne dass die Verteidigung plädiert hätte und ohne Befragung der Angeklagten. Der Vorsitzende der Strafkammer des Gerichts hat es abgelehnt, die Zeugen der Verteidigung vorzuladen, den Angeklagten die durch die Polizei angeblich beschlagnahmten Beweisstücke vorzulegen, und eine medizinische Untersuchung anzuordnen, welche die Folter der Angeklagten hätte beweisen können. Die Anwälte/Anwältinnen der Verteidigung haben die Entscheidung angefochten und die Anhörung der Angeklagten abgelehnt, solange diese Vorabfragen nicht in der Verhandlung debattiert wurden. Die Verhandlung wurde gegen 11.30 (ANM. : am Donnerstag, 11. Dezember) unterbrochen. Gegen 19.15 Uhr umstellte eine große Zahl von Polizisten den Justizpalast und drang in ihn ein. Um 22.30 Uhr nahmen, nach fast zwölfstündiger Unterbrechung, drei Richter von fünfen ihre Platz im Verhandlungssaal wieder ein. Nachdem er während des Vorlesen des Urteilsspruchs unterbrochen worden war, forderte der Vorsitzende Richter die Anwälte dazu auf, ihn beim Gerichtsdiener einzusehen. Der Rechtsanwalt Antoine Aussedat, der mit einem Mandat der Beobachtungsstelle und des Euro-mediterranne Netzwerks für Menschenrechte sowie der Pariser Anwaltskammer ausgestattet war, hat als Prozessbeobachter die Verhandlungen verfolgt. Im Anschluss daran erklärte er: <Es wäre lächerlich und unanständig, das Wort ,justice' (Justiz/Gerechtigkeit) zu benutzen, selbst im Zusammenhang mit dem Doppelwort ,Justizparodie', um die Verhandlung vom 11. Dezember 2008 zu bezeichnen.> Die Beobachtungsstelle erklärt ihre schwere Besorgnis infolge der Verurteilungen und ist der Auffassung, dass sie ausschließlich darauf abzielen, die Versammlungsfreiheit und die Verteidigung der Menschenrechte durch die Anführer der Bewegung von Gafsa zu bestrafen." (Vgl. die Erklärung unter http://www.fidh.org/spip.php?rubrique1 ) Das "Komitee für Respekt der Grund- und Menschenrechte in Tunesien" (CRLDH Tunisie, Comité pour le Respect des Libertés et des Droits de l'homme en Tunisie), Mitgliedsorganisation des Euro-mediterrannen Netzwerks für Menschenrechte, spricht seinerseits in einer Erklärung von einem "Scheinprozess". Es erklärt dazu: "Am Donnerstag, 11. Dezember kurz vor 23 Uhr hat der (Anm. : vorsitzende) Richter eilig den Prozess gegen die Anführer der sozialen Bewegung im Bergbaubecken vor dem Amtsgericht von Gafsa abgeschlossen, kurz nachdem er die Verhandlung, die gegen Mittag unterbrochen worden war, wieder aufgenommen hatte. Er verkündete, dass die Strafmaße beschlossen worden seien, und schloss umgehend die Verhandlung, ohne die (einzelnen) Strafen bekannt zu geben, inmitten eines Polizeispaliers, das einerseits die Richter von den Angeklagten trennte, andererseits die Angeklagten von den rund sechzig Anwälten/Anwältinnen aus dem ganzen Land, die dem Prozess beiwohnten. <Wir konnten den Richter kaum sehen> erklärt als Augenzeuge der Vorsitzende der Tunesischen Liga für Menschenrechte und Anwalt im Prozess, Mokhtar Trifi. Die beschlossenen Strafen, die durch den Vorsitzenden der Anwaltskammer beim Sekretariat des Gerichts eingesehen wurden, lauten:
Innerhalb von zehn Tagen werden die Anwälte Berufung einlegen. So endete also, am 11. Dezember in Tunesien vor dem Amtsgericht von Gafsa, in einem eilig abgeschlossenen Scheinprozess, der nicht einmal den elementarsten Rechtsregeln genügt, der zweite und letzte Verhandlungstag - der so lange erwartet worden - gegen die Anführer der wichtigsten und längstdauernden sozialen Bewegung, die Tunesien seit dem Amtsantritt von Präsident Ben Ali (ANMERKUNG: am 07. November 1987) erlebt hat." Das CRLDHT "beklagt diese Justizparodie und ruft dazu, die Solidarität mit der Bevölkerung von Redeyef (Anmerkung: jene Stadt im Bergbaubecken von Gafsa, die das Epizentrum des sozialen Aufruhrs im ersten Halbjahr 2008 bildete) und mit den verurteilten Anführern der sozialen Bewegung im Bergbaubecken auszuweiten." Insgesamt drei Solidaritätsdelegationen aus Frankreich waren Ende November und Anfang Dezember nach Tunesien gereist, eine hatte auch zum Prozess Beobachter/innen entsandt. Die zahlenmäßig wichtigste Delegationsreise fand vom 26. bis 28. November dieses Jahres statt und konnte sogar bis nach Redeyef - eine Stadt unter polizeilicher Belagerung, wohin sogar die Rechtsanwältinnen und Anwälte der Angeklagten nur schwer reisen können - vorstoßen. An ihr haben u.a. die (am vergangenen Wochenende wiedergewählte) KP-Vorsitzende Marie-George Buffet, die Sprecherin der französischen Grünen Cécile Duflot, der - vom Vatikan geschasste und gemobbte - progressive Bischof Monseigneur Gaillot, die anti-neoliberale frühere Pariser Vizebürgermeisterin Clémentine Autain, der ATTAC-Vertreter Robert Bret und die Vertreterin der linken Richter/innen/gewerkschaft SM (Syndicat de la Magristrature ) Hélène Franco teilgenommen. Sie trafen auch mit den Familien der Angeklagten von Redeyef, ihre Anwälten und Anwältinnen sowie mit "Vertretern der Zivilgesellschaft Tunesiens" am Sitze der Tunesischen Menschenrechtsliga in der Hauptstadt Tunis zusammen. Neue Verhaftungswelle in Gafsa Am Tag, der auf die Prozessparodie von Gafsa folgte, also am vergangenen Freitag, fand jedoch in Redeyef eine Welle neuer Verhaftungen statt. Am Abend gegen 20.30 Uhr kam es zu Zusammenstößen zwischen den zusammengezogenen starken Polizeikräften und der örtlichen Jugend im Stadtviertel Houmet Essouk, später auch im Stadtteil Annezla und schließlich in der ganzen Stadt. Zwischen 2.30 Und 4 Uhr früh nahmen die Polizeikräfte zahlreiche Verhaftungen vor, drangen in Wohnungen ein und schlugen Türen kaputt. Die letzten Informationen vom Wochenende sprachen von 23 Verhafteten, unter ihnen besonders viele Jugendliche, die erst vor kurzem - nach ihrer Teilnahme an den Protesten im ersten Halbjahr 2008 - wieder aus der (Untersuchungs-)Haft freigelassen worden waren, sowie unter den Angehörigen der Verurteilten des Gafsa-Prozesses. So wurden zwei Brüder von Sami Ben Ahmed (Sami Amaïdi), der in Gafsa zu sechs Jahren Haft verurteilt worden ist, in ihrer Wohnung festgenommen. Drohende Abschiebung aus Frankreich in Richtung Gafsa Unterdessen droht am heutigen Dienstag oder am Mittwoch Vormittag eine Abschiebung aus Frankreich nach Tunesien, in die Region Gafsa. Aus dem westfranzösischen Nantes - wo besonders viele Einwanderer just aus dieser tunesischen Region leben, und wo die Solidaritätsbewegung im Frühjahr 2008 besonders stark war - soll der als Sans papiers ("illegalisierter" Einwanderer) in Frankreich lebende, 31jährige Hafnaoui Chnaiti nach Tunesien abgeschoben werden. Am heutigen Tage wurde er in einen Zug von Nantes nach Paris gesetzt und mutmaßlich in die Abschiebehaftanstalt im nordwestfranzösischen Rennes transportiert - um Vorbereitungen für seine Abschiebung zu treffen. Derzeit wird damit gerechnet, dass ein Versuch zu seiner Abschiebung am Mittwoch Vormittag erfolgen soll. Hafnaoui Chnaiti stammt aus Redeyef und war aktiv am Solidaritätskollektiv für die soziale Protestbewegung im Bergbaubecken von Gafsa beteiligt gewesen. Einer seiner Brüder zählt zu den jüngst in Gafsa Verurteilten. In den letzten Wochen und Monaten häufen sich die Personenkontrollen, um "illegale" Zuwanderer aufzuspüren, auch in Nantes. Bei einer von ihnen war der junge Mann am 30. November festgenommen worden. Bis dahin lebte er mit einer Französin zusammen, die im kommenden Monat ein Kind von ihm erwartet. Die FTCR (französisch-tunesische "Verteinigung für Bürgerrechte auf beiden Ufern" des Mittelmeers) und die Antirassismusbewegung MRAP reagierten am Dienstag auf die drohende Abschiebung von Hafnaoui Chnaiti. Sie appellierten an den französischen Minister "für Einwanderung, Integration, nationale Identität und Entwicklungszusammenarbeit" Brice Hortefeux, seine Abschiebung in Richtung Tunesien dürfe nicht stattfinden. Die FTCR publizierte eine Kommuniqué dazu, der MRAP schrieb einen Offenen Brief an den zuständigen Minister. Da es für ihn nun "höchste Zeit" ist, um seine drohende Abschiebung nach Tunesien eventuell noch verhindern zu können, und Protest dringend erforderlich ist, hier noch die Angaben zu KONTAKTMÖGLICHKEITEN ZUM VERANTWORTLICHEN MINISTERIUM IN PARIS:
Artikel von Bernard Schmid vom 16.12.08 |