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Updated: 18.12.2012 15:51
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Wiederkehr des Datenspeichers EDVIGE:

Was aus der Tür hinaus geworfen werden konnte, kehrt durch das Fenster zurück

Wenn Ihr nichts zu verbergen habt, liebe Regierende, warum verabschiedet Ihr dann Eure Dekrete so gerne an einem Sonntag - wenn nicht gleich, wie unter dem Sarkozy-Regime inzwischen in vielen Fällen üblich, im Hochsommer? Warum tut Ihr es dann quasi "klammheimlich", am Parlament vorbei, obwohl es seit dem März 2009 eine Arbeitsgruppe zum selben Thema (polizeiliche Datenspeicherung) in der französischen Nationalversammlung gibt? Und warum reagiert Ihr dann so empfindlich auf Kritik?

Vor genau einem Jahr musste die französische Rechtsregierung einen Rückzieher beim Thema polizeiliche Datenspeicherung machen. Es handelte sich um den ersten Rückzug der regierenden Konservativen seit dem Beginn der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys, im Bereich der "Inneren Sicherheit". Damals hatte die Verabschiedung des Dekrets zur Schaffung des Datenspeichers EDVIGE, am 1. Juli 2008 (wie zufällig, pünktlich an der Schwelle zu den Sommerferien), heftige Reaktionen unter anderem seitens der Gewerkschaften ausgelöst. Kein Wunder!, denn die gewerkschaftliche Betätigung war damals - neben der politischen Aktivität, der sexuellen Orientierung, dem Gesundheitszustand sowie der "ethnischen Herkunft" und sogar "Rassenzugehörigkeit" - eines der Kriterien, das in EDVIGE hätte abgespeichert werden dürfen. (Labournet berichtete damals ausführlich. Vgl.: edvige.html und edvige2.html ) Die Datei EDVIGE sollte es - unter einem vagen Oberbegriff - erlauben, all diejenigen Personen zu speichern, die "sicherheitsgefährdend" oder "sicherheitsrelevant" waren. Aus letzterem Grund sollten auch diverse Prominente aus Politik, Wirtschaft und (Zivil-) Gesellschaft sowie potenzielle "Ansprechpartner für die Staatsorgane" in die Datei eingespeichert werden können. Dadurch wurde offen das Abspeichern der Namen auch von Gewerkschaftsmitgliedern gerechtfertigt.

Der massive Druck von Gewerkschaftsverbänden, NGOs, JournalistInnen und anderen Akteurinnen sorgte damals dafür, dass die Regierung das Dekret vom 1. Juli 2008 zurückzog - und eine "gründliche Überarbeitung" versprach.

Nun ist es soweit. Am Sonntag (!) wurden die beiden Regierungsdekrete veröffentlicht, die nunmehr die Einführung zweier getrennter Datenspeicher vorsehen: Der erste betrifft "sicherheitsgefährdende" Personen, unter ihnen sind besonders die Mitglieder von "Jugendbanden, Hooligan(gruppen), Sekten und militanten Splittergruppen" im Visier. Eine prima Rechtfertigung fand die Regierung dabei durch die idiotische Krawalldemo, die rund 100 "Autonome" am 10. Oktober im westfranzösischen Poitiers veranstalteten - wo sie sich unter eine Anti-Knast-Demo mischten und die Innenstadt teilweise entglasten. Innenminister Brice Hortefeux posaunte daraufhin lautstark hinaus, die Polizei sei durch das dort frei gewordene "Gewaltpotenzial" total "überrascht" worden, und es müsse deswegen ein neuer spezieller Datenspeicher her. Innerhalb von fünf Tagen war das Dekret dazu fertig - selbstverständlich hatte man längst vorhandene Pläne dazu aus den Schubladen hervor gezogen. (Vgl. dessen Text hier externer Link) Der zweite Datenspeicher betrifft Angaben über Personen, die sich um Jobs/Arbeitsplätze in "sicherheitsrelevanten" Bereichen, insbesondere bei der Polizei und Nuklearindustrie bewerben. (Vgl. den Text hier externer Link)

Verschwunden sind, zwischendurch, die Speicherung von Angaben zu Gesundheitszustand und sexueller Orientierung, sowie über Prominente.

Geblieben sind hingegen die Erfassung von Angaben über gewerkschaftliche Betätigung (ausdrücklich vorsehen im Dekret über die KandidatInnen für "sicherheitsrelevante" Tätigkeiten) sowie die Erfassung von Minderjährigen: im ersten Dekret ab dem Eltern von 13 Jahren - gerechtfertigt mit der Existenz von "Jugendbanden" -, im zweiten Falle ab 16 Jahren. Die Speicherung ist offiziell für eine Dauer von zehn Jahren "ab dem letzten relevanten Ereignis, das die Speicherung rechtfertigt" geplant.

Geblieben, obwohl in der Form verändert, ist auch die höchst umstritte Erfassung dessen, was vormals unter den Bezeichnungen "ethnische Herkunft" oder "Rassen"zugehörigkeit firmierte. Nunmehr wurden sie durch das wesentlich vagere Kriterium der "geographischen Herkunft" abgelöst. Dieses kann sicherlich ein bestimmtes Territorium bezeichnen, etwa die Banlieue (oder, für im Falle der Krawalldemo von Poitiers beobachtete "Randalierer", den Großraum Paris" usw.). Es kann aber genauso gut, beispielsweise für einen in Frankreich geborenen Franzosen/eine Französin mit schwarzer Hautfarbe, die "afrikanische Herkunft" bezeichnen, die sich ja irgendwie auch auf einen geographischen Ort bezieht. Mit diesem Argument treten bspw. Patrick Lozès, der Sprecher der Vereinigung der Schwarzenverbände CRAN, oder Antirassismusorganisationen wie der MRAP gegen die neuen Dekrete ein. (Vgl. etwa externer Link)

Die parlamentarische Opposition, bis hin zur ParteiRechten bei der französischen Sozialdemokratie wie der Law & Order -Bürgermeister Manuel Valls und Delphine Batho (die der früheren Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal nahe steht), steht fast einstimmig gegen die neuen Dekrete auf. Teilweise mit formalen Argumenten: Dieser Gegenstand sei Sache des französischen Parlaments, und statt eines Regierungsdekrets sei besser ein Gesetz vonnöten. Allein der linksnationalistische frühere Innenminister während der letzten sozialdemokratischen Regierungsperiode (1997 bis 2002), Jean-Pierre Chevènement - Minister von 1997 bis 2000 und dann Präsidentschaftskandidat der französischen EU-Skeptiker -, trat kaum verhüllt für die Regierungsdekrete ein: "Die Polizei benötigt Datenspeicher" für ihre Arbeit.

Auch die französischen Gewerkschaftsverbände haben inzwischen gegen die neuen Dekrete Stellung genommen, unter ihnen die CGT (vgl. http://cgt.fr/spip.php?article36521 externer Link), der Zusammenschluss linker Basisgewerkschaften Union syndicale Solidaires (vgl. http://www.solidaires.org/article27468.html externer Link) und die Bildungsgewerkschaft FSU (vgl. http://www.fsu.fr/spip.php?article1869 externer Link).

Auch die traditionsreiche Liga für Menschenrechte (LDH, Ligue des droits de l'homme) fordert dazu auf, eine "massive Mobilisierung" gegen die neuen Dekrete zu lancieren. Die Antirassismusorganisation SOS Racisme ihrerseits hat bereits angekündigt, vor dem obersten Verwaltungsgericht (dem Conseil d'Etat) Klage gegen die Regierungsdekrete zu einzureichen.

Allein die dritte größere Antirassismusorganisation (neben dem eher linken MRAP und der eher sozialdemokratischen Vereinigung SOS Racisme), die "Internationale Liga gegen Rassismus und Antisemitismus" LICRA, begrüßte die Verabschiedung der Texte am Sonntag: Sie hätten "bisherige Zweideutigkeiten" des alten EDVIGE-Projekts beseitigt. Mit ähnlichen Worten - "EDVIGE ist tot", und die alten Streitpunkte seien aufgehoben worden - hatte auch Innenminister Brice Hortefeux selbst die neuen Dekrete der Öffentlichkeit präsentiert. Die LICRA, die sich vorwiegend auf die Bekämpfung des Antisemitismus spezialisiert hat, ist eher im Bereich der liberalen Rechten angesiedelt; ihr Ehrenvorsitzender Patrick Gaubert war Berater von Innenminister Charles Pasqua (1993 bis 95) und Europaparlamentarier der konservativen Parteien RPR und UMP (ab 1999).

Ausführlicheres dazu in wenigen Tagen an dieser Stelle, wenn die Mobilisierung begonnen hat.

Artikel von Bernard Schmid vom 20.10.2009


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