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Updated: 18.12.2012 15:51
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Frankreich, Kämpfe der "illegalisierten" Einwanderer:

Sans papiers marschieren zu Fuß von Paris nach Nizza - Heute früh kehrten sie in die Hauptstadt zurück. Am Am Rande des französisch-afrikanischen Gipfels konnten sie ihr Anliegen vortragen, und die Weltöffentlichkeit erreichen

Paris am heutigen Mittwoch, am Stadtbahnhof Gare d'Austerlitz, um circa 7.30 Uhr: Ankunft der Männer - und einigen Frauen - in den gelben Neonjacken, mit dem stilisierten Fußsymbol und der Aufschrift "Paris/Nizza zu Fuß: Legalisiert alle illegalisierten Einwanderer". Auf den Bahnsteigen wartet schon eine Menge von UnterstützerInnen. Im Anschluss zieht ein Demonstrationszug den Vormittag durch quer durch Paris, am Lyoner Bahnhof, der Place de la République , am Ost- und dem Nordbahnhof entlang. Boulevard de Magenta, Boulevard Barbès. Die Menge nimmt zu; 500 bis 1000 Leute, Einwanderer und Unterstützer/innen, ziehen die breiten Straßen hindurch. Am Rande stehen Leute und schauen zu, einige winken. Auf der Höhe der Métrostation Barbès-Rochechouart sind einige Arbeiter - meist selbst migrantischer Herkunft - auf dem Trottoir mit Ausschachtungsarbeiten beschäftigt. Sie schauen herüber; einer grüßt: "Cousins!" Schlussendlich kommt die Menge gegen 11 Uhr im "Ministerium für die Legalisierung aller Einwanderer" an, dem Gebäude im 18. Pariser Bezirk (rue de Baudelique), das der Sozialversicherungskasse gehört und seit Juli 2009 durch rund eintausend Sans papiers oder illegalisierte Einwanderer besetzt ist. Trommelwirbel, riesige Transparente werden ausgerollt, Begrüßungsszenen. Anschließend Kundgebung: Delegierte der Sans papiers, Marschteilnehmer und eine sehr energische Teilnehmerin -Samia - reden, einer verliest das Kommuniqué, das am Vortag in Nizza verfasst worden war.

Seit dem 12. Oktober 2009 befinden sich rund 6.000 travailleurs sans papiers (oder "undokumentierte Arbeiter") ununterbrochen im Streik, um ihre "Legalisierung" zu erreichen, prallen aber vielerorts an einer eisenharten Haltung der Regierung und der Behörden ab. Hinter den Kulissen ist die Streikbeteiligung abgebröckelt, da das Ausbleiben von Ergebnissen viele entmutigt und da die Leute von etwas leben müssen. Der sehr spektakuläre Fußmarsch hat dem Kampf der Migranten für ihre rechtliche Anerkennung - und die daraus erwachsenden gesellschaftlichen Rechte, denn nur wer über einen Aufenthaltstitel verfügt, hat ein Recht auf Bezüge der Arbeitslosenversicherung oder volle Absicherung durch die Krankenkasse - jedoch neuen Schwung verschafft.

Etwa 80 von ihnen, zusammen mit um die fünfzehn Personen aus der Unterstützerszene, marschierten seit gut einem Monat zu Fuß quer durch Frankreich, um von Paris aus Nizza zu erreichen. Unter ihnen elf, die an der Besetzung im achtzehnten Pariser Bezirk teilnehmen. Überall, wo sie durchkamen - sie legten 35 bis 40 Kilometer pro Tag zurück, zum größeren Teil zu Fuß und zu einem Drittel mit dem Zug -, wurden Unterstützungsveranstaltungen und Demonstrationen unterstützt. Die französische Linke, Solidaritätsinitiativen und zum Teil Gewerkschaften organisierten sich dafür vor Ort. Zahlreiche Rathäuser - sozialdemokratische, kommunistische, von kleineren Linksparteien regierte, aber in zwei Fällen auch sogar Kommunalregierungen der bürgerlichen französischen Regierungspartei (UMP) - stellten ihnen Turnhallen zum Übernachten, kostenloses Frühstück oder Abendessen zur Verfügung. Auch wenn andere Rathäuser, viele konservativ und einige sozialdemokratisch geführte, ihrerseits jedwede Unterstützung verweigerten: Insgesamt "wurden wir durch die Franzosen gehätschelt", berichtet ein Redner von der ,Coordination nationale des sans papiers' am späten Vormittag des heuten Mittwoch auf der Kundgebung. "Die Lokalpresse hat ihren Job verrichtet, und überall anständig über uns und unser Anliegen berichtet". Zahlreiche Radioberichte ergänzen die Information der Öffentlichkeit über den Marsch.

Nach Paris kehrten die Sans papiers im Zug zurück, dank der Unterstützung durch Eisenbahnergewerkschaften (SUD Rail), um Ärger mit Kontrolleuren zu vermeiden. Am Samstag wird ab 14 Uhr zusätzlich noch rund um die Marschierer/innen eine Demonstration in der Hauptstadt organisiert.

An diesem Montag, 31. Mai hatten die Marschierenden pünktlich zum Auftakt des dort (am Montag und Dienstag stattfindenden), 25. "Frankreich-Afrika-Gipfels" von über 40 Staats- und Regierungsechefs Nizza erreicht. Bei ihrer Ankunft dort durften die Sans papiers jedoch nicht zu Fuß in die Stadt, sondern wurden in einen Bus gesetzt und mussten im Anschluss in einem relativ entlegenen Außenquartier demonstrieren. Doch über ihre Ankunft und ihre Demo berichtete der einflussreiche Rundfunksender ,Radio France Inter' live. "Wir durften nicht zu Fuß in die Stadt, sondern wurden durch Busse der CRS (kasernierten Bereitschaftspolizei) eskortiert, aber politisch hatten wir gewonnen", meint einer der Redner am heutigen Vormittag.

Die Protestmarschierer wollten die versammelten Staatschefs auf ihre Lage aufmerksam machen. Und sie möchten erreichen, dass die konsularischen Vertretungen der afrikanischen Staaten keine "diplomatischen Passierscheine" mehr ausstellen, die es den Behörden Frankreichs erlauben, auch Personen ohne gültige Reisedokumente - mangels vorhandener Ausweispapiere - dennoch abzuschieben. Die Konsulate der meisten afrikanischen Länder verhalten sich dabei sehr gefügig gegenüber französischen Forderungen. Im Gegensatz etwa zu jenen mehrerer Staaten Lateinamerikas, seitdem deren Linksregierungen - allen voran jene Ecuadors unter Rafael Correa, anlässlich eines Abschiebeskandals um zwei seiner Staatsbürgerinnen in Belgien - vor anderthalb Jahren erklärten, dass die bei Abschiebungen unerwünschter Immigranten aus Europa grundsätzlich nicht länger kooperieren.

Geklaute Sozialbeiträge zurück?!

Die meisten afrikanischen Potentanten reagierten zwar nicht auf die Forderungen der Protestmarschierer. Die Regierung des westafrikanischen Mali zeigten sich hingegen bereit, die protestierenden Sans papiers - unter ihnen einige ihrer Landsleute - zu empfangen. Malis Präsident "ATT" (Amadou Toumani Touré) hatte zwei Unterredungen mit dem malischen Staatsbürger Boubacar Diallo, der früher als Journalist in Bamako und Kayes tätig gewesen war.

Mali, das zudem eines der wenigen positiven Beispiele im französisch kontrollierten (d.h. neo-kolonisierten) Teil des Kontinents für eine gelungene Demokratisierung "von unten" ist, seitdem die Bevölkerung im Frühjahr 1991 den Diktator Moussa Traoré verjagte, hat in den letzten Jahren immer wieder französischem Druck zur "Rücknahme" unerwünschter Einwanderer widerstanden. Ein halbes Dutzend mal wurde in den letzten Jahren die Unterzeichnung eines "Rücknahmeabkommens" von französischer Seite angesetzt - und durch Mali verweigert. Vor Ort bestehen mehrere zivilgesellschaftliche Initiativen, die zum Thema arbeiten, wie beispielsweise die AME ("Assoziation abgeschobener Malier"), die sich um zwangsrückgeführte Migranten kümmern und die Behörden erheblich unter Druck setzen.

Die Behörden Malis haben sich ferner einem Anliegen angeschlossen, für das seit nunmehr anderthalb Jahren in Frankreich eine Kampagne von NGOs und Solidaritätsvereinigungen läuft: Jene Sozialbeiträge von Landsleuten, die als (zum Teil auch "illegalisierte") Einwanderer in Frankreich arbeiteten, dort aber nicht blieben sondern das Land - freiwillig oder unfreiwillig - wieder verließen, zurückzuholen. Bisher "klaut" Frankreich die Sozial-, Krankenkassen -und Rentenbeiträgen jener Abgeschobenen oder Ausgereisten, die nicht auf seinem Boden bleiben und für die solcherlei Beiträge definitiv - ohne Gegenleistung - "verloren" sind. Was Mali nun in Verhandlungen mit den französischen Regierungsstellen erreichen konnten, war, dass die Behörden des westafrikanischen Landes jedenfalls im Falle einer freiwilligen Ausreise (also nicht per Abschiebung erzwungenen Ausreise) zumindest die "umsonst" geleisteten Beiträge der Betreffenden einsammeln können:

Am Nachmittag des 31. Mai erklärte auch einer der neokolonialen Vassallen Frankreichs, der Präsident der Erdölrepublik Congo-Brazzaville: Denis Sassou-Ngessou, er habe "ein offenes Ohr" für die Anliegen der Sans papiers. Aus dem Munde des ultrakorrupten kongolesischen Potentanten, der das Geld seines Landes stiehlt und auf insgesamt 113 Bankkonten in Frankreich parkt, ist dies zwar reine Demagogie. Es belegt aber, dass die Aktion der "Illegalisierten" breite Aufmerksamkeit erwecken konnte.

Anlässlich der Pressekonferenz zum Abschluss des neokolonial geprägten "Frankreich-Afrika-Gipfels", am gestrigen Dienstag, konnte einer der Vertreter der ,Coordination nationale des Sans papiers'- der einen Button hatte erhalten können - ebenfalls teilnehmen. "In vier Metern Entfernung von Nicolas Sarkozy", wie er heute Vormittag in der rue Baudelique präzisierte. Neben dem französischen Präsidenten nahmen der südafrikanische Staatschef Jacob Zuma, der (neue) Präsident Nigerias und das Staatsoberhaupt von Malawi - derzeit auch Vorsitzender der Afrikanischen Union - an der Pressekonferenz teil. Rund 200 Journalisten waren gekommen. Drei von ihnen stellten auch kritische Fragen, darunter nach den Sans papiers und ihrem Marsch, auf die Sarkozy ausweichend antwortete ("Wir haben das Thema Migration unter einem anderen Aspekt angesprochen", bezüglich der qualifizierten bzw. ein Unternehmen gründenden Migranten, "nicht alle in Frankreich lebenden Afrikaner sind Sans papiers"). Aber das Thema war unter den Augen der Weltpresse angeschnitten worden.

Nähere Einzelheiten dazu und Aufnahmen demnächst an dieser Stelle.

Bernard Schmid, 02.06.2010


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