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Updated: 18.12.2012 15:51
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Delhi Calling

In deutschen Arbeitsämtern lassen sich durchaus Hochlohn-Jobs finden, in der indischen Marktforschung zum Beispiel. Anderthalb Euro Stundenlohn sind dort viel Geld. Nach einem telefonischen Vorstellungsgespräch kann man wenig später von Indien aus Unternehmen in Deutschland anrufen und sie zu ihren jeweiligen Zukunftsmärkten ausfragen. Folgender Text wurde nach einem dreimonatigen Job als Call Centre Agent in Gurgaon, einem boomenden Aussenbezirk von New Delhi geschrieben. Er geht kurz auf den marginalen Trend ausländischer Beschäftigung in indischen Call Centren ein, beschreibt den Arbeitsalltag. Hauptaugenmerk liegt auf der Zusammensetzung der Industrieregion Gurgaon, wo tausende Call Centre-ArbeiterInnen in unmittelbarer Nähe zu Auto- und Textilfabriken Nachtschichten fahren. Es folgen fünf Interviews mit jungen InderInnen, die bei Citibank, HP und anderen Multis die ausgelagerte Telefonarbeit machen und eine Einschätzung einer Flugblattaktion vor Call Centern in Gurgaon und Delhi. Eine englische Uebersetzung findet ihr auf: www.prol-position.net externer Link

Beschäftigung ausländischer Call Center ArbeiterInnen in Indien

Im Vergleich zu den tausenden Call Center Jobs, die nach Indien ausgelagert wurden ziehen nur wenige ausländische Beschäftigte diesen Arbeitsplätzen hinterher. Es sind vor allem StudentInnen und RucksacktouristInnen mit Rollkoffern, die Jobs in indischen Call Centern annehmen. Sie tun dies, weil sich ein sechsmonatiges Praktikum oder eine einjährige Arbeitserfahrung im indischen Boomsektor gut im Lebenslauf macht, oder weil sie eh mal nach Indien wollten und sich das Geld für den Rückflug auch vor Ort verdienen können. Die Medien stürzen sich gern auf die paar hundert "modernen ArbeitsmigrantInnen", auf die armen deutschen AkademikerInnen, die HartzIV entfliehen wollen und die französischen PraktikantInnen, die sich anstatt gegen Arbeitsrechtreformen zu protestieren auf den globalen Arbeitsmarkt begeben. In England scheint die Anzahl von ausländischen BewerberInnen immerhin gross genug, um eigens auf indische Call Center ausgerichtete private Arbeitsagenturen einzurichten. In Deutschland verlässt man sich noch auf das Arbeitsamt und dessen Stellenangebote. Die in Gurgaon/New Delhi ansässige Marktforschungsfirma Evalueserve sucht Leute mit Call Center Erfahrungen und guten Englischkenntnissen. Die Arbeitsbedingungen werden laut Stellenanzeige wie folgt angegeben: fünf Tage-Woche, tägliche Arbeitszeit zehn Stunden, ein Gehalt von 27.000 Rupies (bei Kurs von 1:53 rund 500 Euro, mehr zu Löhnen und Lohnvergleichen später), ein geteiltes Zimmer in einer Unternehmenswohnung, für das 5.000 Rupies Miete zu zahlen sind, nach zehnmonatigem Arbeitseinsatz zahlt das Unternehmen ein Hin-und Rückflug-Ticket nach Deutschland. Alle zu Arbeitsbeginn anfallenden Kosten (Hinflug, Visum etc.) muss der Bewerber selbst übernehmen. Auf eine elektronische Bewerbung hin folgen zwei Telefonate und ein Arbeitsvertrag als PDF-Datei mit Einladung zum Arbeitsbeginn für Ende des folgenden Monats.

Das Unternehmen

Evalueserve ist ein relativ neues Unternehmen mit insgesamt rund 1.000 Beschäftigten, davon sind rund 800 auf die zwei Center in Gurgaon verteilt und 200 arbeiten am Standort in Shanghai, China. Rund 80 der 800 in Indien beschäftigten ArbeiterInnen kommen aus dem Ausland. Evalueserve beschreibt sich selbst als ein Unternehmen des "Knowledge Process Outsourcing"-Sektors. Das Unternehmen bietet vor allem Firmen in der USA und in Europa individuell zugeschnittene Investment-Studien, Patent-Forschung, Marktanalysen und ähnliches an. Evalueserve hat Studien für Unternehmen in 192 Ländern durchgeführt, auf verschiedensten Sprachen. Das Unternehmen sagt, dass in der "Research Unit" tatsächlich akademische Arbeit geleistet wird, Patentforschung und so weiter. Ich habe dort nur zwei mal ausgeholfen, einmal musste ich die Zutaten von organischen Shampoos googeln und später die betreffenden Unternehmen anrufen und sie nach Marktanteilen fragen. Das andere mal ging es Privatisierung von öffentlichen Wohnungen und deren Instandhaltung. Ein privater Investmentfond möchte Staatswohnungen in Russland aufkaufen und will Informationen über ähnliche Vorgänge in Deutschland. Beide Projekte wurden als wichtige Untersuchungsarbeiten behandelt, im Grunde verlangten sie aber nicht mehr als Querlesevermögen, Google-Festigkeit und die Copy-Paste-Funktion. Meine eigentliche Arbeit läuft aber im Call Center, wobei das Call Center "Primary Source Research Center" genannt wird. Die meisten jungen Leute, die dort mehr oder weniger stupide telefonische Marktforschungstätigkeiten betreiben, wollen mit Call Centern nichts mehr am Hut haben.

Die ausländischen ArbeiterInnen

Fast alle ausländischen ArbeiterInnen sind StudentInnen (internationales Recht, Wirtschaft, Management) auf Praktika. Sie bekommen rund 5.000 Rupies weniger als die Beschäftigten mit normalem Arbeitsvertrag. Das Unternehmen nutzt die StudentInnen für alle möglichen Aufgaben, die meisten von ihnen müssen mindestens zwei Monate im Call Center arbeiten, einige können danach in die Research Unit wechseln, dort googeln und Übersetzungen machen, andere machen das Management für die ausländischen Arbeitskräfte, d.h. sie rufen Botschaften an, helfen bei Visa-Fragen, führen Vorstellungsgespräche durch, kümmern sich um die Unterbringung, funktionieren als Kummerkasten. Dies gilt als privilegierte Position, die Betriebsführung bekommt motivierte junge ManagerInnen. Die StudentInnen/ArbeiterInnen kommen aus verschiedenen Ländern, u.a. Tschechische Republik, Russland, Süd Korea, Singapur, Chile, Frankreich, Türkei, Italien, England. Da die StudentInnen nur eine relativ kurze Zeit im Call Center bleiben und sich schneller über die dortige Langeweile beschweren, fing Evalueserve an, ehemalige Call Center-ArbeiterInnen speziell für diesen Job zu suchen. Als ich dort anfing war nur eine andere Frau als "normale Arbeiterin" eingestellt, aber sie wechselte später aufgrund ihres akademischen Hintergrunds in die Personalabteilung. Die jungen ManagerInnen klagen wie ostdeutsche Spargelbauern, dass die Rekrutierung von nicht-studentischer Arbeitskraft für diese Art von Job ein schwieriges Unterfangen sei. Alle ausländischen Beschäftigten sind in vom Unternehmen organisierten Wohnungen untergebracht. Sechs Leute teilen sich eine für indische Verhältnisse luxuriöse, für europäischen Standart bescheidene Drei-Zimmer-Wohnung. Es gibt Probleme wegen Parties und die StudentInnen beschweren sich hin und wieder über den Wohnkomfort. Die daraufhin einberufenen Gruppentreffen sind Trainingsmöglichkeiten für die angehenden Personalleiter und Testfall für die allgemeinen diplomatischen Fähigkeiten der jungen AkademikerInnen. Der deutsche Personalleiter regt zur Argumentation und Verhandlung mit der indischen Management-Vertretung an. Einige StudentInnen beschweren sich über die Langeweile des Jobs und enttäuschte akademische Erwartungen. Für andere reicht die Herausforderung, in Indien zu sein, auch wenn die sicheren Pfade der Call Center Welt, Shopping Malls und Sehenswürdigkeiten selten verlassen werden. Die Mischung aus Rucksacktouristen-Feeling, offizieller und sehr formal-bürokratischer indischer Bürowelt, Big-Brother-Haus, Kulturschock, Kolonialisten-Status und Improvisation scheint gute Schule für zukünftiges flexibles-globales Management. Ein weiteres Beispiel, wie das Unternehmen die akademischen Ambitionen und interne Konkurrenz zwischen den StudentInnen für sich nutzbar macht: Evalueserve möchte ein weiteres Call Center in Lateinamerika aufmachen und vergibt an einige StudentInnen den Auftrag, eine Art Investitions-Studie zu Brasilien, Argentinien, Mexico und der Domenikanischen Republik zu verfassen und als VerteidigerInnen ihrer jeweiligen Investitionsregion aufzutreten. Eine weitere und begehrtere Aufgabe der ausländischen Arbeitskraft besteht in Übersetzungsarbeiten. So hat zum Beispiel das deutsche Maschinenbauunternehmen Liebherr Evalueserve ein Dokument zur Übersetzung in Auftrag gegeben, das Qualitätsvorschriften für die indischen Zulieferbetriebe festschreibt. Für die aufgrund von technischen Details anspruchsvolle Übersetzungsarbeit hätte ein Übersetzer in Deutschland sicherlich 80 bis 100 Euro Stundenlohn raushauen können, in Indien wird es für 1,70 Euro die Stunde übersetzt. Bedenklicher noch der Übersetzungsauftrag des benachbarten Deutsche Bank Call Centers: die ausländischen Evalueserve-Beschäftigten sind angehalten, private E-Mails zu übersetzen, die von ausländischen Deutsche Bank-ArbeiterInnen über ihre Firmenaccounts abgeschickt werden. Gerechtfertigt wird dies durch die aktuellen Datenschutzskandale: indische Call Center-ArbeiterInnen haben angeblich US-Amerikanische Bankkundendaten an Dritte weitergereicht. Nur wenige Leute bei Evalueserve verweigern diesen Job, die meisten übersetzen tatsächlich Liebesbriefe, Urlaubsgrüsse und andere private Post.

Die indischen ArbeiterInnen

Alle indischen ArbeiterInnen haben Abitur, die meisten haben ein Studium angefangen oder beendet, sie sind meist Anfang bis Ende zwanzig und die Hälfte von ihnen sind Männer. Fast alle von ihnen haben zuvor in einem der benachbarten Call Center gearbeitet, sie sehen den Job bei Evalueserve als das bessere Ende der Fahnenstange, sowohl was Löhne, als auch Stresslevel angeht. Die meisten mussten im vorherigen Arbeitsleben Kredite, Handyverträge oder ähnliches an englische oder amerikanische Haushalte verticken, im Kontrast dazu scheinen absurde bis sinnlose Telefoninterviews eine Erleichterung. Einige wollen ihr Studium fortführen, aber die wenigsten haben die Zeit dafür. Die meisten kommen aus anderen indischen Staaten, sie sprechen also neben Englisch und Hindi meist noch eine andere Sprache, z.B. Bengali, Tamil, Mayalayam. Einige haben zusätzliche europäische Sprachen gelernt, sie erwarten sich davon bessere und sicherere Arbeitsmöglichkeiten. Abgesehen von Englisch telefonieren indische ArbeiterInnen in Französisch, Deutsch, Italienisch, Portugiesisch, Spanisch, auch wenn die meisten von ihnen nie in Europa oder den ehemaligen Sprachkolonien waren. Wenn Ausland, dann England oder US-Amerika. Sprachkurse sind teuer. Wenn in Indien nur die Mittelklasse Englisch spricht, dann kann sich nur die obere Mittelklasse weitere Sprachkurse leisten. Mittelklasse in Indien kann heissen, dass Leute mit Landbesitz genug Geld zusammenkratzen können, um einem der Kinder eine akademische Ausbildung zu bezahlen, es kann heissen, dass man zur neuen urbanen Mittelschicht gehört, oder dass man einen Job im öffentlichen Dienst hat, der zwar schlechter bezahlt ist, aber den Zugang zur Universität erleichtert. Abhängig von Betriebszugehörigkeit, Arbeitserfahrung und sprachlicher Qualifikation verdienen die indischen ArbeiterInnen bei Evalueserve zwischen 12.000 und 25.000 Rupies, ein Team- oder Projektmanager kann mit bis zu 50.000 Rupies rechnen. Das Reinigungs- und Kantinenpersonal, die meisten von ihnen aus Bengalen oder Bihar, arbeiten 60-70 Stunden-Wochen und erhalten dafür monatlich 2.000 Rupies. Die meisten von ihnen waren zuvor Kleinbauern oder Handwerker. Sie sind kleiner und dunkler als die Call Center-ArbeiterInnen. Auch ohne grosses Hintergrundwissen erkennt man, dass auch im IT-Sektor das Dorf fortbesteht, die Familiennamen der Call Center-ArbeiterInnen erlauben Rückschlüsse auf höhere Kastenzugehörigkeit. Kaste, Religion oder regionale Herkunft ist aber kein Thema über das geredet wird. Die Projektmanager sind männlich, Anfang bis Mitte dreissig und ausgebrannt. Sie verbringen oft bis zu 15 Stunden täglich im Büro (die monatliche Email mit der Stundenabrechnung zeigt die Arbeitszeiten aller ArbeiterInnen), beklagen gesundheitliche Folgen und Familiekrisen. Manager, die länger in Call Centern beschäftigt waren, gelten als verbraucht, sie finden danach keinen vergleichbaren Job in anderen Bereichen. Im allgemeinen und oberflächlich gesehen sind die indischen ArbeiterInnen sehr westlich, sie konsumieren globale Produkte, kleiden sich meist modern, haben oft Liebesbeziehungen, obwohl sich einige weiterhin mit arrangierter Heirat rumzuschlagen haben. Sie wissen von Trends und politischer Situation im Westen, sind liberal eingestellt und ignorieren weitestgehend die Armut um sie herum. Sie machen sich Sorgen über die Zukunft der Call Center-Jobs, speziell die telefonische Marktforschung scheint sich zunehmend zu erledigen und durch Internet-Fragebögen plus Prämie ersetzt zu werden, aber sie wissen auch, dass eine 50-Stunden-Woche am Telefon weder physisch noch psychisch bis zur Rente zu machen ist.

Die Arbeit

Wir führen Telefoninterviews mit Unternehmen und in selteneren Fällen Behörden in verschiedenen Ländern durch. Auftraggeber dieser Interviews sind andere Unternehmen und Behörden. So hat zum Beispiel ein Anbieter von Pay-TV eine Umfrage in Auftrag gegeben, für die wir vier und fünf Sterne Hotels in Deutschland nach ihrem Pay-TV-System ausfragen sollen. In anderen Fällen geht es um Handy-Verträge, Software oder Wasserpumpen für Swimming-Pools. Abgesehen von Kenntnissen der Sprach- und Umgangsformen verlangt keines der Projekte besonderen Qualifikationen. Die Arbeitsorganisation und Technologie unterscheidet sich kaum von jener in vergleichbaren europäischen Call Centern. Die Arbeitszeiten sind länger, der Arbeitsdruck geringer, ein vergleichbarer Marktforschungsjob in London ist stressiger und zahlt gerade mal die Miete, es gibt kein unternehmenseigenes Fitness-Studio, aber man muss auch keine Krawatte tragen. In zehn Stunden sollen wir 100 Anrufe tätigen, je nach Projekt sollen dabei vier bis zehn Interviews herauskommen. Angesichts der allgemeinen Übersättigung und des erreichten Genervtheitsgrades gegenüber telefonischer Marktforschung ist dies ein ehrgeiziges Ziel. Je nach Zusammensetzung des acht bis zehnköpfigen Teams sprechen wir untereinander ab, nicht mehr als 80 Anrufe pro Schicht zu machen. Mit Näherrücken des Abschlusstermins eines Projekts werden die Projektleiter nervöser und verlangen auch 150 und mehr Anrufe. Sie drohen: "Ihr wollt nicht im ersten Evalueserve-Team sein, dass die dead-line hinausschieben musste, das kann ich euch sagen" und so weiter. Das Management ist bilderbuch-mässig, die üblichen Team-Sitzungen, inszenierte Team-Wettbewerbe, Versammlungen mit Motivationsreden, Applaus und kleinere Elektronikartikel für herausragende Agenten, ausgehängte Statistiken über individuelle Arbeitsleistung. Das Unternehmen macht einen guten Schnitt dabei, z.B. der US-Amerikanische Wasserpumpenhersteller zahlt für jedes in Deutschland abgeschlossene Interview 70 US-Dollar, verlangte 90 Interviews von zehn Leuten in acht Tagen. Für Evalueserve bedeutet das ein Projektumsatz von 6.300 Dollar, von dem rund 1.000 Dollar für Löhne draufgehen. Bei anderen Aufträgen geht es um 1.000 Interviews von achtzehn Leuten in wenigen Wochen, wobei es sich hier um Soll-Zahlen handelt. Im Arbeitsalltag verbringt man sehr viel Zeit unproduktiv in diversen telefonischen Warteschleifen, ich habe mal ausgerechnet, dass nur rund zehn Prozent der Arbeitszeit produktiv sind (reale Interviewzeit, Übersetzungen), der Rest ist Abwarten und Tee trinken bzw. Kippe rauchen mit dem Reinigungspersonal.

Eindrücke eines Arbeitstages

Gurgaon/Delhi am Nachmittag. Am Glas-Marmor-Kasten ziehen Zweitakterabgase, Staubwolken und Holzfeuerschwaden vorbei, das Trommeln von den Plastikplanenbehausungen der Bauarbeiter prallt an seinem Hintereingang ab, ebenso die ausgerufenen Angebote der Samosa-Verkäufer und das Hupen der Dreirad-Rikshas. Im Grossraumbüro in der zweiten Etage beginnt ein Montagmorgen im 6.500 Kilometer entfernten Detmold, die Sekretärin am Telefon klingt verschnupft, der Chef sei noch nicht im Hause. Neben mir sitzt Poona, abgesehen von ihrem Aufwachsen als Tochter eines punjabischen Bauunternehmers ist es ihr erster Job. Sie spricht grammatikalisch korrektes Sprachschuldeutsch und ist damit erfolgreicher als ich. Sie kann voll auf die indische Karte setzen, die Abteilungsleiter am deutschen Ende der Leitung fragen sie liebend gerne, ob das Wetter in Indien nicht zu heiss oder das Essen nicht zu scharf sei. Manche Netzwerktechniker erinnern sich rührseelig an verstrahlte Nächte in Goa, "soviel besser als später der ganze Ibiza-Kram". Heute rufen wir im Auftrag eines Softwareherstellers an, wir sollen IT-Führungskräfte in deutschen Grossunternehmen fragen, ob sie diverse Werbeslogans mit dem Namen des Herstellers assozieren. Eigentlich kann man "Veritas provides a resilient infrastructure" gar nicht mit Hilfe der Bablefish-Web-Site übersetzen, aber Poona ist das egal und schliesslich ist sie erfolgreich. Ich erreiche niemanden, die IT-Abteilung des Mannheimer Krankenhauses ist dem Streikaufruf von ver.di gefolgt, immerhin. Beim nächsten Versuch verhedder ich mich im interaktiven Telefonportal der Bayerischen Südfleisch AG und muss dann dringend auf die Toilette. Dort wischt Gopal den Boden, das macht er zwölf Stunden täglich. Er ist gelernter Tischler mit Familie in Kalkutta, aber er wird ignoriert. Neben mir pisst mein Qualitätsmanager, er ist aus Assam, Mitte zwanzig und spricht vier europäische Sprachen ohne dort gewesen zu sein. Sein Vater besitzt Land, aber er will nichts mit Plantagen zu tun haben. Jetzt gewöhnt er sich nur schwer an die unpersönliche Atmosphäre Delhis und lädt die ausländischen Kollegen zu Drinks in den umliegenden Shopping-Malls ein. Zurück am Arbeitsplatz finde ich eine Email meines Projektleiters, er meint, meine Performance sei vielversprechend, die Potentiale aber noch nicht ausgeschöpft. Eine Aussage so global wie das Phänomen junger Proletarier mit Handy ohne Festvertrag und Kredit. Performance hin, Potentiale her, wenigstens muss ich nicht mehr für das Pay-TV-Projekt anrufen. Man fühlt sich etwas verkommen, wenn man Rezeptionistinnen von Vier- und Fünf-Sterne-Hotels unmittelbar nach der Begrüssung fragen muss, ob ihr Pay-TV auch Filme für Erwachsene zeigt. Allerdings weit weniger verkommen als beim Zuhören von Hotel-Warteschleifen, die einen nach dem Brunch de Luxe zur Therapie in der Beauty-Farm einladen, wenn man selbst den Vortag in einer Slum-Gasse in Faridabad verbracht hat. Oder beim Aufschreiben der Inhaltsstoffe von organischen Shampoos, z.B. dem "Bioestethique" von Contier, der 10ml Flacon für 77,50 Euro, wenn man weiss, dass die meisten Menschen um einen herum zwei Monate Riksha fahren, Maschinen bedienen oder Toilettenböden wischen müssten, um sich mal die Haare zu waschen.

Priti zu meiner Linken nutzt jede Gesprächsgelegenheit mit den ausländischen Call Center Agenten, um ihre Französischenkenntnisse zu verbessern. Heute erzählt sie jedem, der sie über ihr aktuelles Projekt fragt "Ca me fait chier" und bricht damit die firmenoffizielle Anweisung, nach der Englisch die ausschliessliche Sprache für die interne Kommunikaton zu sein hat. Hindi sprechen die Bauarbeiter vor der Tür. Priti ist cool, kam allein von Bophal nach Delhi, hat in den letzten anderthalb Jahren in vierzehn Call Centern gearbeitet, erzählt gern von ihren Verehrern und diversen Parties und schreibt für ihre private Sprachschule an einem französischen Aufsatz über die aktuellen Unruhen in den Pariser Vorstädten. Ich würde ihr gern ein paar situationistische Links schicken, aber das Management hat einen guten Internetfilter, der privaten Email-Verkehr unmöglich macht, angeblich aus Sicherheitsgründen. Wohl um sicher zu stellen, dass wir nicht rumschlampen, sondern anrufen. Poona in der Telefonzelle neben mir wünscht ihrem devoten Interviewpartner noch einen "schönen Rest Ihres Lebens" und bekommt einen Schokoriegel vom Teamleiter. Pravesh ist achtundzwanzig und müde. Beim Rauchen am Hintereingang gesteht er, dass er seinen einjährigen Sohn seit dreizehn Tagen nicht gesehen hat, weil er zu viel Zeit im Call Center verbringt und dass er seit fünf Tagen mit Fieber zur Arbeit kommt. Er sinniert über die Leere des modernen Lebens und erschafft das Bild einer ursprünglichen indischen Daseinsweise, als Marktforschung unbekannt und die Gemeinschaft mit sich selbst im Reinen war. Hinter dem Zaun das Trommeln unterernährter Bauarbeiter.

Zurück vor der Datenmaske. Wusstest du, dass der gewerkschaftsfeindliche Einzelhandelsriesen Wal Mart die Wuppertaler Friedrich-Engels-Allee als Ort seiner deutschen Firmenzentrale ausgesucht hat. Oder dass die Abschiebe-Airline Lufthansa den Nina Simone Song "I wish I knew how it would feel to be free" als Warteschleifenlied abspielt? Die ficken dein Hirn. Ich frage meinen deutschen Arbeitskollegen, wie die Dinge in seiner Wohngemeinschaft stehen, ob sich die indischen Nachbarn noch wegen der Parties und der halbnackten betrunkenen Mädchen auf dem Balkon beschweren. "Nein, nein, das ist alles smooth, aber wir haben die Putzfrau gekündigt, die hat ihre Arbeit nicht ordentlich gemacht". Weisst du, ob sie dich in einen indischen Knast stecken wenn du einem deutschen Arschloch in der internationalen Abteilung eines Call Centers in einer Sonderexportzone in die Fresse haust?

Auf dem Bildschirm kann ich sehen, dass man sich den nächsten Anruf sparen kann. Die Nummer gehört zur Gerresheimer Glashütte, einer Glasfabrik in Düsseldorf, und die hat dichtgemacht. Am Vortag meiner Abreise kam mein Mitbewohner von einer der üblichen Demonstrationen gegen die Schliessung des Werks zurück, statt Betriebsbesetzung oder Maschinensturm beteten Pfaffen für Beschäftigung und Lokalpolitiker grillten kleine Solidaritätswürstchen. Ich bin bei diesem Job schon ein paar mal in solche Zeit-Raum-Schleifen geraten. Vorgestern habe ich die Betriebsleitung von JAB angerufen, einer Teppichfabrik in der Nähe von Bielefeld aus deren Seitenausgang ich einmal nach einer missglückten Flugblattaktion geworfen wurde. Zwölf Jahre später wirft mich die Bielefelder Sekretärin aus der Leitung und zurück in ein indisches Grossraumbüro. Ich glaube, dass versteht man unter Globalisierung der Informationsgesellschaft, die Misere stinkt anders, aber das Ergebnis ist das selbe.

Ich sehe meinen indischen Kolleginnen gern bei der Arbeit zu. Die flirten, machen auf Mädchen und erzählen vom Pferd was das Zeug hält und spucken, sobald sie den Anruf beendet haben, ein wunderbar männliches "Bakvaas!" auf den Boden, was so viel heisst wie "diese Arschgeburt hat den Schuss nicht gehört". Günes, eine Studentin aus der Türkei unterbricht meinen Voyeurismus, das brasilianische Lohnniveau enttäuscht sie. Ihr Team soll eine Investitionsstudie für die mögliche Eröffnung eines Zweigstellen Call Centers in Lateinamerika entwickeln und Günes muss Brasilien vertreten, wo die Löhne im Vergleich zu Argentinien und der DomRep zu hoch liegen. Ich versuche sie zu beruhigen, erkläre, dass Präsident Lula nicht mehr der alte ist und das Problem mit dem Lohnniveau sicherlich in den Griff bekommt. Ihr geht es besser und sie erzählt Neuigkeiten aus der Reality-Soap, bei der sie mitwirkt: als Nebenjob muss sie private Emails von türkischen Angestellten des benachbarten Deutsche Bank Call Centers übersetzen und die türkischen Angestellten führen ein sehr spannungsgeladenes Beziehungsleben. Ich rate ihr, ihre Haschisch-Bestellungen vielleicht nicht mehr über ihre Firmen email vorzunehmen, denn wer weiss schon, wer nicht alles mitliest, aber dies scheint sie mehr zu verwirren, als an ihrer IM-Tätigkeit zweifeln zu lassen. Gewissen und Bewusstseinserweiterung sind zwei Paar Schuhe, und wenn man länger über die von uns verwendeten Fragebögen nachdenkt, treten Effekte eigentlich von ganz allein ein. Letzten Mittwoch bin ich einen halben Nachmittag lang auf der Phrase "Führt die Einführung dieser Technologie zu einer Beschleunigung des Zeit/Wert-Verhältnisses?" hängengeblieben. Wir stellen tatsächlich solche Fragen, ohne Haftung für Folgeschäden.

Pause. In der Kantine diskutieren wir manchmal. Einige Call Center-ArbeiterInnen erinnern sich an den Bullenangriff auf streikende Honda-Beschäftigte im letzten Jahr in Gurgaon, keine fünf Kilometer entfernt von unserer Kantine. Bei dem Massaker wurden rund 800 Streikende übelst verletzt. Die Call Center Agenten haben es in den Nachrichten gesehen. Einige machen die japanische Firmenleitung verantwortlich, kritisieren die Ausrichtung auf ausländische Direktinvestitionen, beschweren sich über US-amerikanische Managementphilosophie in den Call Centern. Trotz Unsicherheit, was die eigene Situation angeht, reden sie über solche Auseinandersetzungen, als würden sie nicht um die Ecke, sondern auf einem anderen Kontinent stattfinden.

Am Telefon eine weitere Empfangsdame "Wir haben leider kein Interesse". "Ich doch auch nicht, ist das nicht tragisch?!", denke ich. Poona erhält eine elektronische Valentinskarte, die blinkt und eine schmalzige Melodie von sich gibt, sobald man das Attachment öffnet. Neben Call Centern ist der Valentinstag ein weiteres anglo-kulturelles Importgut, dass sich die indischen Mittelklassejugend aneignet, um sich arrangierter Heirat zu entziehen und offenere Beziehungen auszuprobieren. Fanatische Hindu-Gruppen attackieren Stände mit Valentinskarten und die Bullen drangsalieren junge Pärchen in Delhis Lodhi Park, einer der wenigen Orte, wo Mann und Frau offen Händchen halten. Wenn man einem normalen Proleten ausserhalb eines Call Centers erzählt, dass man in einem solchen arbeitet, fängt der meist an zu zwinkern, fragt dann, ob es dort tatsächlich so frivol zugeht, wie behauptet wird, auf Kopiermaschinen pimpern und so, und wie teuer wohl ein Englischkurs für Beginner sei.

Eine weitere Email im Posteingang. Eine Schweigeminute für eine junge Frau, die in der Research Unit arbeitete und gestern auf dem Weg zur Arbeit bei einem Autounfall ums Leben kam. Wir stehen schweigend in unseren Telefonzellen. Es gibt tatsächlich viele Unfälle, ich habe drei Unfalltote in zwei Monaten gesehen. Kein Wunder, die LKW- und Taxifahrer sind nach siebzehn Stunden-Schichten müde. Jeder ist müde. Subod, der Nachtwächter unseres Wohnbocks arbeitet seit sechs Monaten zwölf Stunden-Nachtschichten ohne freien Tag. Letzte Woche wurde der Typ von der Tagesschicht krank und die Hausverwaltung organisierte keinen Ersatz. Subod machte auch die Tagschicht. Nachdem er 24 Stunden am Stück gearbeitet hatte, meinte ich, dass ich ihn in der Nachtschicht für sechs Stunden ablösen könnte, aber er hatte zuviel Angst, seinen 2.000 Rupie-Job zu verlieren, also arbeitete er weitere 24 Stunden. Systemische Insomnie und Automobile verstümmeln Menschen, auch schon bevor die Autos auf Strasse und Leute losgelassen werden. Ein Freund erzählt, dass jeden Tag achtzehn Finger in den ausgelagerten Metallbuden verstümmelt werden, um die grösste indische Autofabrik, Maruti/Suzuki in Gurgaon, mit Teilen zu beliefern.

Die Schweigeminute ist um, wir sollen zurück zu offenen Fragestellungen für die Erweiterung der Marktsegmente, aber ich bring es nicht, rauche stattdessen mit Gopal am Toilettenfenster und frage ihn, was er am Sonntag gemacht hat, seinem freien Tag. "Ich bin rumgestreunt". Er teilt sich ein Zimmer mit fünf Handwerkern aus Bengalen, die ebenfalls im Boom von Gurgaon eine Arbeit gefunden haben. Als ich zurück ins Büro komme, habe ich den Anfang der Versammlung in der Kantine verpasst. Der grosse Chef aus der Schweiz hält eine Rede von der Scientology-Stange, die InderInnen stehen im Kreis und hören sich seine Bemerkungen über ihre chinesischen KollegInnen im Call Center in Shanghai an, das er gerade besucht hat. "Die sind wie Kinder. Die können nicht mit Kritik umgehen". Sein Witz erntet relativ gut bezahltes formales Gelächter, in Shanghai hat er letzte Woche die indische Version erzählt. Ob einem die chinesische KP politisches Asyl garantiert, wenn man einen angeblich neutralen schweizer Kopf in einen Kaffeeautomaten steckt, dessen Produkt scheisse schmeckt und amphetamin-mässigen Muskelkater verursacht? Ich schaue zu Maneesh, aber der zuckt die Schultern. Er ist ansonsten sehr helle und ironisch, seitdem er mir von seinem ersten Call Center Job erzählt hat, kommen wir sehr gut miteinander aus:".und der Sack von Teamleiter meinte, wir sollen den Kunden wie einen König behandeln. Ich habe nichts gegen einen ordentlichen Absolutismus, aber von was für einer verkackten Monarchie reden wir, wenn alle zwei Minuten ein neuer König daherlaufen kann". Er hat dann als Makler bei einem Onkel in Turin gearbeitet, wo er italienisch lernte, dann lief sein Visa aus und er hätte nur noch im Restaurant oder ähnlichen Jobs arbeiten können, also ist er lieber zurück nach Indien. Bloss keine manuelle Arbeit. Nicht ein einziger Call Center Agent mit dem ich in Indien geredet habe, hatte Erfahrungen mit körperlicher Arbeit, und dass in einem Land mit so viel Physique. Willst du ihnen ein mitleidiges bis peinlich berührtes Grinsen aufsetzen, sag ihnen, dass du ein paar Jahre auf Baustellen gearbeitet hast.

Es ist halb elf in der Nacht, in Deutschland stellen die Sekretärinnen die Stühle hoch und schalten die Anrufbeantworter ein, ich rauche die letzte Zigarette vorm Feierabend. Drei Manager stehen im Dunkeln und hören den Trommeln der Bauarbeiterfamilien zu. "Die arbeiten nur, um abends singen und trinken zu können, das ist alles.".

Zusammensetzung des Call Center Clusters in Gurgaon

Gurgaon ist eine Satellitenstadt im Süden von Delhi, eine Boom-Town. Gurgaon ist ein Zentrum der indischen Autoindustrie, neben Maruti/Suzuki befinden sich dort auch Fabriken und Zulieferunternehmen der grössten indischen Motorrad-Unternehmen Hero Honda und Honda Scooter and Motorcycles India. Neben der Autoindustrie entwickelte sich die Textil- bzw. Bekleidungsindustrie mit eigenen Sonderexportzonen, in denen tausende von ArbeiterInnen, vor allem MigrantInnen vom Land, für den Weltmarkt produzieren. Die Regierung von Haryana, dem Bundesstaat in dem Gurgaon liegt, hat Ende 2006 angekündigt, eine weitere Sonderentwicklungszone in Gurgaon zu eröffnen, die 200.000 zusätzliche Jobs schaffen soll. Eine der grössten asiatischen privaten Entwicklungsfirmen DLF hat bereits Land für das Projekt gekauft. DLF betreibt bereits die sogenannte DLF-City in Gurgaon, eine Art Privatstadt, wo auch einige Call Center angesiedelt sind. Viele multinationale Unternehmen haben ihre Call Center nach Gurgaon, Noida oder Okhla (alles Industrievororte von Delhi) verlagert, z.B. Microsoft, American Express, Dell, Amazon, IBM, Citibank, Deutsche Bank, Hewlett Packard. Einige der Call Center sind riesig, im Gebäude von Genpact, ehemals General Electrics Capital sind rund 12.000 Menschen beschäftigt. Dell eröffnete Ende 2006 ein Kundenservicecenter mit rund 5.000 ArbeiterInnen. Andere Call Center sind versteckte Hinterzimmer, in denen sechs Leute an Telefonen sitzen. Die meisten internationalen Grossunternehmen verlagern die Arbeit nicht nur, sie outsourcen sie auch direkt an Service Call Center-Unternehmen wie Wipro, Converges, Genpact, IBM. Zum Beispiel American Express hat Teile der Arbeit an das Unternehmen Converges ausgegliedert, betreibt aber direkt auf der anderen Strassenseite ein eigenes Call Center. IBM hat ein eigenes Call Center und zusätzlich ein Service Center, in dem outgesourcte telefonische Dienstleistungen von Amazon und verschiedenen Airlines und Tourismusunternehmen erledigt werden. Bei Wipro sind 1.200 junge Leute damit beschäftigt, Dell-Kunden zu bedienen, während Dell selbst weitere 5.000 Arbeitskräfte für das neueröffnete Center sucht. Es ist noch unklar, ob Dell auch den ausgegliederten Prozess weiterlaufen lassen wird, Wipro-Leute erzählten, dass Dell eine Politik fährt, die ein Abwerben von Wipro-ArbeiterInnnen verhindern soll. Zwischen Beschäftigung bei Wipro und Bewerbung bei Dell soll mindestens ein halbes Jahr liegen. Gleichzeitig berichten Leute davon, dass bestimmte Kunden mit Verlagerungen, z.B. nach Hyderabad drohen und das bestimmte Arbeitsaufträge auch bereits weiterverlagert wurden. Die Leute wissen, dass sie bisher am empfangenden Ende der Auslagerungen standen, dass dies vor allem an den Lohnunterschieden liegt (sie bekommen rund 20 Prozent des durchschnittlichen US-Lohns), dass die Jobs aber nicht sicher sind, weiterziehen oder der Rationalisierung zum Opfer fallen können.

Wenn man durch die Industriezonen von Gurgaon läuft, kommt man zu dem Schluss, dass die Planer dieser Zonen entweder nichts von den Klassenkampfzyklen in Europa in den späten 60ern, in Lateinamerika in den 70ern oder Süd Korea in den 80ern gehört haben, oder denken, dass aufgrund der tiefergehenden Spaltungen innerhalb der indischen Gesellschaft keine explosive Allianz zwischen StudentInnen und neuen IndustriearbeiterInnen entstehen kann. Wie sollte man sich sonst erklären, dass sie Call Center direkt neben Motorad- und Textilfabriken setzen. Im Mai 2006 organisierten 4.000 Zeitarbeiter eine fünftägige Fabrikbesetzung der Hero Honda Fabrik in Gurgaon. Direkt neben der Fabrik steht ein internationales Call Center, in dem 1.000 junge Leute mit studentischem Hintergrund arbeiten, dafür internationale Sprachen und moderne Kommunikationsmittel benutzen. Diese Leute konnten die Versammlungen auf dem Fabrikgelände sehen, die schlafenden Bullen im Schatten. Zwei Wochen später hörten wir von einer Demonstration, die angeblich vor dem Call center stattgefunden haben soll. Dieses Gerücht wurde nicht bestätigt, aber Call Center ArbeiterInnen drückten ihren Frust über zu spät gezahlte Löhne und die Tatsache aus, dass sie vor und nach der Schicht bis zu zwei Stunden in den Unternehmenstaxis zubringen müssen, weil das Unternehmen sparen will und gleich acht bis zehn Leute durch Delhi kutschen lässt. Während den meisten revolutionären Unruhen mussten sich die "StudentInnen" die "ArbeiterInnen" erst entdecken, hier arbeiten sie in unmittelbarer Nähe voneinander und sind in ähnlicher Weise von den globalen Bewegungen des Kapitals betroffen: direkt neben dem IBM Call Center steht eine Fabrik vom US-Unternehmen Delphi, dem weltweit grössten Autoteilehersteller, beide Firmen sind in der USA tief in der Krise und drängen verstärkt auf den Subkontinent.

Es lässt sich schwer abschätzen und es gibt kaum offizielle Aussagen darüber, wieviele ArbeiterInnen tatsächlich in Gurgaons Call Centern ihren Job machen, mehrere zehntausend, wahrscheinlich über hunderttausend Leute. Wichtiger ist, dass sie und ihre (Arbeits)kultur massgeblich das Alltagsbild bestimmen. Die Nächte sind voll von weissen Sammeltaxis, die die ArbeiterInnen von und zur Arbeit bringen, in den mittelständischen Häuserblocks der festangestellten ArbeiterInnen von Maruti/Suzuki entstehen spärlich eingerichtete Wohngemeinschaften von jungen Call Center Beschäftigten, in den Shopping-Malls machen sie in grösseren Gruppen Kaffeepausen und ehemalige Zeitarbeiter von Hero Honda verkaufen ihnen Zigaretten oder Snacks aus Bauchläden. Trotz der räumlichen Nähe besteht weiterhin ein relativer Abgrund zwischen ihren Welten, abgesehen von kulturell-historischen Gründen reicht schon ein Blick auf die Lohndifferenzen, um diesen zu beschreiben.

Ein Bauarbeiter auf der Dell Call Center Baustelle wird bei einer 80 Stundenwoche um die 1.000 bis 1.500 Rupies im Monat verdienen. Ein Zeitarbeiter in der Textilindustrie oder einer Metallfabrik bekommt für eine ähnliche Arbeitszeit 1.500 bis 2.500 Rupies. Der offizielle Mindestlohn in Haryana für eine 48 Stundenwoche liegt bei 3.000 Rupies.

Der Pizza-Hut-Typ, der 60 Stunden die Woche Call Center ArbeiterInnen versorgt, bekommt 3.700 Rupies. Ein Zeitarbeiter bei Maruti oder Honda bekommt für eine 50 Stundenwoche zwischen 3.000 und 5.000 Rupies. Die wohl am bestbezahlten Industriearbeiter Indiens, festangestellte qualifizierte Arbeiter und technische Angestellte bei Maruti/Suzuki verdienen je nach Betriebszugehörigkeit und Zulagen zwischen 10.000 und 30.000 Rupies. In den Call Centern fangen die Einstiegslöhne für SchulabgängerInnen bei 8.000 bis 12.000 an. Damit verdient in vielen Fällen die neunzehnjährige Tochter eines Uniprofessors mehr als ihr Vater. Die Hierarchie zwischen den Generationen wackelt. Besonders im Tele-Verkauf kommen ArbeiterInnen auf 15.000 bis zu 30.000 Rupies für eine 50 Stunden Nachtschichtwoche. In den letzten fünf Jahren sind die Löhne der ungelernten FabrikarbeiterInnen gesunken, die der Call Center ArbeiterInnen angeblich um rund 3.000 Rupies monatlich gestiegen. Setzen wir diese Löhne in einen alltäglichen Zusammenhang: die Miete für ein Zimmer in Gurgaon variert zwischen 1.000 (Alt-Gurgaon), 2.000 (Maruti-Siedlung) und 5.000 (Mittelstands-Wohnblock) Rupies im Monat. Kocht man selbst und achtet auf eine mehr oder weniger ausgewogene Ernährungsweise braucht man im Monat zwische 2.000 und 3.000 Rupies. Für einen Teller Reis/Linsen zahlt man auf der Strasse zwischen 20 und 30 Rupies, für einen Starbuckskaffee oder eine halbe Stunde Internet dasselbe, für ein Bier zwischen 30 und 60 Rupies. Eine Handynummer ohne Kredit kostet im Jahr rund 1.000 bis 2.000 Rupies, ein Kleinwagen zwischen 300.000 und 500.000 Rupies.

Die Kohle, die Nachtschichten, das teure Essen in den Shopping-Malls, der telefonische Kontakt mit dem Westen, die abgebrochene akademische Ausbildungen, die technologische Kontrolle, die Stunden im Stau, der Burn-Out, die hohe Job-Fluktuation, die offeneren Geschlechterbeziehungen auf Arbeit, der Stress mit übelgelaunten Kunden, die Konsumgüter, die Erwartungen der Familie, das Gefühl der beruflichen Sackgasse.Erfahrungen einer proletarisierten indischen Mittelklassejugend, über die in Indien Bestseller-Romane geschrieben werden. Hinzu kommen andere Erfahrungen, von denen hört man auf diversen Trinkabenden in Wohngemeinschaften, in denen Leute aus unterschiedlichen Call Centern der Gegend zusammenwohnen. Ein Freund war mehrere Monate in australischer Abschiebehaft, ein Heavy-Metallgitarrist ist in Mizoram unter indischer Militärkontrolle und Ausgangssperre aufgewachsen, ein anderer versucht nach vier Jahren Call Center Tätigkeit jetzt mit drei Kumpeln ein eigenes aufzumachen. Man redet viel über die Leere des Arbeitslebens, die Unsicherheit, die Möglichkeiten der Migration, die Formen von Liebesbeziehungen. Das gesellschaftliche Management versucht die sich verändernden Geschlechterbeziehungen in sanktionierte Bahnen zu lenken, in einigen Fällen bekamen Leute in Call Centern Abmahnungen, weil sie zu offen miteinander rumflirteten, Vermieter würden nie eine gemischtgeschlechtliche Wohngemeinschaft dulden, nach einem Sexual-Mord an einer Call Center-Arbeiterin durch einen Taxifahrer wird die Kontrolle und moralische Ausgangssperre verschärft. Die folgenden Interviewausschnitte sind Produkt kurzer Kantinengespräche im Frühjahr 2006, aber sie vermitteln ein Bild vom Hintergrund und der Perspektive vieler Call Center-ArbeiterInnen.

Interviews

Arbeiterin, 22 Jahre

Im April 2004, als ich mein erstes Vorstellungsgespräch für einen Call Center Job hatte, lebte ich noch bei meiner Familie in Bophal. Nach einem ersten telefonischen Gespräch wurde ich zu einem zweiten nach Gurgaon eingeladen. Ich machte mich zusammen mit meiner Mutter auf den Weg, allerdings stellte sich raus, dass die Firma zu diesem Zeitpunkt keine Leute brauchte, ich sollte eine Woche warten. Eine Freundin besorgte mir einen anderen Job und ich zog von Bophal nach Gurgaon. Ich musste erst meine Familie überzeugen, aber als mein Vater die Wohung gesehen hatte, liessen sie mich gehen. Ich war vorher nie in einer grösseren Stadt gewesen. In den folgenden anderthalb Jahren arbeitete ich in vierzehn verschiedenen Call Centern und konnte meinen Lohn von anfänglichen 8.000 Rupies auf meinen derzeitigen Lohn von 20.000 Rupies steigern. Alle Jobs waren outbound, dass heisst ich musste Leute in den USA, in Kanada oder in Grossbritanien anrufen. Zuerst sah ich die ganze Call Center Geschichte als sehr glamourös an, vom Taxi von zu Hause abgeholt werden, Prämien kriegen und so. Das änderte sich dann aber recht schnell, wenn man sechs Tage die Woche von 14:30 Uhr mittags bis 00:30 Uhr nachts arbeiten und dazu noch die langen Arbeitswege aufsichnehmen muss. In meinen ersten Call Centern arbeitete ich mit zehn, zwanzig Leute zusammen, später in Gebäuden zusammen mit 2.000 anderen. Die kleinen Call Center sind schlechter organisiert, oft bekommt man keinen Arbeitsvertrag, der Lohn wird zu spät gezahlt, die versprochenen Prämien bleiben aus. Die zahlen auch nicht den PF-Beitrag (Arbeitslosen/Rentenversicherung) und geben dir auch keine PF-Nummer, wozu sie gesetzlich verpflichtet sind. Die stellen eigentlich auch jeden ein, der ein wenig Englisch spricht. In den kleineren Unternehmen rief ich für Rogers in Kanada an, das ist ein Telekommunikationsunternehmen, oder ich versuchte Leute in den USA davon zu überzeugen, 299 US-Dollar in das Government Grant Profit-Investmentprogramm einzuzahlen, wobei sich diese Programme oft als Betrug herausstellen. Die Schichtzeiten für die USA sind hart, du arbeitest von 23:00 Uhr nachts bis 6:30 Uhr morgens. Ich habe auch für Three-G-Networks und OneTel gearbeitet, da verkauft man Handies an Haushalte in Grossbritanien. Viele Call Center hier arbeiten für Telekommunikationsunternehmen. Die meisten haben automatische Wahlsysteme, dass heisst du kannst nicht beeinflussen, wie oft gewählt wird. So macht man dann bis zu 400 oder 500 Anrufe pro Schicht. Grössere Unternehmen wie Infovision oder Technova teilen sich öfter ein Gebäude, das sitzt eine Reihe von Infovision-Leuten neben einer Reihe von Technova. Ich habe aber auch in Call centern gearbeitet, wo in einer Reihe Leute von sieben unterschiedlichen Unternehmen zusammensassen. Infovision hat auch mehrere Standorte, einer ist noch in den USA, drei oder vier sind in Indien.

Einige Leute fangen an zu arbeiten und wohnen weiterhin bei ihren Eltern. Für sie ist der Lohn Taschengeld für Parties oder Konsumgüter. Für die ist auch auch nicht so problematisch, wenn der Lohn nicht rechtzeitig gezahlt wird. Ich schätze aber, dass zwischen 70 und 80 Prozent der Leute tatsächlich Miete zahlen müssen, die meisten kommen von weiter weg aus den nördlichen Bundesstaaten. Die haben Ärger, wenn das Geld fehlt. Einmal, bei der Firma Icode Customer Management, wurden die Löhne nicht gezahlt. Es ist ein kleines Call Center, in dem zu diesem Zeitpunkt nur 25 Leute beschäftigt waren. Das Management erfand billige Ausreden, von wegen der Kunde hätte nicht gezahlt, und versprach baldige Lösung. Dies passierte dann öfter und die Leute hatten schliesslich die Nase voll. Während einer Nachtschicht entschieden sie, solange nicht zu arbeiten, solange das Geld nicht gezahlt würde. Der Manager ist dann tatsächlich zur Bank und die Leute hatten am nächsten Tag ihren Lohn. Heute arbeiten da nur noch zehn Agenten. Ähnliches kommt auch in grösseren Call Centern vor. Ich hatte Probleme mit Urlaubstagen. Mein Bruder war krank und ich musste zurück nach Bophal, der Teamleiter gab sein o.k.. Als ich zurück war fragte er: "Wer hat dir erlaubt, Urlaub zu nehmen?!". Ein paar mal habe ich einen Job an den Nagel gehängt, weil ich Urlaub brauchte, und mir später einen neuen gesucht. Man findet Jobs im Internet, in Zeitungen oder durch Freunde. Es gibt Call Center wie Wipro oder Converges, die als besser angesehen werden, auch weil sie bessere Kunden haben, wie British Telecom oder Orange. Die sind nur weit draussen, da sitzt man zwei Stunden täglich im Taxi sitzen, plus zehn Stunden vorm Bildschirm. Die Atmosphäre bei der Arbeit ist ähnlich wie die in der Schule. Es gibt eine Kultur der Parties, Leute teilen Wohnungen und bleiben in Kontakt über Google-Groups. Manchmal ist es sehr lustig, Leute kommen direkt von der Party, sind immer noch betrunken, schlafen ein und wecken sich gegenseitig, sobald ein Chef auftaucht. Manchmal ist es aber auch kindisch, die Jungs machen die Mädels dumm an. Manchmal wird man auch von US-Leuten dumm angemacht, aber eher von Privatleuten, weniger von anderen Angestellten. Wir wissen nicht viel über die Arbeitsbedingungen in den USA, wir haben auch nicht danach gefragt. Manchmal sieht man einen ranghohen Manager aus den USA, das war es dann aber auch. Als ich gesehen habe, dass mehr und mehr Leute in die Call Center kamen, habe ich mir gedacht, dass Englisch als Qualifikation allein nicht ausreicht, so viele sprechen englisch. Ich habe dann noch französisch gelernt. In den Call Centern lernt man, mit Arbeitszeit und Disziplin umzugehen. Man ist körperlich unfrei, aber geistig frei. Man macht seinen Job. Ich habe auch versucht, eine Arbeit als französisch Lehrerin zu finden,. Aber das ist schwierig und die Löhne sind niedrig. Ich habe dann hier bei Evalueserve angefangen, hier hat man weniger Druck. In den Call Centern feuern sie dich, wenn du nichts verkaufts, den Soll nicht erreichst. Viele versuchen, ihr Studium fortzuführen, ich würde sagen 40 Prozent studieren über die Fern-Universität. Aber viele hören damit nach einer Weile auf, es ist hart. Auch für die Manager sind Call Center kein Schritt auf dem Weg zur Karriere, ausserhalb der Call Center werden ihre Erfahrungen nicht anerkannt.

Arbeiterin bei GE Capital, 21 Jahre

Ich arbeitete bei GE Capital in der Australien-Schicht. Die Schicht fängt um 4 Uhr morgens an und endet um 1 Uhr mittags. Das heisst aber, dass das Taxi um 2:30 Uhr bei dir vor der Tür steht und dich abholt. Wir haben für diese üblen Schichten keine Zulagen bekommen, nur den normalen Lohn von 8.000 Rupies. Wenn sie hörten, dass wir aus Indien anrufen sagten manche australischen Kunden: "Wie kann ich ihnen trauen?". Naja, der Job im allgemeinen, was soll ich sagen, ich habe noch bei meinen Eltern gewohnt, hatte gerade das Abitur fertig und dachte, es würde sicherlich ein guter Spass. Tatsächlich war es aber mehr wie ein Knast. Man kann nicht einen Schritt vom Arbeitsplatz weg, man muss die ganze Zeit erreichbar sein. Wenn jemand einen Anruf verpasste beschwerte sich ein Manager von Australien aus über diese spezielle Person. Der konnte das von dort aus checken. Wir haben pro Schicht rund 100 Anrufe beantwortet, hatte fünf Minuten, um mal aufs Klo zu gehen. Ich musste mir einen englischen Namen geben und die Kleidungsvorschrift war auch sehr streng.

Arbeiterin, 27 Jahre

Die Arbeit gab mir einiges an Selbstvertrauen, ich arbeitete hart und bekam Respekt dafür. Aber der Job war anstrengend, 120 Anrufe am Tag, oft kein freies Wochenende, weil die Leute in England auch am Wochenende Probleme mit ihrem Wasser- oder Gasunternehmen haben. Wir sollten Leute in England davon überzeugen, dass sie ihre Rechnungen mit monatlicher Lastschrift begleichen. Den ärmeren Leuten sollten wir vorschlagen, dass sie sich einen sogenannten "Pre-Payment Meter" besorgen, also im Grunde ihre Gaslieferung im voraus zahlen. Das Unternehmen hat ziemlich auf die Qualität geachtet. Wenn jemand einen Anruf abwürgt oder auflegt, fuert man die Person. Wenn jemand eine Sekunde zu spät aus der Pause kam, konnte er seine Prämien vergessen. Die Prämien werden alle halbe Jahre gezahlt. Ein guter Agent würde damit auf einen monatlichen Lohn von 14.000 Rupies kommen. In anderen Call Centern stellen sie dir die Prämien als Köder direkt ins Büro, Kühlschränke, Fahrräder oder Fernseher.

Arbeiter bei Citibank, 24 Jahre

Ich habe bei Converges im Citibank-Prozess gearbeitet. In diesem ausgegliederten Bereich arbeiten 600 Leute rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Converges hat die Leute mit den besten englischen Akzenten für den Citibank-Bereich ausgesucht. Ich habe in der inbound-Abteilung gearbeitet. US-Kreditkarten-Kunden haben angerufen, um ihren Kontenstand zu erfahren, Überweisungen zu machen, um Infos zu Zinsen und Darlehn zu bekommen. Wir sollten ihnen auch andere Dienstleistungen verkaufen, z.B. einen Credit Protector, eine Art Versicherung: wenn du aus Versehen dein Konto überziehst, zahlst du keine höheren Zinsen. Wir bekamen zwei US-Dollar für jeden verkauften Credit Protector und sollten zwei pro Tag verkaufen. Unsere Löhne wurden in US-Dollar abgerechnet. Die anderen Leute bei Converges bekamen diese Prämien nicht. Der Grundlohn fängt bei 8.500 Rupies an und kann inklusive Prämien auf 17.000 Rupies steigen. Der Citibank-Bereich war auch der mit der strengsten Arbeitsdisziplin: wenn du deinen Computer während deiner Abwesenheit nicht abmeldest, fliegst du, auch wenn du nur eine Minute vom Computer weg warst; der Citibank-Bereich hatte einen eigenen Eingang und im Gegensatz zu den anderen Beschäftigten mussten wir Krawatte tragen.Der Bereich bei Converges ist der einzige ausgesourcte Citibank-Prozess weltweit.

Arbeiter bei Hewlett Packard, 22 Jahre

Ich bin aus Kalkutta nach Gurgaon gekommen. Ich komme von einem Adivasi-Hintergrund (sogenannte "Ureinwohner" bestimmter Regionen), mein Vater hatte eine Arbeit im öffentlichen Dienst und darüber und wegen meiner Herkunft konnte ich an eine katholische Schule, wo viele reiche Kids rumhingen. Ich machte mein Abi und mein Bruder, der selbst als Ingenieur arbeitet, zahlte mir einen Grundkurs für Computer-Hardware. Der Kurs kostete rund 17.000 Rupies, aber die Qualifikation war nicht hoch, in Kalkutta würde man damit Jobs finden, die nicht mehr als 1.500 bis 2.000 Rupies im Monat einbringen. Das wäre also keine allzu tolle Investition gewesen. Ich wollte bei Wipro anfangen, dem besten und bekanntesten Call Center in Kalkutta, aber ein Freund erzählte mir, dass du dort bis zu 16 oder 17 Stunden arbeitest, sie dir aber nur acht zahlen. Kurz danach hat mich ein Typ von einer Agentur angesprochen, er hat mich nach Gurgaon eingeladen, um dort im technischen Support für Hewlett Packard zu arbeiten. Ich sprach mit meinen Eltern und entschied dann, nach Gurgaon zu ziehen, aber nur, weil ich dachte, dass die Arbeit bei HP eine weitere Qualifikation im IT-Bereich in Aussicht stellt. Es gab ein paar Probleme und Verspätungen mit der Kohle, die für den Umzug und die erste Zeit in einer Pension versprochen wurde, aber das scheint jetzt gelöst. Hewlett Packard hat seinen technischen Support erst an die Firma Daksh ausgelagert, dann weiter an IBM. Bei IBM sitzen noch andere ausgesourcte Firmenprozesse, zum Beipiel von Delta Airlines, einem US-Unternehmen. Der HP-Prozess ist recht neu bei IBM, vielleicht seit sechs Monaten. HP hat noch ein eigenes Call Center in Bangalore, ich weiss nicht, warum sie das noch behalten, die machen dort im Grunde die selbe Arbeit. Im HP-Prozess arbeiten rund 100 Leute, die meisten recht jung, unverheiratet, frisch von der Schule, ich schätze für 80 Prozent ist das ihr erster Job. Die meisten wissen etwas über Computer, aber HP verlangt nur gute Englischkenntnisse. Die Leute kommen von überall. Die Agentur, die für HP arbeitet, geht sogar nach Kashmir, um Leute anzuwerben. Die kriegen 5.000 bis 6.000 Rupies pro Kopf. Die ersten zwei Monate hat man eine Trainingsphase. Es geht im Grunde um die Anwendung der Arbeitsprogramme. HP hat ein google-mässiges Programm mit dem man bei technischen Problemen nach Lösungen suchen kann. Wir erhalten meistens Anrufe von US-Privatkunden, die Probleme mit ihrem HP-Produkt haben. Ich erhalte in einer neunstündigen Nachtschicht um die 30 bis 50 Anrufe, einige dauern 30 Minuten, die meisten weniger. Es gibt einen Anschiss, wenn Anrufe länger dauern als 30 Minuten. Wir haben direct-to-ear-Anlagen (dass heisst der Anruf geht ohne Umwege oder Eingreifsmöglichkeiten direkt aufs Ohr). Nach drei Monaten am Telefon habe ich 90 Prozent der auftauchenden Probleme bereits behandelt. Das macht die Angelegenheit langweilig und ich bin froh, wenn ein neues Problem auftaucht und ich etwas dazulerne. Komisch eigentlich, ich habe sogar meine Software-Bücher vom Kurs mit nach Gurgaon gebracht, ich dachte, ich würde jetzt für IBM arbeiten. Aber die brauche ich nicht. Ich kann auch in T-Shirt und mit Baseball-Cap zur Arbeit kommen. Der Grundlohn beträgt 10.500 Rupies, aber es gibt Prämien. Wir sollen zusätzlich zum Support Sachen verkaufen, von Software-Programmen bis zu Computern. Wenn jemand z.B. ein Virusproblem hat, sollen wir ihm nach der Problemlösung ein Anti-Virusprogramm verkaufen. Ich verkaufe Sachen im Wert von 1.000 bis 2.000 US-Dollar im Monat, erhalte dafür aber gerade mal 1.000 bis 1.500 Rupies. Der Rest ist für HP. Es gibt noch andere Prämien. Der Kunde kann deinen Service auf einer Skala von eins bis fünf beurteilen. Du solltest nicht schlechter sein als vier. Andere Prämien sind an die Teamleistung gebunden, dass heisst, wenn du zu viel Zeit am Telefon verplemperst, verliert das ganze Team, der Teamleiter kriegt Ärger und gibt ihn weiter. Insgesamt betragen die Prämien am Ende des Monats 3.000 bis 3.500 Rupies. Ein Typ verkauft Sachen für 5.000 US-Dollar im Monat, er wurde von Managern zum Essen eingeladen und hat einen Job im HP Call Center in Bangalore angeboten bekommen. Dort würde er rund 20.000 Rupies im Monat verdienen. Wir sprechen nur selten mit HP-Leuten aus den USA, nur wenn wir Kunden weiterleiten, aber dann gibt es auch keine Zeit zum quatschen. Aber jeder weiss, dass HP nach Indien kommt, weil hier die Arbeitszeiten lang und die Löhne niedrig sind. Wir reden mehr mit den Kunden, über das Leben hier und dort. Das gefällt mir am besten, der Rest ist wenig aufregend. Wir machen unsere Witze, dass hebt die Stimmung. Wir sagen, dass HP-Computer ziemlich beschissen sind, aber das wir deswegen wenigstens einen sicheren Job haben. Die Hauptsache, die ich aus diesem Job ziehe, ist die Fähigkeit, klarzukommen. Die Nachtschichten sind hart, es bleibt wenig Zeit und in den ersten Monaten konnte ich kein Geld nach Hause schicken, weil das Leben hier so teuer ist. Irgendwie bin ich vorbereitet. Der erste Job ist hart, es kann nur einfacher werden. Ich will diesen Job höchstens noch ein Jahr machen.

Flugblattaktion

Die Gruppe "Workers Solidarity" ist eine kleine partei- und gewerkschaftsunabhängige Gruppe von AktivistInnen in Delhi. Die Gruppe macht Aktionen und bringt Broschüren zu verschiedenen ArbeiterInnenfragen heraus, z.B. anlässlich der Vertreibung von Slum-BewohnerInnen oder der kürzlichen Brandkatastrophe in einer Textilfabrik, bei der 18 eingeschlossene ArbeiterInnen ums Leben kamen. Gemeinsam stellten wir eine Broschüre mit einer längeren Einleitung zur Frage der globalen Verlagerung von Arbeit und mit Arbeits- und Streikberichten aus europäischen Call Centern zusammen. Interessant war hierbei, dass einige Berichte Unternehmen betrafen, die auch in Gurgaon ansässig sind, z.B. Hewlett Packard oder Citibank. Wir verteilten diese Broschüre vor grösseren Call Centern in Gurgaon, Okhla und Noida. Viele der Call Center-ArbeiterInnen dachten auf den ersten Blick, dass wir Leute für Call Center anwerben wollten. Der zweite Reaktion bei einigen war eine Verteidigungshaltung, weil sie annahmen, dass wir sie dafür kritisieren würden, die Jobs "aus dem Westen" anzunehmen. In den meisten Fällen hatten wir aber gute Gespräche, Leute erzählten von ihrer Arbeit, fragten zur Situation in Europa, viele hatten Lust, sich ein zweites Mal zu treffen, um in Ruhe weiterzureden. Anders als vielleicht in Bangalore gibt es in Gurgaon keine gewerkschaftlichen oder andere politische Initiativen, die versuchen würden, Call Center-Arbeit aus ArbeiterInnensicht aufzugreifen. Angesichts dessen war das Verteilen der Broschüren relativ unproblematisch, die Reaktionen sowohl von Beschäftigten, als auch von den zahlreichen Security-Leuten nicht viel anders, als in Europa auch. Unglücklicherweise beinhaltete die Broschüre keine aktuellen Beispiele von Kämpfen in Call Centern, die sich gegen Entlassungen richten, so zum Beispiel bei IBM oder Dell in den USA oder Norwich Union in Grossbritanien. Dies hätte der Diskussion etwas mehr Brisanz verleihen können. In Indien selbst gibt es nur wenige Beispiele von offenen Konflikten im Sektor. Ein unbestätigter Zeitungsartikel berichtete von einer Besetzung und Krawallen vor einem Call Center in Mumbai, als Reaktion auf Drangsalierungen der ArbeiterInnen durch die Manager und Bullenangriff auf das besetzte Call Center. Die gewerkschaftliche Initiative UNITES ist in Mumbai und Bangalore aktiv, scheint sich aber in erster Linie auf rechtliche Beratung zu beschränken. Es gibt sehr viele akademische Abhandlungen und soziologische Untersuchungen zur Call Center-Arbeit, aber auch diese konzentrieren sich in erster Linie auf die Frage der "kulturellen Entfremdung" und die psychischen Auswirkungen der Arbeit (siehe links). Rein subjektiv bleibt von der Verteilaktion haften, dass die Leute es wenig absurd fanden, dass Europäer (einige Verteilaktionen liefen ohne FreundInnen der Workers Solidarity) bei ihnen vorm Laden stehen und von Streiks bei sich zu Hause berichten, dass es kein grosses Problem war, auf direkter Ebene miteinander über das Weltsystem und seine Auswirkungen zu quatschen. Nach ebenfalls subjektiver Einschätzung scheint auch im indischen Call center-Boom die individuellen Lösungen (Jobwechseln etc.) als Reaktion auf Arbeitsstress und zunehmende Unsicherheit angeseichts Ausglieder- und lagerungen ihre Relevanz zu verlieren. Interessant wäre, wenn erste kollektiveren Konflikte mit den noch laufenden Auseinandersetzungen um Verlagerungen im Westen zusammenfallen würden.


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