letzte Änderung am 30. Oktober 2003

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"Bewegung 10. Juni"

Fotos und Kommentare zur Demo in Paris von Bernard Schmid

Am Dienstag, 10. Juni findet die sechste größere Demonstration in Paris im Laufe eines Monats (seit dem Hochkochen der Bewegung am 13. Mai) statt. Sie führt von der Place de la Bastille, in der östlichen Mitte von Paris, auf die zentral gelegene Place de la Concorde. Auch landesweit finden in über 100 Städten Protestmärsche statt.

In Paris demonstrieren an diesem Tag (nach realistischen Schätzungen) 45.000 bis 50.000, frankreichweit rund 500.000 Menschen. Der Transportstreik hat bereits seinen überwiegenden Misserfolg gezeigt, u.a. aufgrund der angewandten gewerkschaftlichen Taktik, womit der vielfach geforderte Generalstreik gegen die Regierung weiter in die Ferne gerückt ist. Aber die Straßenmobilisierung bleibt damit auf hohem Niveau (wenngleich knapp unter dem vom 3. Juni ­ was aber angesichts der Häufigkeit der "Aktionstag" in den letzten drei Wochen als normal gelten kann).

Am selben Tag beginnt am Nachmittag in der Pariser Nationalversammlung die Parlamentsdebatte zur umstrittenen Renten"reform" (die später, in dritter und abschließender Lesung, am 24. Juli 2003 verabschiedet werden sollte). Da die Pariser Demonstration auf die Place de la Concorde führt, die dem Palais Bourbon ­ dem Sitz der Nationalversammlung ­ in Sichtweite gegenüber liegt und von diesem nur durch eine Seinebrücke getrennt ist, herrscht an diesem Tag eine gewisse Nervosität vor. Der Innenminister und konservative Hardliner Nicolas Sarkozy hatte ganz offenkundig seinen "Sicherheitskräften" angeordnet, an diesem Tag Härte zu zeigen, um der sozialen Bewegung ­ die sich an einem Wendepunkt befindet ­ "Schluss mit lustig" zu signalisieren.

Infolge eines vorsätzlich erfolgenden Polizeiangriffs auf die ersten Demonstrantengruppen, die auf der Place de la Concorde ankommen, finden ab dem späten Nachmittag auf dem riesigen Platz Zusammenstöße zwischen Polizeieinheiten (die massiv Tränengas einsetzen) und Demonstrantengruppen statt. Dabei setzen sich nicht vorwiegend autonome Gruppen ­ von denen einige systematisch die Konfrontation mit der Polizei suchen ­ gegen die Angriffe zur Wehr, sondern sehr unterschiedlich zusammengesetzte Gruppen, die tatsächlich die soziale Bewegung in ihrer Breite widerspiegeln. Zu ihnen gehören auch "gestandene" Eisenbahner und öffentlich Bedienstete, wie die Zusammensetzung der Gruppe der Verhafteten ­ über 60 an der Zahl ­ zeigen wird. (Von diesen Auseinandersetzungen liegen leider keine Aufnahmen in diesem Dossier vor, da sich der Verfasser zu diesem Zeitpunkt im hinteren Teil des Demonstrationszugs und zu weit weg vom Geschehen befand.) Ab dem übernächsten Tag beginnen im Pariser Justizpalast die Verfahren gegen insgesamt 10 der aus diesem Anlass Festgenommenen. Sie enden jedoch überwiegend mit Freisprüchen (Labournet berichtete), so dass die Betroffenen mit dem Schrecken und einer "ernsten Warnung" davon kamen.

Die soziale Bewegung befindet sich zur selben Zeit tatsächlich am Wendepunkt: Zwei Tage später, am 12. Juni, wird frankreichweit das Abitur beginnen. Damit wird sich das Kräfteverhältnis beim Lehrerstreik ­ das Bildungswesen ist jener Sektor, der am stärksten von allen in den Streik involviert ist ­ in den nächsten Tagen auflösen. Denn nunmehr muss eine Entscheidung erfolgen: Entweder wird das Abitur ausfallen, was einen scharfen symbolischen Einschnitt bedeuten würde, denn das gab es zuletzt im Mai/Juni 1968 ­ was aber zugleich unter den derzeitigen Bedingungen riskant ist. Denn das Ausbleiben eines tatsächlichen Generalstreiks hat zur Folge, dass nicht das gesamte öffentliche Leben lahmgelegt ist. (Wäre letzteres der Fall, dann wäre das Ausfallen des Abiturs unproblematisch bzw. nur Teil eines allgemeinen Klimas, zumal auch die öffentlichen Transportmittel nicht verkehren würden. Unter gegebenen Bedingungen aber würde eine Isolierung der LehrerInnenschaft, gegenüber aufgebrachten Jugendlichen und Eltern drohen.) Oder aber das Abitur findet ­ weitgehend ungestört - statt, was aber als Rückgang der Bewegung interpretiert werden dürfte. In beiden Fällen aber wird die streikende Lehrerschaft in Bälde kein weiteres Druckmittel mehr in der Hand haben, da das Schuljahresende näher rückt.

In der Praxis wird sich die Sitution zugunsten der zweitgenannten Variante auflösen. Am 12. Juni beginnt frankreichweit das Abitur, ohne dass irgendwelche ernsthaften Störungen signalisiert würden. An den beiden vorausgehenden Tagen hatte Innenminister Sarkozy, als Unterhändler der Regierung (der Bildungsminister, Luc Ferry, ist in diesen Tagen weitgehend kaltgestellt) mit den größeren Lehrergewerkschaften einen "Kompromiss" ausgehandelt: Einige Kategorien, wie die SchulpsychologInnen und OrientierungsberaterInnen, sind von der geplanten "Dezentralisierung" des Schulwesens nicht betroffen. Diese wird künftig "nur" die technischen und adminstrativen Mitarbeiter der Schulen betreffen. An einigen Orten, wie in Marseille, müssen die Prüflinge am 12. Juni allerdings durch Polizeicordons hindurch in die Schulen treten.

Bernard Schmid

Man kann die nachfolgende Galerie durchblättern durch anklicken der einzelnen Bilder, das dann erscheinende Großformat ist mit Erläuterungen versehen - viel Spaß!





















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