Frankreich vor der Wahl:
Ob mit Ségolène Royal oder Nicolas Sarkozy: Vor einer "unausweichlichen" Arbeitszeitverlängerung?
Vorwort:
(1.) Eine Reform, die als progressive Umwälzung angekündigt wird, kann sich in der Praxis als reaktionäre bzw. neoliberale Veränderung herausstellen. Vor allem wenn das gesellschaftliche Kräfteverhältnis dafür “günstig“ steht. Im Anschluss gilt aber auch: (2.) Die Kritik einer (einst als progressiv angekündigt und dann neoliberal gewordenen) Reform, die als progressiv Kritik angekündigt wird, kann sich im Ergebnis als Vorbote einer reaktionären bzw. neomiberalen Veränderung herausstellen. Vor allem wenn das gesellschaftliche Kräfteverhältnis dafür “günstig“ steht.
Die Einführung der 35-Stunden-Woche als gesetzliche Regelarbeitszeit, die in Frankreich unter der sozialdemokratisch dominierten Regierung unter Lionel Jospin in den Jahren 1997 bis 2002 stufenweise erfolgte, ist ein ansschauliches Beispiel zur Illustration von Aussage Nr. (1). Angekündigt als Reform, die die Lebensqualität der lohnabhängig Arbeitenden verbessern und zugleich mehr Menschen zu Beschäftigung verhelfen sollte, wurde die “real existierende“ 35-Stunde-Woche in Frankreich zum Türöffner für flexibilisierte Arbeitszeiten. Während die Umsetzung der Reform der gesetzlichen Arbeitszeit in hohem Maße vom Abschluss (einzel)betrieblicher Vereinbarungen abhängig gemacht wurde, sahen letztere oftmals die Kopplung einer Verkürzung der Arbeitszeit (im Wochen- oder auch im Jahresmaßstab) mit variablen Arbeitsrythmen vor. Und dies häufig eher im Interesse des Betriebs oder Büros, vor dem Hintergrund einer schwankenden Auftragslage und Auslastung, als im Interesse der Lohnabhängigen. Da die jeweils auf einzelbetrieblicher Ebene getroffenen Vereinbarungen aber stark voneinander abweichen, gibt es zwar einerseits im Einzelnen auch manche positivere Abkommen, wird aber andererseits ein gemeinsames Handeln aller abhängig Beschäftigten etwa einer Branche zum Thema Arbeitszeit quasi unmöglich gemacht.
Nun aber zur aktuellen Debatte, die die oben getroffene Aussage Nummer (2.) illustrieren wird...
Erleichterungen für... die Unternehmen?
Ségolène Royal, (rechts)sozialdemokratische französische Präsidentschaftskandidatin, hatte sich diese Kritik zunächst zu eigen gemacht. In einem Beitrag, der Anfang Juni 2006 auf ihrem Vorwahlkampf-Blog erschien, griff sie konkrete Aussagen zu den negativen Aspekten und Auswirkungen dieser “Reform“ der bisher letzten sozialdemokratischen Regierung in Frankreich auf. Vor der “Reform“ hätten 10 % der abhängig Beschäftigten in Frankreich flexible Arbeitszeiten gehabt, hinterher seien es 40 Prozent und damit “mehr als in den USA“. Schon damals fiel allerdings auf, dass Royal – wie des öfteren auch in anderen Zusammenhängen – zwar Feststellungen aufgriff und Texte oder Konzepte kritischer Sozialwissenschaftler auf ihren Blog übernahm, aber keinerlei alternative Vorschläge oder Konzepte formulierte. Wie auch in anderen Zusammenhängen, schien ihre Rolle als Spitzenpolitiker darin zu bestehen, “zuzuhören“ und Offenheit zu zeigen. Wer wird denn da noch reale Veränderungen bei den aufgezeigten Problemen verlangen wollen... (Vgl. zu der Debatte im Juni 2006: http://www.labournet.de/internationales/fr/tabubruch.html)
Nunmehr hat Ségolène Royal aber auch noch einen ganz anderen Aspekt ihrer Kritik enthüllt. Am Donnerstag vergangener Woche (25. Januar) äußerte sie sich erstmals wieder zum Thema, anlässlich eines Auftritts bei RMC (Radio Monte Carlo). Eine AFP-Meldung auf der Homepage der Pariser Abendzeitung ’Le Monde’ vom selben Tag gibt ihre Aussagen folgendermaßen wieder: “<Ich habe gesagt, dass die Anwendung des Gesetzes über die 35-Stunden-Woche in einigen Fällen die Organisation der Unternehmen erschwert hat>, erklärte die sozialistische (Präsidentschafts-)Kandidatin auf RMC. <Man wird zu einigen Fragen das Bestehende in Frage stellen müssen, selbst wenn es nicht darum geht, (die 35-Stunden-Woche) insgesamt in Frage zu stellen> fügte sie hinzu, und präzisierte, dass die Lockerungen jene Unternehmen betreffen könnten, die der internationalen Konkurrenz ausgesetzt sind.“ Ende des Zitats. Nun, welche Unternehmen sind heutzutage nicht der internationalen Konkurrenz ausgesetz?! Der Aufbau ihrer Argumentation lässt klar erkennen, dass Ségolène Royal hier an eine Revision der Arbeitszeitreform von 1998/2000 (für die Groß- und Mittelbetriebe) bzw. 2000/02 (für die kleinen Unternehmen)zugunsten der Interessen DER ARBEITGEBER denkt. Von den negativen Auswirkungen der damaligen “Reform“ für die Lohnabhängigen ist an dieser Stelle plötzlich nicht mehr die Rede. Für das Vorausgehende gilt wohl die alte sozialdemokratische Devise: “Wir schlugen Schaum, wir seiften ein...“
Genau so verstanden haben es auch andere Beobachter. Die Sonntagszeitung ’JDD’ (Journal du dimanche) berichtet in ihrer Ausgabe vom 28. Januar 07 über “Die 35-Stunden-Woche im Wahlkampf“. Darin heißt es bezüglich des jüngsten Vorstoßes Ségolène Royals: “Die sozialistische Kandidatin hat am Donnerstag bei RMC verkündet, dass sie die 35-Stunden-Woche ’in Frage stellen’ möchte, aber die (theoretische) Regelarbeitszeit beibehalten will. Die Arbeitszeitverkürzung habe <in einigen Fällen die Organisation der Unternehmen verkompliziert und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten verschlechtert>, schätzte sie ein.“ (Anm.: Im vollständigen Satz, der hier wiedergegeben wird, tauchen die Interessen der Lohnabhängigen also doch noch auf. Aber sie sind offenkundig nachgeschoben.) Und weiter im Text: “Aber sie hat ihre Gedanken dazu nicht näher ausgeführt, sondern sie sich damit begnügt, <Diskussionen> zwischen den Sozialpartnern ins Gespräch zu bringen.“ Das verheißt nichts wirklich Gutes, zumal die negativsten Aspekte der damaligen 35-Stunden-Reform unter der Regierung Lionel Jospins auch mittels “Diskussionen zwischen den (so genannten) Sozialpartnern“ und mittels des Konsenszwangs als Vorbedingung für den Abschluss von Betriebsvereinbarungen durchgedrückt worden sind.
Auch in einem Kollektivportrait von an die 10 Mitte-Rechts-Wählern, die sich entschlossen haben, dem christdemokratischen Kandidaten François Bayrou (UDF) am 22. April dieses Jahres ihre Stimme zu geben, kommt das Thema zur Sprache. Die neu gewonnene Wähler der “Zentrumspartei“ UDF und ihres Präsidentschaftskandidaten erklären dort, in der Sonntags- und Monatsausgabe von ’Le Monde’ , warum sie weder sozialistisch wählen noch für den konservativen Block in Gestalt der Regierungspartei UMP stimmen wollen. Dabei äußert sich auch einer der Befragten, “Marketing-Verantwortlicher in einem mittelständischen Unternehmen mit 400 Beschäftigten“ (und ein klarer Vertreter der Arbeitgeber-Sichtweise), zu Royals Vorstellungen über die Arbeitszeitpolitik: “Ségolène Royal missfällt mir nicht. Sie erscheint realistisch im Hinblick auf die notwendige Revision der 35-Stunden-Woche, von der ich (in meinem Betrieb) sehr gut sehe, dass sie eine Katastrophe ist. Aber ich fürchte die soziale Demagogie der Sozialisten, die ständig die Staatsausgaben erhöhen...“ (“Simone Subtil, 46 Jahre“)
Das konservative “starke Männchen“ Nicolas Sarkozy: “Länger arbeiten“ als einziger Weg, “um mehr zu verdienen“
Nicolas Sarkozy ist das “starke Männchen“ der französischen Konservativen (wobei er seine 1,68 Meter für diese Statur auch mal überstrapaziert), ihr größenwahnsinniger Innenminister und Kaiserkrönungs-, pardon, Präsidentschaftskandidat. Sein zentraler Programmsatz für die Wahl lautet: “Ich.“
Mit ihm ist die Sache “wenigstens klar“: Unter ihm als künftigem Kaiser, pardon, gewähltem Staatsoberhaupt würde es eindeutig eine Verlängerung der Arbeitszeiten geben. “Vollkommen freiwillig“ natürlich, denn so lautet sein sozialpolitisches Patentrezept: “Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass der einzige Weg, um als Niedriglöhner überhaupt auf den grünen Zweig zu kommen, in einer Ausdehnung der täglichen bzw. wöchentlichen Plackerei besteht. Der Gedanke an Lohnerhöhungen und eine halbwegs moderate Aufteilung der stetigen Produktivitätszuwächse auf Kapital und Arbeit ist in dieser Programmatik bereits von vornherein “tabuisiert“.
In einem ausführlichen Interview (eine Zeitungsseite) mit Napoléon Sarkozy in ’Le Monde’ vom Dienstag, 23. Januar 2007 begründet der Kandidat auf das höchste Staatsamt seine Vision zum Thema Arbeitszeitverlängerung: “Wir werden es konkret machen (d.h. die Steuern und Abgabenquote senken, Anm. BhS), indem wir die Einkommenssteuern senken. Wir werden es auch machen, indem wir die Mehrarbeit belohnen. Heute wird alles getan, um die Unternehmen davon abzuhalten, welche zu geben. Ich bin der Auffassung, dass man seine Schuld gegenüber dem Sozialversicherungssystem erbracht hat, wenn man die Sozialabgaben für die durchschnittliche Arbeitszeit (im Original: durée moyenne du travail) erbracht hat. Ich schlage also vor, dass die Unternehmen keine Sozialabgaben auf die Überstunden bezahlen - das wäre ein Anreiz für das Unternehmen, welche zu geben – und dass der Beschäftigte keine Steuern auf das zusätzliche Einkommen bezahlt, das er erhält. Stellen Sie sich vor, dass ein Beschäftigter, der den gesetzlichen Mindestlohn SMIC verdient (Anm. BhS: zur Zeit circa 1.000 Euro netto pro Monat, wovon man in Paris kaum bis gar nicht leben kann) und der vier Überstunden pro Woche leistet, auf diese Weise sein Einkommen um fast 2.000 Euro im Jahr erhöhen wird. (...) Und der Staat wird sein Interesse daran finden, denn wenn die Beschäftigten mehr Kaufkraft haben, dann werden sie mehr konsumieren, und die Einnahmen durch die Mehrwertsteuer (französisch TVA, taxe de valeur ajoutée) werden steigen.
Diesem Szenario zufolge wird also die öffentliche Hand ihre Einnahmen ausdrücklich verstärkt aus der sozial ungerechtesten Steuer schöpfen, also der Mehrwertsteuer, die auf dem Konsum der ärmsten wie der reichsten Haushalte unterschiedslos lastet (da sie “blind“ ist gegenüber der Einkommenssituation des Käufers). Die Einkommenssteuer, die insofern sozial gerechter ist, als sie zumindest an der Höhe des Gesamteinkommens ausgerichtet werden kann, soll hingegen abgesenkt werden. Nicolas Sarkozy verspricht immerhin ein Paket von insgesamt 68 Milliarden Euro an Senkung der Steuern (Einkommens-, Erbschafts- u.a. Steuern) und Abgaben.
Logische Konsequenz: Weniger Arbeitskräfte benötigt
Ebenso muss klar sein, dass Nicolas Sarkozys Szenario für die “freiwillige“ Verlängerung der Arbeitszeiten auch implizieren würde, dass die Unternehmen weniger Lohnabhängige benötigen, um dasselbe Arbeitsvolumen zu erledigen. Davon, in einem Aufwasch mit der geplanten “Revision“ der 35-Stunden-Woche (die Nicolas Sarkozy künftig ausdrücklich als “Minimum“ und nicht mehr als gesetzliche Regelarbeitszeit betrachten möchte) auch die damals mit dieser Reform durchgesetzte stärkere “Flexibilität“ und Intensivierung der Arbeit zurückzunehmen, ist ja keinerlei Rede bei Nicolas Sarkozy. Bei den anderen aussichtsreichen KandidatInnen auf die französische Präsidentschaft übrigens auch nicht. Das ist ja auch nur logisch angesichts des vorhandenen Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Gewerkschaften.
Kurz: Es würden also Arbeitsplätze vernichtet, bzw. ihre Schaffung bei vorhandenem Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften verhindert. Würde man von der Logik der Dinge her denken, müsste man mit einer solchen Programmatik im Gepäck also –- wäre man ehrlich –- auch ankündigen, dass die Arbeitslosigkeit voraussichtlich zumindest nicht sinken wird. Auch dann nicht, wenn in den kommenden Jahren die geburtenstarken Jahrgänge vom französischen Arbeitsmarkt abgehen und geburtenschwächere Jahrgänge nachrücken werden, so dass das “Arbeitskräfte-Überangebot“ zumindest ein bisschen relativiert wird. Der dadurch erwartete Beschäftigungseffekt dürfte aber durch die von Nicolas Sarkozy (und Anderen, die es weniger lautstark aussprechen, ebenfalls) geplante “freiwillige“ Verlängerung der Arbeitszeiten allemal zumindest annulliert, wenn nicht in sein Gegenteil verkehrt werden. Man wird auf Seiten des Kapitals schlicht und einfach weniger Arbeitskräfte benötigen, um dieselbe Arbeit zu verrichten, da man die vorhandenen “besser nutzen“ kann. Dass Nicolas Sarkozy gleichzeitig verspricht, unter seiner Regent- bzw. Präsidentschaft werde “Vollbeschäftigung“ erreicht werden (so Nicolas Sarkozy am Dienstag von London aus, wo er das britische neoliberale “Modell“ vor jungen französischen City-Brokern und studierenden oder jobbenden Auslandsfranzosen in den Himmel lobte), widerspricht zwar der Mathematik, gehorcht aber natürlich einer politischen Logik. Ähnliches gilt für seine Drohung, wer sich nicht im Schweiße seines Angesichts abplackern möchte, dem drohe der Entzug aller Sozialleistungen –- die ausdrücklich an Sarkozys Lob “des früh aufstehenden und hart arbeitenden Frankreich“ gekoppelt ist.
"Jährliche Verhandlung der Arbeitszeiten im Betrieb"
Am Freitag der vergangenen Woche hatte Nicolas Sarkozy seine Vorstellungen bereits anlässlich einer Betriebsbesichtigung in der westfranzösischen Region Poitou-Charentes (wo seine Rivalin Royal als Regionalpräsidentin amtiert) präzisiert. Demnach solle in den Betrieben ein “Schalter“ für Verhandlungen eröffnet werden. Zu Anfang jedes Kalenderjahres soll dort individuell mit den lohnabhängig Beschäftigten ausgehandelt werden, wer im laufenden Jahr zu wieviel zusätzlicher Arbeit (über die gesetzliche Regelarbeitszeit hinaus) bereit ist. Das Ergebnis dieser Verhandlungen soll rechtsverbindlich werden können. Also nix mehr mit kollektiver Aushandlung der Arbeitszeiten durch die Gewerkschaften! (Vgl. zu diesem Auftritt Sarkozys insbesondere: “L’Humanité“ vom Montag, 29. Januar 07)
Die soziale Realität ist unterdessen davon geprägt, dass längst schon Großbetriebe und inzwischen auch mittelständische Betriebe ihre Beschäftigten dazu erpressen, eine “freiwillige“ Ausdehnung der Arbeitszeiten zu akzeptieren – verbunden mit der Drohung, ansonsten die Produktion ins Ausland zu verlagern. Die deutsche Firma Bosch machte übrigens den Anfang dazu, im Sommer 2004 in ihrer Niederlassung in Vénissieux bei Lyon (Labournet berichtete damals). Inzwischen hat sich dieses Phänomen epidemieartig ausgebreitet. Die bessere Boulevardzeitung ’Le Parisien’ berichtete darüber ausführlich in ihrer Ausgabe vom 21. November 2006 unter der Überschrift: “Die Beschäftigten verzichten auf die 35-Stunden-Woche, um ihre Arbeitsplätze zu retten.“ Dies, und nichts anderes, ist vielerorts die soziale Realität.
Unterdessen scheint Nicolas Sarkozys Demagogie mit dem Köder “Mehr verdienen durch mehr arbeiten“ allerdings aufzugehen. Angesichts sinkender Kaufkraft und bestenfalls stagnierender Löhne (vor allem im “unteren“ Bereich) sowie einer Resignation vor dem scheinbar unantastbaren Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit geht die Rechnung vielerorts auf. Dies konstatiert die sozialdemokratische Tageszeitung ’Libération’ in einer Serie von Fabrikreportagen in ihrer Ausgabe vom Donnerstag (1. Februar).
Bernhard Schmid (Paris), 2.2.2007
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