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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Gewerkschafter/innen und gesellschaftliche Opposition gegen Überwachungsstaat Neue Polizeidatei EDVIGE entfacht breite politische Widerstände. Positionen der Gewerkschaftsverbände: SUD/Solidaires schon früh hellwach - CGT oppositionell, aber flau - CFDT relativ kriecherisch Das passiert nicht alle Tage: Zum allerersten Mal müsse Nicolas Sarkozy derzeit einen Rückzieher bei einen mit der "Inneren Sicherheit" im Zusammenhang stehenden Thema machen. Die öffentliche Meinung folge ihm, zum derzeitigen Zeitpunkt, in dieser Frage nicht (länger). So urteilte die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde vor wenigen Tagen, angesichts der anschwellenden Kritik in Teilen der Öffentlichkeit an dem neu eingerichteten polizeilichen Datenspeicher EDVIGE. In der Tat empören sich breite Kreise, von Gewerkschaftern und Linksradikalen bis hin zu Liberalen aus der rechten Mitte, derzeit über die staatliche Speicherwut, die in Gestalt von EDVIGE (Konkretes dazu siehe unten ) nun - in den Augen vieler Menschen - einen konkreten Ausdruck gefunden hat. Gewerkschaftliche Positionen: SUD/Solidaires, CGT, und (puh!) die CFDT Der polizeiliche Arbeitsspeicher EDVIGE wurde bzw. wird derzeit auf der Rechtsgrundlage eines Dekrets der französischen Regierung vom 1. Juli 2008 eingerichtet. Am 2. Juli bereits reagierte die gewerkschaftliche Vereinigung Union syndicales Solidaires , in der insbesondere die linken Basisgewerkschaften unter dem Namen SUD ( Solidaires, Unitaires, Démocratiques ) zusammengeschlossen sind. Schon früh war der linksalternative Gewerkschaftszusammenschluss also hellwach. Die Erklärung vom 2. Juli 08 ist überschrieben mit "EDVIGE, ein weiteres Instrument zur sozialen Kontrolle". Sie enthält, nach einer ausführlichen Beschreibung der neuen (geplanten bzw. derzeit in Angriff genommenen) Datenbank, ferner auch folgende Schlussfolgerung: "Die Union syndicales Solidaires lehnt die Einrichtung eines solchen Instrulments, das einen weiteren Schritt hin zur totalitären Organisierung der Gesellschaft bildet, ab und wird an allen dagegen gerichteten Initiativen teilnehmen."(Vgl. Artikel ). Auch nach den jüngsten Ankündigungen der französischen Staatsspitze, ein paar (voraussichtlich kosmetische) Änderungen an dem Datensammelprojekt vorzunehmen, bleibt die Gewerkschaftsvereinigung bei einer scharf oppositionellen Haltung. Die CGT ihrerseits, die "postkommunistische" und grö ßt e (aber in diesen Zeiten bisweilen eher schlappe) Gewerkschaftsorganisation in Frankreich, opponiert ebenfalls gegen die Einrichtung der neuen Datei. Allerdings mit "moderateren" Argumenten als ihre linksalternativen GewerkschaftskollegInnen. So heißt es in einer Erklärung der CGT vom 10. September 08: " Für die CGT muss die Frage der Dateien und der (Speicherung von Daten über die) Bevölkerung den Gegenstand einer Parlamentsdebatte bilden, und muss auf die Frage antworten " - Grammatik im Originalton, die Frage muss also auf die Frage antworten - " welchen Zielen diese Dateien dienen. Für die CGT ist es für die Staatssicherheit und die öffentliche Sicherheit nicht erforderlich, eine allgemeine Datenspeicherung vorzunehmen. Wir erinnern daran, dass der französische Staat der einzige in Europa ist, der gewerkschaftliche, Initiativen- oder wirtschaftliche Aktivisten allein aufgrund ihrer Beteiligung am gesellschaftlichen Leben speichert. Dies muss aufhören. " (Vgl. Artikel ) So richtig letztere Forderung nach ,Aufhören' ist (auch wenn man sich die Antwort darauf, ob Frankreich wirklich der einzige Staat in der EU ist, der Solches tut oder beabsichtigt, vorbehalten mag), so schlapp ist der Rest der Argument. Die "Staatssicherheit" als etwas positiv Gesetztes anzuerkennen und zudem noch - unter derzeitigen Mehrheitsverhältnissen in Nationalversammlung und Senat, die nur aufgrund des Mehrheitswahlrechts zustande kommen konnten - zuvördest die Forderung nach einer Parlamentsdebatte zu erheben, ist, nun ja, eher lau. An Peinlichkeit kaum zu überbieten, jedenfalls nach der allerjüngsten Entwicklung, ist einmal mehr die Reaktion der CFDT. Mal wieder glaubt diese, sich betont ,konstruktiv' gegenüber dem konservativ-liberalen Regierungsblock erweisen zu müssen. Nachdem die Regierung bzw. der Elysée-Palast (oberflächliche) Änderungen an dem Datensammelprojekt angekündigt hat, sieht die CFDT-Führung auch schon wieder fast Alles auf dem richtigen Weg: " Die CFDT drückt nach den jüngsten Erklärungen der Regierung ihrer Zufriedenheit aus. Blablabla.." (Vgl. Artikel ) Gähn! Auch wenn die CFDT zugleich die Mobilisierung "von unten" begrüßt und als Ursache für das von ihr ausgemacht Einschwenken des Regierungslagers bezeichnet, kann dies die Gesamtlinie ihrer Erklärung auch nicht mehr "retten". Und wirklich hat die Regierung in gewissem Sinne einen Rückzieher vor der wachsenden Mobilisierung gegen ihr Projekt durchführen müssen. A llerdings sieht es momentan nicht so aus, als führe dieser Rückzieher zu allzu tiefgreifenden Veränderungen. Denn noch während im Augenblick Verhandlungen der Regierung mit "Vertretern der Zivilgesellschaft", mit Bürgerinitiativen und Gewerkschaften über die Zukunft des höchsten umstrittenen Datenspeichers stattfinden, ist unterdessen ein neues Dekret für "Ende dieser Woche" angekündigt. Es soll, voraussichtlich, einige der skandalösesten Aspekte des gigantischen Datenspeichers EDVIGE entschärfen. Aber zugleich wird es andere wichtige Züge des Datensammelprojekts beibehalten, und - vor allem - einen schnellen Schlussstrich unter die Debatte ziehen. Bevor sie richtig begonnen hat. Am Mittwoch früh (17. Sept.) betonte Innenminister Allio-Marie unterdessen im Fernsehsender RTL, das geplante neue Dekret werde gegenüber der alten Fassung "überarbeitet" werden, aber in der Sache werde sich "nichts Grundlegendes ändern". Who (respektive What) the fuck is EDVIGE? EDVIGE, das hört sich zwar zunächst so an wie ein schön klingender Frauennamen. In Wirklichkeit verbirgt sich dahinter aber der weniger poetisch klingende Titel Exploitation documentaire et valorisation de l'information générale , also zu Deutsch: "Dokumentarische Auswertung und Nutzung der allgemeinen Information". Es handelt sich um einen polizeilichen Datenpool, dessen Einrichtung durch ein Regierungsdekret erlaubt wird, das am 27. Juni dieses Jahres vom Kabinett angenommen und am 1. Juli im Amtsblatt/Gesetzesanzeiger (dem Journal Officiel ) publiziert wurde. Ein Gesetz liegt ihm also nicht zugrunde, vielmehr wurde - ohne Anhörung und Debatte im Parlament - eine Rechtsgrundlage allein durch die Regierung geschaffen. Zunächst hatten Kabinettskreise sogar erwogen, gar keinen amtlichen Text zu veröffentlichen, um kein Aufsehen zu erregen, sondern die Datei einfach ohne besondere Rechtsgrundlage einzurichten. Dies erschien einigen Ministern oder Beratern denn aber doch zu "heiß". Nach Bekanntwerden der Pläne begann die öffentliche Polemik sehr schnell. Noch im Juli - und damit während des Hochsommers, in dessen Verlauf politische Aktivitäten in Paris oft weitgehend zum Erliegen kommen - sammelten sich Dutzende von Vereinigungen und Initiativen, um den Protest gegen EDVIGE zu organisieren. Zehntausende Unterschriften kamen binnen weniger Wochen unter einer Petition - Non à EDVIGE - zusammen. Was ist denn aber nun so störend an dem Projekt? Das neue Instrument erlaubt der Polizei nichts weniger, als zwei große - sehr große - Personenkreise zusammen in einen einzigen Datenpool einzuspeichern. Einerseits handelt es sich um "Ordnungsstörer", die durch straffälliges oder sonstiges als negativ betrachtetes Verhalten auffällig geworden sind. Ab dem Alter von 13 Jahren können sie erfasst und ihre Namen festgehalten werden. Auf der anderen Seite sieht das Dekret, mit dem EDVIGE geschaffen wird, vor, bestimmte "Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens" zu erfassen. Zu ihnen zählen auch alle "Personen, die ein politisches, gesellschaftliches oder gewerkschaftliches Mandat ausgeübt oder sich für ein solches Mandat beworben haben". Hinzu kommen "Personen, die im wirtschaftlichen oder sozialen Leben eine wichtige Rolle spielen". Diese Bestimmung erlaubt es vorbehaltlos, etwa die Namen von Gewerkschaftsmitgliedern, Aktivisten von Bürgerinitiativen und Anmelder von Demonstrationen systematisch abzuspeichern - in dieselbe Datei wie die "Ordnungsstörer". Als besonders schockierend gilt, dass laut denselben Bestimmungen (theoretisch in "Ausnahmefällen", die aber in der Praxis schnell zur Regel werden, wie man aus Erfahrung weiß) auch Eigenschaften wie "Gesundheitszustand", "sexuelle Orientierung" oder auch "ethnische Herkunft" erfasst werden können. Dies bedeutet, dass etwa Homosexualität, eine AIDS-Erkrankung sowie die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit anerkannte Erfassungsmerkmale bilden. Deswegen zählten etwa Initiativen wie Act Up, die gegen die Diskriminierung von Homosexuellen kämpfen, mit zu den frühesten Opponenten gegen das Projekt. Spezialdemokraten, mal wieder, nicht unschuldig: Vorgängerdatei wurde 1991 unter Sozi-Regierung eingerichtet Manche Beobachter weisen darauf hin, dass es Ähnliches wie das jetzt Geplante schon seit längerem gegeben habe. Tatsächlich gehen die Grundzüge des neuen Datenspeichers auf den 1991 - unter der sozialdemokratischen Regierung von Michel Rocard - offiziell eingeführten Datenspeicher der Renseignements Généraux, der politischen Abteilung der Polizei, zurück. Auch damals wurden etwa "Mandatsträger" explizit zu erfassen begonnen. Nur werden jetzt die legal abgespeicherten - und damit eventuell vor Gericht verwertbaren - Informationen, die zuvor über mehrere Dateien verstreut waren, nun zu einem einzigen großen Pool vereinheitlicht. Auf ihn werden entsprechend viele Beamte und Abteilungen auf einmal Zugriff haben. Zudem handelte es sich bislang oft noch um Karteien, die mit Registrierkarten aus Papier funktionierten und durch Schreibtischbeamte relativ mühsam ausgewertet werden mussten. Nun soll aber alles durch die Informatik übersichtlich erfasst, und damit mit hoher Geschwindigkeit nutzbar, werden. Zoff bis hinein in den Bürgerblock Seit Anfang September flammt der Streit um EDVIGE mit neuer Heftigkeit auf. Nun wandten sich auch Rechtsliberale, wie der Oppositionspolitiker François Bayrou und sogar der amtierende Verteidigungsminister Hervé Morin, gegen das Überwachungsstaatsprojekt. Auch die Vorsitzende des Unternehmerverbands, Laurence Parisot, wandte sich überraschend gegen EDVIGE - geht es den Arbeitgebern doch darum, sich und als wichtigen "zivilgesellschaftlichen Akteur" zu präsentieren. Dadurch nahmen die Spaltungslinien im konservativ-liberalen Lager selbst alsbald zu. Gleichzeitig steigerten sich auch die Aktivitäten der sozialen Opposition "von unten" nochmals sprunghaft. Innerhalb weniger Tage nahm die Zahl der Unterschriften unter die Anti-EDVIGE-Petition von zuvor 100.000 auf über 140.000 zu. Und dies wird noch nicht alles sein, denn die Opponenten möchten einen langen Atem beweisen. Sie rufen nun zu einem Aktionstag am 16. Oktober auf, das ist der Namenstag der Schutzpatroin Saint-Edvige (Heilige Hedwig, bitte für uns!). Und sie warten auf das Urteil des Obersten Gerichts, das gegen die Rechtsgrundlage für EDVIGE angerufen worden ist. Sein Urteil fällt voraussichtlich Ende Dezember 08. Die Staatsspitze versuchte zunächst, "ein Machtwort zu sprechen". So verspottete die zur konservativen UMP gehörende Innenministerin Michèle Alliot-Marie auf der Sommerakadamie der Partei ihren Kabinettskollegen Morin, der zum mitregierenden rechtsliberalen "Neuen Zentrum" (NC) gehört: Dieser dürfe sich ruhig Fragen stellen, habe aber anscheinend "in den letzten Monaten meine Telefonnummer nicht finden können", um sie anzurufen. Denn in diesem Falle hätte sie, Alliot-Marie, doch alle Bedenken locker ausräumen können. Doch es half alles nichts. Alliot-Marie versuchte zurückrudern und versprach öffentlich, zumindest die Minderjährigen zwischen 13 und 18 ein Stück weit zu verschonen: Ihnen solle künftig ein "Recht auf Vergessen" zustehen. Sofern sie nicht wieder auffällig würden, sollten ihre Namen nach einem gewissen Zeitraum gelöscht werden. Dem aber schob Präsident Sarkozy wiederum schnell einen Riegel vor: Nein, das komme nicht in Frage, denn es sei "interessant, diese Form von Kriminalität (die Jugendkriminalität) zu kennen". Im Hintergrund stehen mutmaßlich auch machtpolitische Konflikte, aufgrund derer es Sarkozy ziemlich gelegen kommt, seine Innenministerin vorzuführen und zu demontieren. "Personenerfassung zwecks Ordenverleihung".! Auf die Idee musste man erst einmal kommen Sarkozy behauptet unterdessen, die "Personen des öffentlichen Lebens" sollten nur deshalb erfasst werden, um zu wissen, an wen die Behörden später Orden verleihen könnten. Darauf sei aber im Notfall auch zu verzichten, weil sich die Kandidaten auch anders ausfindig machen ließen, verkündete er großzügig. (Anm. d. Verf.: Nun möchte ich aber auch einen Orden..) Nunmehr scheint die "Kompromisslinie" der Regierung darauf hinauszulaufen, dass die Speicherung von Angaben über die "sexuelle Orientierung" und den "Gesundheitszustand" sowie die Namen von (ohnehin bekannten) Prominenten aus dem überarbeiteten Speicher EDVIGE verschwinden. Der Rest hingegen soll bleiben. So kündigte der Radiosender Europe 1 es am Montag a. Er zitiert Präsident Sarkozy, der darauf drängt, eine "Lösung innerhalb der nächsten Tage" zu finden, und bis zum Ende der Woche einen Deckel auf dem Topf sehen will. Von Nicolas Sarkozy stammen auch die Worte, es gehe nun darum, an EDVIGE "alles zu entfernen, was nicht unabdingbar ist", aber "alles zu bewahren, was für die Sicherheit der Franzosen nötig ist". Die Regierung steckt damit zwar symbolisch zurück - und hat dadurch bereits durchgegeben, dass sie erstmals in einer die "Innere Sicherheit" betreffenden Frage nicht die Öffentlichkeit mehrheitlich hinter sich weiß. Aber zugleich versucht sie dennoch, das Wesentliche zu retten. Die Opponenten lassen unterdessen nicht locker. Die linke Richtergewerkschaft SM ( Syndicat de la Magistrature ) befindet etwa, die aktuell laufende "Konzertierung" sei "eine Fantasieangelegenheit". Denn niemandem sei damit gedient, mit der Regierung zu beraten, während diese bereits die neugefassten, überarbeiteten Bestimmungen fertig in der Hinterhand habe. An ihren angekündigten Protesten werden die EDVIGE-Gegner auch weiterhin festhalten. Schock lass nach: Elektroschocker nun auch für französische Stadtpolizeien Unterdessen werden aber, im Windschatten der anhaltenden Polemik rund um die Datenspeicherei, in der französischen Innenpolitik noch andere autoritäre Vorhaben im Namen der "Sicherheitserfordernisse" einfach durchgezogen. Am 9. September erschien das Regierungsdekret, das es künftig den Kommunalpolizeien französischer Städte erlauben wird, sich mit den "Tazer" genannten Elektroschockpistolen - die ihr "Opfer" vorübergehend in einen Lähmungszustand versetzen - auszurüsten. Bisher war die "nicht letale (tödliche) Waffe" bereits, seit 2004, bei der nationalen Polizei und der Gendarmerie im Einsatz. Wie gefährlich dieser "Tazer" genau ist, wird unterdessen erst noch vor Gericht ermittelt. Derzeit findet in Paris ein Prozess statt, den die Firma SMP Technologies - welche das Gerät in Frankreich vermarktet - gegen die Menschenrechtsvereinigung RAID-H angestrengt hatte. Die Vereinigung hatte die Waffe mit der historischen "Gégène" - einem Foltergerät, das im Algerienkrieg massenhaft im Einsatz war und dazu dient, Elektroschocks etwa in die Geschlechtsteile zu versetzen - verglichen. Ihre französische Vertriebsfirma verweist hingegen darauf, das Gerät sei derzeit "bereits in 83 Ländern" im Einsatz. Aber auch dort führt sein Einsatz offenkundig zu Polemiken. Weil er unter Berufung auf nordamerikanische Bürgerrechtsorganisationen und ihre Angaben behauptet hatte, der "Tazer" habe in den USA und Kanada den Tod von 150 Menschen verursacht, hat die französische Vertriebsfirma vor über einem Jahr auch gegen den trotzkistisch-undogmatischen Politiker Olivier Besancenot Strafanzeige erstattet. Der mit Spannung erwartete Prozess darum wird am 20. Oktober 08 in Paris eröffnet. Artikel von Bernard Schmid vom 18.09.2008 |