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Updated: 18.12.2012 15:51
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Griechische Statist(ik)en?

Plädoyer für eine andere Integration - von Theodoros Paraskevopoulos*

Anfang Dezember hatte die Redaktion des express zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen in Frankfurt a.M. eine Veranstaltung über: »Die Krise, die aktuelle Lage in Griechenland und die Aufgaben der Lohnabhängigen« gemacht, bei der Theodoros Paraskevopoulos referierte. Die von ihm am Ende formulierten Aussichten und Hoffnungen setzen ein Verbleiben Griechenlands im Euroraum und der EU voraus. Beides steht nach wie vor auf der Kippe. Bis zum Redaktionsschluss verhandelte die griechische Regierung hart mit Banken und Fonds über einen Schuldenerlass (»Haircut«) in Höhe von 100 Milliarden Euro. Dieser ist - wie auch die Umsetzung der vielen Sparpläne - die Voraussetzung für das zweite Kreditpaket der Euro-Staaten und des Internationalen Währungsfonds für Griechenland. Da die geforderten »Reformen« und Sparpläne nicht greifen, wurde kurzfristig von deutscher Seite überlegt, einen EU-Kommissar in die Wiege der Demokratie zu schicken, um der demokratisch gewählten Regierung zu sagen, wo's lang geht. Das wurde von den anderen EU-Ländern abgelehnt. Wir sind gespannt, wie es weitergeht und werden uns am 5. Mai erneut im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung mit dem Thema »Europa, die Krise und die Linke« beschäftigen.

Die Vorgeschichte der griechischen Krise

Zwei Besonderheiten der heutigen, so genannten neoliberalen Phase des Kapitalismus sind für die griechische Staatschuldenkrise verantwortlich. Erstens die allgemeine Steuerlastminderung für Kapitalerträge und Vermögen: eine Minderung, die angeblich Mittel für Investitionen freisetzen sollte, in Wirklichkeit aber nur die Staatseinnahmen verminderte und das Instrument der gezielten Steuererleichterung bei gewünschten Investitionen abschaffte. Zweitens die Expansion der privaten Verschuldung, die die Einkommensminderung oder Stagnation bei den unteren Einkommensschichten kompensierte und für eine Weile für eine höhere Nachfrage sorgte.

Die Steuerflucht bei Unternehmen jeder Größenordnung und bei Selbständigen wurde teilweise als Wachstumsinstrument und teilweise als Herrschaftsinstrument benutzt; der Staat legalisierte sogar die Steuerfluchtgewinne, indem er die Möglichkeit schuf, sie durch den Kauf von Staatsanleihen, deren Erwerb von der Kontrolle durch die Steuerbehörden ausgenommen wurde, reinzuwaschen.

Hinzu kam - als griechische Besonderheit - der Rüstungswettstreit mit der Türkei, der in Wirklichkeit ein Wettstreit um die regionale Vormachtstellung in Südosteuropa und im östlichen Mittelmeer ist. Griechenland und die Türkei wurden die besten Kunden deutscher, französischer und US-amerikanischer Rüstungskonzerne mit den (in Prozent des Sozialprodukts) zweithöchsten Militärausgaben in der NATO nach den USA. Beide Länder kauften Waffensysteme, wie deutsche U-Boote der Klasse 214 oder französische FREMM-Fregatten, die kaum Verteidigungszwecken dienen, sondern reine Angriffswaffen sind und eher in die globale NATO-Strategie passen.

Außerdem übernahm und organisierte Athen trotz vieler Warnungen die Olympischen Spiele 2004, die, wie auch von offizieller Seite gesagt wurde, eben diese Vormachtstellung demonstrieren sollten und die Staatsschuld in die Höhe trieben.

Auf der anderen Seite gelang es trotz vieler Anläufe weder der sozialdemokratischen PASOK noch der konservativen Nea Demokratia (ND) - den beiden Parteien, die in den letzten 45 Jahren die Regierung stellten -, Sparprogramme zu Lasten der Lohnabhängigen konsequent durchzuführen, z.B. das Rentenalter zu erhöhen, einen Teil der Rentenversicherung oder die Hochschulbildung zu privatisieren. Die Proteste der Bevölkerung waren so stark, dass entsprechende Gesetze gar nicht verabschiedet oder nicht umgesetzt werden konnten.

Zur Rolle des Euro

Es wird immer wieder die Frage gestellt, warum denn wirtschaftlich schwache Staaten wie Griechenland oder Portugal in die Währungsunion eingetreten sind oder eintreten wollen. Die Einheitswährung nimmt ihnen doch jede Möglichkeit, durch eine Abwertung der Nationalwährung die einheimische Produktion zu schützen und den Export zu fördern. Und wenn die Regierungen dies aus politischen Gründen wollten, warum haben sich die Unternehmer nicht dagegen gewehrt?

Tatsache ist, dass sich ein Teil des griechischen Kapitals durchaus der internationalen Konkurrenz stellen wollte und es immer noch will. Es handelt sich dabei um moderne Unternehmen, die erfolgreich im internationalen Markt operieren: z.B. Teile der Metallindustrie, die Erdölverarbeitung, die Zementindustrie, Teile der Nahrungsmittelproduktion u.a. Sie erwarteten damals, dass sie durch den harten Euro einen Vorteil gegenüber ihren griechischen Konkurrenten bekämen, dass sich andere europäische Kapitale mit ihnen verbünden oder sich an ihren Unternehmen beteiligen würden, dass sie sich zu niedrigen Zinsen würden finanzieren können und dass die harte Währung - für griechische Verhältnisse eigentlich überbewertet - sich als Disziplinierungsinstrument auf dem Arbeitsmarkt benutzen ließe. Schließlich waren die griechischen Banken bestrebt, den Markt in Südosteuropa zu beherrschen. Alle diese Erwartungen haben sich bestätigt. Andere Wirtschaftszweige jedoch, die nicht so modern und wettbewerbsfähig waren, gingen unter.

Von großem Vorteil für die griechischen Kapitalisten war die billige Arbeitskraft der MigrantInnen. Dabei erwies sich insbesondere der illegale Status der Mehrheit dieser Menschen als günstig, weil dadurch der Druck auf die Löhne erst richtig zu voller Wirkung kam. Das erklärt zum Teil auch das Zögern des Innenministeriums, schnell Legalisierungsmaßnahmen zu beschließen und sie zügig durchzuführen.

Darüber hinaus begünstigte die relative Preisstabilität die Besitzer festverzinslicher Wertpapiere und erleichterte die Finanzierung der Unternehmen wie auch des Staates. Auf diese Weise konnte die ständige Erweiterung des Handelsbilanzdefizits leicht finanziert werden.

Etwa fünf Jahre lang prosperierte die griechische Wirtschaft, auch dank der Mittel aus europäischen Töpfen, mit Wachstumsraten bis zu 5,4 Prozent. Es war ein Wachstum auf Pump, das aber mindestens gereicht hätte, um die Staatsfinanzen zu sanieren, wenn, wie es die ökonomische Vernunft gebieten würde, in jener Zeit des Wachstums das Finanzamt die höheren Einkommen stärker belastet hätte. Wenn Kapital und Vermögen in Griechenland der durchschnittlichen europäischen Steuerbelastung unterlägen, hätte der Staat in den letzten zehn Jahren fast 100 Milliarden Euro mehr Einnahmen erhalten, also fast die Summe, die er sich mit dem ersten Memorandum von der Troika geliehen hat. Hier zeigt sich, wie wahr das Wort ist, dass Staatsschulden immer die Steuern sind, die Reiche nicht zahlen. Stattdessen gab es neue Steuerminderungen, eine Orgie der Steuerflucht und -hinterziehung, der Skandale bei der Vergabe und Durchführung öffentlicher Aufträge oder bei der Veräußerung öffentlichen Eigentums. Die Regierungen handelten nach dem Prinzip: Je mehr Geld bei den Privaten bleibt, desto mehr wird investiert.

Wie falsch dieses neoliberale Dogma ist, hat sich im Fall Griechenland gezeigt: Tatsächlich war das Wachstum vor allem auf Staatsaufträge und -ausgaben zurückzuführen sowie auf den Konsum, der seinerseits z.T. mit Darlehen finanziert wurde und die Verschuldung der Privathaushalte erhöhte.

Zur Rolle Deutschlands

Die Behauptung, dass die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik der Agenda 2010 dazu geführt habe, dass die deutsche Industrie die Industrien der anderen Länder niederkonkurriert hat, ist zumindest vereinfachend. Auf jeden Fall gilt sie nicht für alle Handelspartner Deutschlands. Richtig an dieser Theorie ist, dass Deutschland sich zum Anführer einer Politik des Lohndrucks und Sozialabbaus in der gesamten Europäischen Union aufgeschwungen hat. Das widerspricht keineswegs den Interessen griechischer Kapitalisten, vor allem der besonders erfolgreichen, exportorientierten Kapitale, und ist auch nicht gegen sie gerichtet, sondern gegen die Lohnabhängigen in Deutschland und, zumindest indirekt im Sinne eines >erfolgreichen< Beispiels, gegen die Lohnabhängigen auch in allen anderen Ländern. Diese Politik begünstigt natürlich die deutschen Exporte. Die griechische Wirtschaft ist aber eher importorientiert - also keine unmittelbare Konkurrenz zur deutschen.

Wahr ist jedoch, dass die deutsche Austeritätspolitik den deutschen Binnenmarkt insgesamt beschränkt. Insofern würde eine andere Lohn- und Sozialpolitik in Deutschland die Importe aus anderen Ländern erleichtern, die Touristenströme aus Deutschland in den Süden vergrößern, zum Ausgleich der Außenbilanzen beitragen und das Wachstum fördern.

Darüber hinaus verhindert die deutsche Europapolitik eine Harmonisierung mittels Erhöhung des EU-Haus-halts und eines Finanzausgleichs innerhalb der Union. Das ist aber unbedingte Voraussetzung einer Einheitswährung. Der andere Weg - der Stabilitätspakt und seine Verschärfung mit den Beschlüssen des Europäischen Rats vom 9. Dezember 2011 - führen hingegen zu immer größeren sozialen und ökonomischen Abweichungen innerhalb Europas: Die strikte Staatsfinanzdisziplin in Verbindung mit ständiger Steuerlastminderung für Kapitaleinkommen als Mittel der Standortkonkurrenz hat für die schwächeren Länder verheerende Folgen, wie sich jetzt vor allem im europäischen Süden zeigt. Das allerdings sind nicht die Folgen einer Umverteilung zwischen Staaten, sondern zwischen öffentlichen und privaten Haushalten, die sich für die unteren Schichten immer schlimm auswirkt. Die Krise ist also nicht eine Frage des Kampfes zwischen Deutschland und Griechenland oder zwischen Staaten und Nationen überhaupt, sondern eine Frage des Klassenkampfes zwischen Arbeit und Kapital in Europa, innerhalb der Staaten und über Nationalstaatsgrenzen hinweg.

Insofern sind auch Positionen falsch, die in Griechenland auch von Linken - wenn auch als Minderheitspositionen - vertreten werden, die unterstellen, dass es so etwas wie ein Besatzungsregime gebe und eine breite Front aller nationalen Kräfte aufgebaut werden müsse. Die Konsequenz, die Vertreter dieser Ansicht ziehen, ist, dass Griechenland einen Zahlungsstopp deklarieren, aus der Eurozone austreten und eine Politik des Wiederaufbaus mit Hilfe von Währungsabwertungen betreiben müsse. Das ist nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch falsch. Krisen entwickeln jedoch ihre eigene Dynamik und man kann nicht ausschließen, dass tatsächlich die Währungsunion platzt oder einem zahlungsunfähigen Staat keine EU-Kredite mehr gewährt werden. In einem solchen Fall ist natürlich Griechenland der erste Kandidat. Aber es kann nicht der Inhalt linker Politik sein zu entscheiden, in welcher Währung die Renten gekürzt werden, der Rückkehr in die Nationalstaaterei das Wort zu reden und der Konkurrenz zwischen z.B. griechischen und portugiesischen Lohnabhängigen mit dem Instrument der Nationalwährungsabwertung den Weg zu bereiten.

Politik in und mit der Krise

Am Anfang schien die Krise der griechischen Wirtschaft nicht viel anhaben zu können. Das griechische Wirtschaftsmodell schien widerstandsfähig genug, um die erste Zeit der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 heil zu überstehen. Das lag hauptsächlich daran, dass die griechischen Banken kaum in US-amerikanische strukturierte Papiere investiert und sich überhaupt bei Geschäften in eigener Rechnung sehr konservativ verhalten hatten. Die Situation änderte sich, sobald sich zeigte, dass es sich nicht um eine Bankenkrise handelte, sondern um eine echte Wirtschaftskrise. Der Einbruch der Staatseinnahmen infolge der verminderten Wirtschaftstätigkeit und die Unmöglichkeit, infolge der Arbeitslosigkeit, der Rettungsaktionen für die Banken und der Zinszahlungen für die öffentliche Schuld die Staatsausgaben entsprechend zu vermindern, ließen das Haushaltsdefizit auf fast 15 Prozent des BIP anwachsen. Zwischen 2009 und 2011 verringerte sich die Wirtschaftsleistung um insgesamt fast zehn Prozent und die Arbeitslosigkeit stieg offiziell von acht auf 17 Prozent.

Bis Ende 2009/Anfang 2010 gab es noch viele Möglichkeiten, einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden. Die Zinsen für griechische Staatsanleihen waren noch niedrig und die zweite Bankenkrise noch nicht ausgebrochen. Eine schnelle Steuerreform, die hohe Einkommen, große Vermögen - wenn nötig in konfiskatorischer Höhe - und den Luxuskonsum entsprechend den Bedürfnissen der Staatsfinanzen belastet hätte, hätte zu einer Lösung geführt. Es scheint aber, dass die bürgerlichen politischen Kräfte, allen voran die PASOK, andere Pläne hatten. Schon als Oppositionsführer hatte Giorgos Papandreou Gespräche mit dem damaligen IWF-Direktor Strauss-Kahn über eine Intervention des Fonds in Griechenland geführt. Bald nach seinem Wahlsieg sprach er öffentlich von der »maroden« griechischen Wirtschaft und der Unfähigkeit des griechischen Staates, die Krise zu meistern. Kurz nach der Unterschrift des Memorandums über die so genannte Stabilisierungshilfe und die Rolle der »Troika« aus IWF, EZB und EU-Kommission äußerte der stellvertretende Ministerpräsident, dass die Troika - wenn es sie nicht gäbe - erfunden werden müsste.

Der nahe liegende Schluss aus diesem scheinbar irrationalen Gebaren ist, dass die Durchführung des Troika-Programms auch von der griechischen Regierung gewünscht war. Es handelt sich in der Tat größtenteils um Maßnahmen, die die Regierungen in den letzten 20 Jahren durchzusetzen versuchten, die jedoch ständig am Widerstand der Betroffenen scheiterten. Noch heute nehmen Regierungsvertreter in öffentlichen Äußerungen eher am Tempo der Maßnahmen Anstoß als an deren Inhalt. Diese Schlussfolgerung bekräftigt der Athener Staatsanwalt für Wirtschaftskriminalität. Er hat eine Untersuchung eingeleitet, die klären soll, ob 2010 auf Druck der Eurostat und der griechischen Regierung das griechische Amt für Statistik Zahlen gefälscht hat, damit ein höheres Staatsbudgetdefizit herauskommt - um auf diese Weise leichter Sparmaßnahmen durchsetzen zu können. Zu den berüchtigten greek statistics kommen nun die genauso verheerenden european statistics hinzu.

Es scheint, dass die Regierenden und ihre Berater sich verschätzt haben, was das Ausmaß und die Dauer der Krise betrifft. Am Anfang glaubte man, dass die Krise international 2010 zu Ende gehe und infolgedessen auch Staaten wie Griechenland zum Wachstum zurückkehren und ihre Staatsfinanzen in den Griff bekommen würden. Der >Gewinn der Krise< wären die Abschaffung jeglichen Schutzes der Arbeit, die Veränderungen im Sozialversicherungswesen und die Privatisierung öffentlichen Eigentums gewesen, die im und mit dem Schock der Krise durchgesetzt werden konnten.

Widerstand regt sich

In den ersten März-Tagen 2010, als die Regierung mit der Zahlungsunfähigkeit drohte, war die Bevölkerung schockiert. Außerdem protestierte die Gewerkschaftsführung nur lahm und zeigte sich unwillig, die Lohnabhängigen zu mobilisieren. Erst langsam bildete sich der Widerstand, vor allem als das Ausmaß der Einschnitte bekannt wurde (die bei weitem nicht so drastisch waren wie das, was im Jahr 2011 folgte). Erst im Mai 2010 fasste der Widerstand richtig Schritt mit Massendemonstrationen und Streiks. Von Anfang an war die Präsenz von Provokateuren sichtbar. Zahlreiche Zeugenberichte, Fotos und Videoaufnahmen dokumentieren dies.

Bei einer der größten Kundgebungen im Athener Stadtzentrum wurden Brandsätze gegen ein Bankgebäude geworfen; vier Menschen, die sich darin aufhielten, kamen im Feuer um. Dies hat sich für lange Zeit auf die Mobilisierung ausgewirkt. Abscheu oder auch Angst hielt viele Menschen von der Teilnahme an weiteren Demonstrationen ab. Die Tätigkeit von Provokateuren, die teils Angehörige der Polizei selbst und teils Mitglieder neofaschistischer Gruppen sind, setzte sich fort. Vor Kurzem konnte man sogar in den Fernsehnachrichten sehen, wie eine kleine, mit Eisenstangen bewaffnete Gruppe von Demonstranten gestellt, dann sofort von der Polizei befreit und durch die Absperrungen zum Parkplatz im Keller des Parlamentsgebäudes geführt wurde. Diese Aktivitäten haben leider viele Linke, vor allem die Kommunistische Partei, dazu verleitet, jeden Zusammenstoß mit der Polizei, jeden Steinwurf als Provokation zu diffamieren und Autonome oder AnarchistInnen insgesamt anzuprangern.

Höhepunkt der Bewegung waren - nach ägyptischem und spanischem Vorbild - die Besetzungen öffentlicher Plätze in den meisten griechischen Städten. Allerdings werden in der öffentlichen Wahrnehmung oft nur diese Höhepunkte beachtet und die täglichen Auseinandersetzungen in Betrieben, in den Schulen und Hochschulen, in den Wohnvierteln, die eben zu diesen Höhepunkten führen, übersehen. Auf den besetzten Plätzen blieben ganze Nächte lang oft Tausende, die heftig und lang über Fragen der Wirtschaftspolitik, über Demokratie, über den Charakter der EU und der Währungsunion diskutierten; es wurden Fachleute bestellt, die Referate hielten, über die dann diskutiert wurde - nach strengen Regeln, ohne Zwischenfälle oder Streit. Besonders kontrovers wurde die Frage der parlamentarischen Arbeit diskutiert. Es fanden tatsächlich Lernprozesse statt. Abgeordnete und Funktionäre der Linken lernten, dass sie sich nicht einfach aufstellen und den Menschen sagen konnten, wo es lang geht. Sie konnten aber auch über die Notwendigkeit der parlamentarischen Arbeit diskutieren und viele davon überzeugen, dass diese Sinn und Zweck hat. Inzwischen ist es so, dass sich praktisch nur noch Politiker der Linken öffentlich zeigen können.

Einschränkung der Demokratie

Ergebnis der Protest- und Widerstandsbewegung war, dass die Regierung praktisch zweimal gestürzt wurde. Im Juni 2011 nahm der Ministerpräsident allerdings seinen Rücktritt nach sechs Stunden zurück, als klar wurde, dass keine Koalition gebildet werden konnte und dass bei Wahlen die bürgerlichen Parteien auf ein historisches Tief absinken würden. Fünf Monate später war es dann soweit. Nachdem am 28. Oktober Demonstranten in mehreren Städten die Militärparade zum griechischen Nationalfeiertag verhindert hatten, verkündete Papandreou ein Referendum über das Abkommen mit der Troika. Das sollte im Januar oder Februar stattfinden. Viele Politiker seiner sozialistischen Partei, darunter auch Minister, verweigerten ihm die Gefolgschaft, ein Minister erklärte sogar, dass dieses Referendum (das doch sein Ministerpräsident verkündet hatte) nicht stattfinden werde.

Das Referendum hatte Erpressungscharakter: Wenn Ihr nicht zustimmt, gehen wir pleite, und es können keine Renten mehr bezahlt werden; das impliziert die unwahre Behauptung, dass die griechischen Steuereinnahmen nicht für die laufenden Ausgaben reichen. Sie reichen aber durchaus, wenn man aufhört, die Staatsschuld zu bedienen. Wie auch immer, auch so war der Ausgang des Referendums ungewiss - daher die Aufregung in der Regierungspartei, aber auch in Brüssel, Berlin und Paris. Merkel und Sarkozy forderten, das Referendum mit der Frage des Verbleibs Griechenlands in der Eurozone zu verbinden oder überhaupt abzusagen. Nun war klar, dass die Regierung nicht mehr weiterkonnte, und es wurde die Dreiparteienkoalition aus Sozialisten (PASOK), Konservativen (Nea Demokratia) und Rechtsaußen (LA.O.S.) gebildet. Bei der Ernennung des neuen Ministerpräsidenten, des Bankiers Papadimos, wurde eindeutig die Verfassung gebrochen - ebenso wie die Geschäftsordnung des Parlaments. Aber auch die (erfüllte) Forderung der Troika an alle Regierungsparteien, sich schriftlich für alle Zukunft auf den Sparkurs der Troika zu verpflichten, schränkt die parlamentarische Demokratie ein, weil die innerparteiliche Willensbildung nicht mehr frei ist und die Wähler keine echte Alternative mehr haben werden. Diese Methode wurde auch in Irland, Portugal, Spanien und Italien angewandt - sie ist die institutionelle Absicherung der TINA (There Is No Alternative)-Doktrin der eisernen Lady Thatcher. Diese Situation hat eine politische Krise verursacht, die das bürgerliche Parteiensystem in Griechenland mit noch unabsehbaren Folgen erschüttert.

Die Aussicht

Griechenland ist so stark in sein internationales Umfeld - d.h. vor allem in der EU - eingebunden, dass ein nationalstaatlicher Ausweg aus der Krise kaum möglich ist. Insofern, aber auch aus Gründen linken Selbstverständnisses, ist auch eine linke Politik nur in europäischem Rahmen möglich, d.h. sie bleibt zwar nationale Politik, weil die Nationalstaaten Politik betreiben, muss aber die europäische Dimension miteinbeziehen, vor allem die Vernetzung der Widerstände europaweit und ihre Einbindung in eine europäische Perspektive. Was uns heute fehlt, ist ein lebendiges, aktives Europäisches Sozialforum.

Forderungen, wie sie z.B. in Deutschland von der Partei »Die Linke« , aber auch vom DGB gestellt werden, nach einer europäischen Vermögensabgabe, nach einer veränderten Rolle der EZB und nach öffentlicher Kontrolle des gesamten Kreditwesens, nach einer Politik des Zahlungsbilanzausgleichs durch Stärkung des Binnenmarkts der Überschussländer könnten Bausteine eines linken Programms zur Krisenüberwindung in der EU sein.

In Griechenland selbst ist m.E. das wichtigste, die Zersplitterung der Linken zu überwinden. In dieser Phase, wo jeder Schutz der Arbeit rapide und brutal abgebaut wird, wo aber auch in den Protestkundgebungen und in den Versammlungen der Linken sehr viele neue Gesichter auftauchen, wo die Menschen gierig auf Antworten warten, und die Wahlprognosen der Umfrageinstitute Ergebnisse für die Linke von bis zu 40 Prozent (zusammengezählt) vorhersagen, ist es absolut unerklärlich, dass darüber gestritten wird, ob erst die Macht ergriffen werden müsse oder ob im Sozialismus Griechenland noch der EU angehören soll oder wird...

* Theodoros Paraskevopoulos ist Wirtschaftswissenschaftler und Berater der Parlamentsfraktion des griechischen Linksbündnisses SYRIZA; er lebt in Athen.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/12
express im Netz unter: www.express-afp.info externer Link, www.labournet.de/express externer Link


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