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Updated: 18.12.2012 15:51
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"Unsere Arbeiterklasse arbeitet informell - und so organisiert sie sich auch"

In Indien gibt es mehr ArbeiterInnen, als Europa Einwohner hat - und über 90 Prozent von ihnen arbeiten "informell", zudem ein beständig wachsender Anteil. Die - oft auf Tagelöhnerbasis beschäftigten - Männer der zivilen Bauindustrie waren die ersten, die eigene Organisationsformen entwickelten, aber auch StraßenhändlerInnen, Fischer, Hausangestellte, TextilarbeiterInnen haben solche Formen, oft spontan, oft unter politischem Einfluss, selten mit gewerkschaftlicher Beteiligung.

Schätzungen - und mehr als Schätzungen werden es niemals sein - gehen davon aus, dass in Indien rund 360 Millionen Menschen ohne Tarife, rechtliche Bindungen, klare Verhältnisse arbeiten. Nach kapitalistischer Logik - die Arbeitskraft ist flexibel, Sozialbeiträge und Kündigungsschutz weitgehend nicht vorhanden - müsste Indien ein blühendes Land sein. Und wer jetzt denkt, na ja, das ist wie in vielen Ländern so - "auf dem Land" halt, der hat höchstens teilweise recht: 66.7 Prozent aller Arbeitsverhältnisse in der Hauptstadt Delhi und gar 68 Prozent in der reichen Wirtschaftsmetropole Bombay sind informell, prekär, oder wie auch immer die Bezeichnung lauten mag, die so oft Deckungsgleich ist. Tagelöhner, Zeitarbeit und "Selbstständigkeit" sind die drei wesentlichen Formen der informellen Arbeit in Indien. Insgesamt gibt es 2004 rund 11 Millionen Arbeitsplätze im "formalen" Sektor, von denen etwa ein Drittel gewerkschaftlich organisiert ist. Diese 11 Millionen bedeuten, dass seit 1995 beinahe anderthalb Millionen formale Arbeitsplätze wegrationalisiert wurden. Der informelle Sektor ist also nicht nur fast alles, sondern wächst: "Unsere Arbeiterklasse arbeitet informell - und so organisiert sie sich auch" - sagte dementsprechend ein Vertreter des weiter unten skizzierten New Labour Centre beim Weltsozialforum in Porto Alegre 2005.

Dass dieser Sektor noch wächst zeigt - beispielsweise - eine Untersuchung des Gewerkschaftsbundes CITU für das Wirtschaftszentrum Ahmedabad, wonach der "informelle" Anteil in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts rund 50 Prozent betrug und 2001 bei etwa 80 Prozent angelangt war - mit entsprechendem Wachstum der Slums - und deren weiteren Verschlechterung (etwa Wachstum des Anteils von Blechhütten und ohne Wasser).

Was diese schnöden Zahlen bedeuten, im Leben bedeuten, wird ansatzweise deutlich in einem Gespräch mit Bal Pavar, Textilarbeiter und Gewerkschaftsfunktionär aus Bombay "Sieh nur, was der Kapitalismus aus Bombay gemacht hat, was er aus uns gemacht hat", über die Entwicklung Bombays zur mondänen Wirtschaftsmetropole - und die Entwicklung des "industriellen Herzens" Indiens in 150 Jahren.

Das indische Silicon Valley - ist wie das kalifornische...

Bangalore ist im letzten Jahrzehnt als das "indische Silicon Valley" berühmt, bei jenen, deren Firma dahin gewandert ist, auch berüchtigt geworden. Und ist in der Tat ein Beispiel dafür, dass der globalisierte Kapitalismus längst nicht mehr nur billige Massenproduktion, wie einst die einfache Textilindustrie, in Länder auslagert wo die Marktwirtschaft funktioniert, wie sie muß: menschenverschlingend.

Über Bangalore und den Bundesstaat Karnataka hat Supriya Roy Chowdhury Ende 2003 die Studie "Old Classes and New Spaces" publiziert, die im Untertitel "Städtische Armut, unorganisierte ArbeiterInnen und neue Gewerkschaften" heisst und der am 13.Dezember 2003 in der Zeitschrift "Economical and Political Weekly" erschien. Seiner Analyse zufolge - die vom registrierten Wachstum der Slums in Bangalore ausgeht (444 Slums im Jahre 1991 mit rund 1,12 Millionen Menschen, 763 Slums im Jahre 1999 mit 2,2 Millionen, etwa 20 Prozent der Bevölkerung der 11 Millionenstadt) - ist in der Stadt Indiens, in der seit Beginn der neoliberalen Reformen Anfang der 90er Jahre, der Reichtum so stark anwuchs, wie in keiner anderen, auch die Armut entsprechend angestiegen. Wobei er in seiner Analyse die "Selbstständigen" aussen vor lässt und sich ausschliesslich der Vertrags- und Zeitarbeit widmet, die in den grossen Elektronikfirmen Bangalores etwa 10 Prozent der Belegschaft ausmacht (in anderen Branchen durchaus mehr) und in der Regel unorganisiert ist oder in eigenen Gewerkschaften, deren Anliegen wiederum höchstens in Worten von den Gewerkschaften der Festangestellten mitforciert würden. Sofortige Kündbarkeit macht alleine schon den Schritt, in eine Gewerkschaft einzutreten zu einer Gefahr für den Job. Er führt im folgenden sowohl eine Reihe grösserer Firmen als auch Industriegebiete für Klein- und Mittelbetriebe an, in denen Hunderttausende informell arbeiten - bei je etwa 3.000 Betrieben mit durchschnittlich 6-8 Beschäftigten. Wobei die Mindestlöhne von etwa 1400 Rupien, die in diesen Zonen für ungelernte Arbeit bezahlt werden, etwa ein Drittel des vom Obersten Gericht Indiens festgelegten Mindestlohns sind. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre haben in diesen "Zonen" rund ein Drittel aller Firmen geschlossen.

Neue Ansätze: New Labour Centre

Das New Labour Centre ist - im wesentlichen - eine Initiative der (seit neuestem) im NTUI locker zusammengeschlossenen unabhängigen linken Gewerkschaften (die also keinem der traditionell Parteien nahestehenden sechs grossen Verbände angehören). Von den traditionellen Verbänden ist der der KP Indiens nahestehende CITU im NLC insofern stark vertreten, als dieser Gewerkschaftsbund eine ganze Reihe von Gewerkschaften von prekär Beschäftigten aus Grossbetrieben umfasst.

Das NLC, mit rund 625.000 Mitgliedern in 10 indischen Bundesstaaten in der indischen Gewerkschaftslandschaft durchaus schon nicht mehr klein, hat in Bangalore seinen Einfluss ausgebaut im wesentlichen durch eine eigenes gegründete Vereinigung der Slumbewohner. Die Gründe dafür sind zweierlei: Zum erstens, wie bereits in der knappen Zusammenfassung von Chowdhurys Artikel angedeutet, ist es schwer diese "informellen" in Betrieben, ob gross oder klein überhaupt zu organisieren. Zum zweiten und vor allem aber: Logischerweise - und das haben sie mit Europäern in derselben Situatiuon gemeinsam - fühlen sie sich nicht als Beschäftigte dieses oder jenes Betriebes, schon da sie oft wechseln, auch immer wieder in die Erwerbslosigkeit. Sie organisieren sich in der Regel selbst, um ihre Interessen als Menschen, die im Slum wohnen, durchzusetzen: a) die Anerkennung des Slums durch die Stadtverwaltung und b) die daraufhin erst mögliche Versorgung mit der städtischen Infrastruktur, durchaus keine indische Besonderheit.

Die indische Besonderheit ist eben, dass es landesweit eine gewerkschaftliche Organisation gibt, die sich solcher Probleme annimmt - und oft genug, nach erfolgreichen Aktivitäten auch solch "profane" Wünsche wie mehr Lohn in Angriff nimmt, aber längst schon nicht mehr als Fremdkörper, der eine Offerte macht. Das entsteht aus Kampfformen, die eben keine traditionellen gewerkschaftlichen sind, wie Streiks etc, sondern mehr jenen sozialer Bewegungen (nicht zu verwechseln mit NGO) entsprechen: Demonstrationen, Sit-Ins, Besetzungen, Freiluftversammlungen, Straßenblockaden.

In der grössten Industriezone Bangalores hat das NLC, gestützt auf die organisierten SlumbewohnerInnen, die dort arbeiten, eine bisher (teilweise) erfolgreiche Kampagne gestartet für die Einrichtung eines überbetrieblichen Fonds (auf Betriebskosten) zum Zweck der Sozialversicherung (im konkreten: Krankenversicherung) der Beschäftigten, den es für einige Tausend Menschen inzwischen real gibt - und als Gesetzesprojekt für alle, aber darauf mag man nicht vertrauen.

Was in der Regel auch dazu führt, dass Initiativen wie das New Labour Centre nicht nur von Gewerkschaften, sondern auch von der traditionellen Linken im besten Falle freundlich distanziert behandelt werden - im schlechtesten Fall (der Traditionalisten) schon auch mal als Lumpenproletarier verleumdet werden - keineswegs nur in Indien.

Befasst sich etwa Chowdhurys Analyse ausdrücklich nicht mit "Selbstständigen", heisst dies beileibe nicht, dass nicht eine enorme Zahl von Menschen ihr Leben durch solche Bedingungen geprägt sieht. In der Studie "HAWKERS AND THE URBAN INFORMAL SECTOR: A STUDY OF STREET VENDING IN SEVEN CITIES" externer Link von Sharit K. Bhowmik von der "National Alliance of Street Vendors of India" beim internationalen Portal "Streetnet" etwa wird eingangs festgehalten, dass die StrassenhändlerInnen Indiens zuvor im wesentlichen zweierlei Beschäftigungen hatten: Entweder sie waren LandarbeiterInnen ohne eigenes Land und kamen im Zuge der "Landflucht" in die grossen Städte, oder sie waren eben ArbeiterInnen - in Bombay (ca 200.000 StrassenhändlerInnen) und Ahmedabad (rund 80.000) vor allem TextilarbeiterInnen, in Calcutta (etwa 100.000) in der Metallverarbeitung. Für die Volkswirtschaft ist der Studie zufolge von Bedeutung, dass diese HändlerInnen natürlich vor allem die Produkte kleiner oder handwerklicher Betriebe verkaufen, die ihrerseits viele Menschen (informell) beschäftigen.

StrassenhändlerIn zu sein ist einer der gefährlichsten Berufe: Einerseits ständig in Gefahr beraubt zu werden, andrerseits stets medial und von der Kommunalpolitik (und guten Teilen der Öffentlichkeit) selbst in die Nähe der Kriminalität gerückt (ebenfalls keineswegs nur in Indien).

Die Horronacht von Calcutta - Strassenhändlerjagd

In der Regel sind es kommunale oder bundesstaatliche Gesetze oder Vorschriften, die den Straßenhandel strukturieren. In Calcutta wurde 1980 ein Gesetz erlassen, das den Strassenhandel prinzipiell verbot. Die Auseinandersetzungen (etwa: die Strasse darf nicht benutzt werden, um Waren auszustellen - also bauten sie Bretter auf Abfallkörbe) zogen sich fast anderthalb Jahrzehnte hin, bis die (linke) Bundesstaats-Administration 1996 die "Operation Sunshine" organisierte: In einer Nacht sollten alle (damals rund 100.000) StrassenhändlerInnen aus der Stadt verjagt werden und alle ihre Waren beschlagnahmt - die grösste Polizeiaktion der indischen Geschichte. Die Verjagten gaben aber nicht auf und bildeten das "Hawkers’ Sangram Committee" - ein Zusammenschluß aus Kooperativen, gewerkschaftsähnlichen Gruppen und anderen Schöpfungen der StrassenhändlerInnen, das für eine (bald darauf erfolgte) offizielle Wiederzulassung kämpfte - und zu einer Art Vorbild für viele ähnliche Komitees quer durchs Land wurde.

Die Studie ergab, dass im Zuge vieler Entlassungen durch neoliberale Reformen die Erwerbslosen auf den "Markt" kamen - und die Anzahl der Frauen auf rund ein Drittel zurück ging - ebenso viele, wie es Menschen darunter gibt, die eine höhere Schulbildung haben. Dennoch: Es waren die Strassenhändlerinnen von Ahmedabad, die eine eigene Gewerkschaft - SEWA - gründeten, die erfolgreich gegen die Verfolgung (und Korruption) der Stadtverwaltung Front machte - auf ihre Initiative hin entstand später das nationale Netzwerk der StrassenhändlerInnen und auch das internationale "Streetnet".

In Bombay waren rund drei Viertel der in bestimmten Zonen der Innenstadt befragten Strassenhändlerinnen vorher in Baumwollspinnereien und -verarbeitung beschäftigt und verloren ihren (formalen) Arbeitsplatz mit der Schliessung der Betriebe, ähnliche Zahlenverhältnisse gelten auch für Ahmedabad.


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