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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Gesellschaftlicher Widerstand gegen Überwachungsstaat: Datenspeicher „EDVIGE“ nach wie vor unverändert Höchstes Verwaltungsgericht hatte eine Eilklage (und anderem von CGT und CFDT) aufgrund angekündigter Änderungen abgelehnt. Doch diese lassen auf sich warten Noch immer warten die Kritiker/innen auf das angekündigte Regierungsdekret, das angeblich das überwachungsstaatliche Datensammelprojekt „EDVIGE“ entschärfen soll. (Labournet berichtete über diese polizeiliche Datei und die massiven gesellschaftlichen und auch gewerkschaftlichen Widerstände dagegen) Zwar bleibt der Dateispeicher, der nun von EDVIGE in EDVISRP umbenannt werden soll – wohl in der seitens der Regierung gehegten Hoffnung, dass das Namenskürzel danach unaussprechlich bleiben und sich deswegen weniger zur Agitation eignen soll -, auch danach noch brisant. So werden zwar die Angaben über die „sexuelle Orientierung“ und den „Gesundheitszustand“ der gespeicherten Personen, wenn die angekündigten Änderungen denn einmal in Kraft treten, künftig nicht (mehr) erhoben. Es bleibt allerdings auch nach den erwarteten Änderungen noch dabei, dass gewerkschaftliche und andere AktivistInnen aus Bürgerinitiativen, aus der „Zivilgesellschaft“ usw. einerseits und „Ordnungsstörer“ – ab dem Alter von 13 Jahren – auf der anderen Seite in ein und dieselbe Datei gespeichert werden sollen. Allerdings sollen Minderjährige im Alter zwischen 13 und 18 Jahren zukünftig ein durch Innenministerin Michèle Aliot-Marie so bezeichnetes „Recht auf Vergessen“ haben, d.h. ihre Angaben können nach einigen Jahren gelöscht werden - falls sie sich zwischendurch nichts mehr haben „zuschulden kommen lassen“, sondern ruhig & brav geworden sind. Auch können weiterhin Angaben über die „ethnische Herkunft“ (so die ursprüngliche Formulierung) respektive Identität der Betroffenen völlig legal in die künftige, veränderte Datei eingegeben werden. Angekündigt ist an diesem Punkt sogar noch eine verschärfte Fassung, denn nun ist – in der Neuformulierung, die Ende September durch die Regierung vorgeschlagen worden ist – sogar von der „rassischen (sic) und ethnischen Herkunft“ die Rede. Deshalb hat zum Beispiel die Antirassismusbewegung MRAP heftig auch gegen die angekündigte, abgeänderte Version des Regierungsdekrets protestiert. (Vgl. Artikel 1 sowie 2 oder 3). Da die Daten in einen der Polizei zur Verfügung stehenden Speicher – eben „EDVIGE“ – eingegeben werden, ist damit zu rechnen, dass etwa an einer Polizeisperre oder polizeilichen Kontrollstelle (vor einer Demonstration...) die fraglichen Angaben den BeamtInnen zur Verfügung stehen. Polizeiliche Maßnahmen, beispielsweise das Aussprechen eines Platzverweises oder die Anordnung einer Durchsuchung, können also dann auf der Grundlage dieses Wissens vorgenommen werden. Es liegt nahe, dass vor diesem Hintergrund gegen bestimmte Personen von vornherein mit größerer Bereitschaft zur Verdächtigung vorgegangen wird, und also auch mit einer Geisteshaltung, die darauf abzielt, „etwas bei ihnen zu finden“. Es handelt sich also um eine „Logik der Verdachtsschöpfung“ – d.h. der Schaffung von Kriterien, die die „Ordnungshüter“ ausdrücklich zur Suche nach belastenden Elementen bei einer bestimmten Person animieren werden. Stand der Proteste Am 6. Oktober, dem Jahrestag der „Heiligen Hedwig“, hatte ein landesweiter Aktionstag gegen das Datensammelprojekt stattgefunden. Allerdings ging bei diesen Protesten sozusagen Qualität vor Quantität. In mehreren Dutzend Städten demonstrierten jeweils einige Hundert Menschen, aus Grenoble beispielsweise ist von 500 die Rede. In Paris versammelten sich circa 300 Gegner/innen des überwachungsstaatlichen Projekts auf dem Platz an der Rückseite der Nationalversammlung (unter ihnen Menschen aus verschiedenen Gewerkschaftsverbänden – CGT, Union syndicale Solidaires, FSU -, von der französischen KP, den JungsozialistInnen des MJS, der radikal linken LCR, der Liga für Menschenrechte LDH, der linken Richter/innen/gewerkschaft Syndicat de la Magistrature). An jenem Aktionstag wurde frankreichweit ein satirischer Fragebogen verteilt, mittels dessen die Leute ihre eigenen Daten zur Einspeicherung in EDVIGE vorschlagen können. („Sind Sie minderjährig? Gehören sie einer <ethnischen Bande> an? Wenn ja, welcher?“...) Bislang haben weit über 200.000 Personen eine Petition gegen „EDVIGE“ unterschrieben. Allerdings scheint sich insgesamt in der breiten Öffentlichkeit der Proteststurm ein wenig gelegt zu haben, seitdem die Regierung im Gestus des „Rückziehers“ einige Änderungen an dem Projekt angekündigt hat. Änderungen, die zwar nicht unbedeutend sind (indem etwa der „Gesundheitszustand“ und die „sexuelle Orientierung“ ausdrücklich von den zu erhebenden Daten ausgenommen werden, wohl infolge des scharfen Protests von Homosexuellenverbänden), die aber nicht am Wesentlichen des Projekts rühren. Allein, die angekündigten Änderungen haben bislang noch nicht einmal stattgefunden. Die Regierung hatte im September, infolge des öffentlichen Rumorens rund um das Projekt „EDVIGE“ (das auch weitere polizeiliche Datenspeicher, wie etwa „CHRISTINE“, in „Mitleidenschaft“ zog bzw. ins Fadenkreuz der Kritik rückte), ein neues Dekret angekündigt. Letzteres soll dann das Regierungsdekret vom 1. Juli dieses Jahres, das die Rechtsgrundlage für die Einführung von „EDVIGE“ liefert, ersetzen. Aus Sicht der Regierung galt zunächst: „Hauptsache, dem Aufruhr wird ein Ende gesetzt...“ Widerspruch im Eilverfahren abgelehnt Am 27. Oktober, dem Montag vergangener Woche, verhandelte der Conseil d’Etat – das höchste Verwaltungsgericht in Frankreich, ungefähr vergleichbar dem Bundesverwaltungsgericht in Berlin, aber mit wesentlich mehr Befugnissen ausgestattet – über eine Eilklage von fünf Verbänden gegen das Regierungsdekret vom 1. Juli 2008. Bei den fünf klagenden Organisationen handelte es sich um die beiden Gewerkschaftsbünde CGT und CFDT; die progressive Rechtsanwälte- und Anwältinnen-Gewerkschaft SAF; sowie zwei Verbände, die für die Rechte von Homosexuellen kämpfen (L’Autre cercle sowie das „Kollektiv gegen Homophobie und für Rechtsgleichheit“ CCH). (Vgl. zur Ankündigung der Verhandlung durch die Kläger/innen den Artikel) Doch das Urteil, das am Mittwoch/Donnerstag der vergangenen Woche bekannt wurde, schmettert den Widerspruch, trotz der durch die Kläger/innen vorgetragenen ernsthaften Bedenken, ab. Der Rechtsbehelf hatte darauf gezielt, das Regierungsdekret vom 1. Juli d.J. zu „suspendieren“, das bedeutet: seine Anwendung auszusetzen, so lange, bis die Rechtslage eindeutig geklärt ist. (Eine typische Forderung in einem Eilverfahren, denn bei einer Eilklage – die auf Erlass einer Einstweiligen Verfügung, französisch ‚ordonnance de référé’, abzielt, kann nur die Aussetzung eines strittigen Akts der öffentlichen Gewalt bis zur genaueren Klärung der Rechtslage gefordert werden. Die Ungültigerklärung und Annullierung eines Akts der öffentlichen Gewalt, der dadurch für nichtig erklärt wird, kann nur am Ausgang eines „normalen“ Verfahrens angeordnet werden. Eine solche Prozedur, bei der die Rechtslage ausführlich und tiefgründig erörtert wird, dauert jedoch mindestens ein Jahr, sofern es um die Anfechtung eines Regierungsdekrets geht, das sofort vor den Obersten Gerichtshof kommt – sonst mehrere Jahre, sofern es sich um einen einfachen Verwaltungsakt handelt, bei dem erst die Ausschöpfung aller Rechtswege erforderlich ist.) Das Eilverfahren, mit dem die Kläger/innen die Aussetzung des Regierungsdekret zur Einführung von „EDVIGE“ erzielen wollten, wurde vom Richter im öffentlichen Recht jedoch abgelehnt. Das Gericht berief sich darauf, es gebe keine „Eile“, deren Vorliegen allein den Erlass einer einstweiligen Verfügung rechtfertigt. Denn ein anderes Dekret, das jenes vom 1. Juli 2008 ersetzen wird, sei ja in Vorbereitung befindlich. Ansonsten hatten sich die Repräsentanten der Regierung in mündlicher Verhandlung darauf berufen, solange die Arbeiten an dem neuen Dekret fortdauerten, werde man das „alte“ Dekret vom 1. Juli schon nicht anwenden. Das hieße, dass die Speicherungen von Daten in den bestehenden bzw. seit Sommer dieses Jahres neu geschaffenen Datenpool nicht weiter gingen, bis die neue Rechtsgrundlage dafür geschaffen worden ist. (Zu dem Urteil vgl.den Artikel). Allerdings gibt es dafür nun keinerlei Garantie. Widerrechtlich wird die fortgesetzte Speicherung von Daten dadurch freilich noch nicht, da ja eine Rechtsgrundlage dafür existiert (das Dekret vom 1. Juli, das ja nicht aufgehoben worden ist) und Gegenteiliges nur in mündlichen Zusagen behauptet worden ist. Eine andere Frage ist die nach der Rechtmäßigkeit einer eventuellen sofortigen Nutzung dieser Dateien bei konkreten polizeilichen Handlungen, die jedoch unmittelbar nur in einem Verfahren dazu geklärt werden könnte. Gut eine Woche später nun lässt das angekündigte neue Dekret, welche das alte vom 1. Juli abschafft und ersetzt, noch immer auf sich warten. Bernard Schmid, Paris, 09.11.2008 |