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Updated: 18.12.2012 15:51
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Musterknabe Europas?

Tom Kucharz* über »subventionierten Frieden« und ein Spanien zwischen Grenzgang und Brückenkopf, Teil II

Im ersten Teil seines Länderberichts hatte Tom Kucharz u.a. über den Übergang von der Franco-Diktatur, die Folgen des Regierungswechsels nach den Terroranschlägen vom 11. März 2004 und die Modernisierung der spanischen Wirtschaft und Gesellschaft vor dem Hintergrund des EU-Beitritts berichtet. Im Folgenden richtet er sein Augenmerk auf aktuelle ökonomische, ökologische und gesellschaftspolitische Parameter wie auch auf die Bedeutung und den Charakter des spanischen EU-Grenzregimes.

1992 musste die Sozialdemokratische PSOE dreimal die Währung abwerten, 1994 fiel die Peseta beinahe aus dem damaligen europäischen Währungssystem. Kurzzeitig blieben selbst die ausländischen Investitionen fern. Alle Welt verkaufte Aktien und Anteile. Die Erwerbslosenquote erreichte 24 Prozent. Mittlerweile war die Verwaltung hoch verschuldet, weil sie den öffentlichen Haushalt für verschwenderische Großprojekte (Expo-92 in Sevilla, Olympische Spiele in Barcelona 1992 etc.) und großzügige Subventionen an die Unternehmen [1] benutzte. Hinzukamen die Ausgaben für Infrastruktur [2], die notwendig waren, um an das EU-Entwicklungsmodell »anzuschließen«. Das enorme öffentliche Defizit vergrößerte sich aufgrund der Krise: Abfindungen für Massenentlassungen der staatlichen Betriebe; Subventionen zur Produktivitätssteigerung; Erwerbslosenhilfe bei Zunahme der prekären Beschäftigungsmodelle etc.

Um die öffentlichen Haushalte zu sanieren, empfahl der IWF die Privatisierung der staatlichen Monopole. Sofort begann die PSOE, die rentabelsten Unternehmen zu verkaufen. Mit dem Einverständnis der Gewerkschaften entstanden so die heute weltweit tätigen transnationalen Unternehmen wie Telefónica, Repsol-YPF, Arcelor oder Endesa. In Folge der liberalisierten Auslandsinvestitionen kontrollierte das ausländische Kapital 1995 bereits 40 Prozent der Industrie und erwirtschafte 18,7 Prozent des BIP. [3] Nach Inkrafttreten des Maastricht-Vertrags siedelten sich die wirtschaftlich rentablen Aktivitäten aber vor allem in der »Goldenen Banane« [4] an. In Spanien dagegen schlossen die ersten ausländischen Fabriken, die nur wenige Jahre vorher mit lukrativen Steuererleichterungen ins Land gelockt worden waren, und die industrielle Investition sank abrupt. Weltweit verlagerte sich die Produktion vermehrt nach Lateinamerika, Asien und Osteuropa. Im Vergleich zu den Löhnen in Mexiko, Polen, Süd-Korea oder Thailand war Spanien nun kein »Billiglohnland« mehr. Später folgte auch das spanische Kapital dieser Tendenz. [5]

Die konservative Regierung unter José María Aznar von der Partido Popular (PP) setzte ab 1996 die Privatisierungen fort. Sein Wirtschaftsrezept lautete: öffentliches Defizit senken, privatisieren und Wirtschaftswachstum. Es hatte Erfolg. Jahrelang wuchs das BIP über dem EU-Durchschnitt, 1998 erfüllte Spanien gar die Konvergenzkriterien und wurde in den Euro-Club aufgenommen. Der Anstieg der Familieneinkommen und der scheinbare Rückgang der Erwerbslosigkeit hatte zahlreiche soziale Konflikte entschärft. >Familienwohlfahrt statt Wohlfahrtsstaat<, so lautete die Devise. Die PP kürzte radikal die öffentlichen Ausgaben in sozialen Bereichen und investierte zunehmend in Infrastruktur und Dienstleistungen.

¿»España va bien«?

Zehntausende Baukräne, erfolgreiche multinationale Unternehmen, wachsende Inlandsnachfrage, gutverdienende Selbstständige und sorgenlose Rentner deuten auf Wohlstand und Wirtschaftswachstum. Das ist das Bild, das die Wirtschaftszeitungen präsentieren. Sie berichten davon, dass heute 90 Prozent der Bevölkerung über einen Telefonanschluss verfügen, 80 Prozent ein Auto besitzen, 93 Prozent der dreijährigen Kinder bereits eingeschult werden, die ärztliche Versorgung zu 99,8 Prozent abgedeckt und die Lebenserwartung von 75 auf 79 Jahre angestiegen ist, bei Frauen sogar auf 82,8 Jahre. Damit sei Spanien weltweit an fünfter Stelle.

Tatsächlich wuchs die spanische Wirtschaft im letzten Jahr um 3,4 Prozent, fast dreimal soviel wie die Eurozone. Zapatero erwog wiederholt den Eintritt in den Klub der G-8, da Spanien damit weltweit an achter Stelle liege und die »Konditionen« erfülle. Das Bruttoinlandsprodukt liegt bei ca. 23300 Euro pro Einwohner. Bei einer Bevölkerung von 43 Millionen gelten 19314300 als erwerbsfähig (56 Prozent), einer der EU-weit tiefsten Ziffern. Die Geburtenrate ist niedrig und die Bevölkerung veraltet. Die Zahl der erwerbslos Gemeldeten lag im Januar 2006 bei 1841300 (davon 65 Prozent Frauen), was einer Erwerbslosenquote von 8,7 Prozent entspricht. Bis 2004 verzeichnete das Land die höchste Erwerbslosenquote der EU. Während in Katalonien 6 Prozent erwerbslos sind, trifft diese Situation in Andalusien für 18,6 Prozent der Erwerbsfähigen zu. Nur 62 Prozent der »arbeitslos Gemeldeten« erhalten eine staatliche Unterstützung. Es ist zwar richtig, dass die Erwerbslosigkeit in Spanien seit den 90er Jahren abgenommen hat [6], doch wurde sie vielfach nur durch prekäre Angebote ersetzt. 33,3 Prozent aller Arbeitsverträge sind zeitlich befristet. »In Spanien arbeiten so viele Prekäre wie in Italien, England, Belgien und der Schweiz zusammen«, beschwert sich die Gewerkschaft UGT. Tendenz steigend. Denn nur einer von zehn neuen Arbeitsverträgen ist unbefristet, der Rest dauert im Durchschnitt nur 21 Tage. Immer mehr Verträge werden von Zeitarbeitsfirmen ausgestellt. [7] Diese drücken die Lohnnebenkosten, ignorieren die Flächentarifverträge und untersagen oftmals gewerkschaftliche Tätigkeiten. Jugendliche bis 30 Jahren leiden zu 70 Prozent unter dieser prekären Beschäftigungsstrategie, EU-weit sind es dagegen nur zwölf Prozent.

»Der informelle Arbeitsmarkt taucht in den offiziellen Statistiken gar nicht erst auf«, beklagt Miren Etxezarreta, Wirtschaftsprofessorin der Universität von Barcelona. Dieser ungeregelte Niedriglohnsektor mache jedoch 10 bis 20 Prozent des gesamten Arbeitsmarktes aus. Er betreffe insbesondere die Hausarbeit und die Landwirtschaft. Beides Bereiche, in denen immer mehr Migranten arbeiten. »Sie haben es generell viel schwerer als die Arbeiter mit Vertrag«, sagt Etxezarreta, »da sie außerhalb der Gesetze sind, gibt es keinerlei Kontrolle, weder über ihre Gehälter, noch über ihre Arbeitszeit und schon gar nicht über die Arbeitsbedingungen«.

Obwohl die Frauen zwei Drittel der bezahlten und unbezahlten Arbeit verrichten, verdienen sie auf dem Arbeitsmarkt für die gleiche Arbeitszeit, Tätigkeit bzw. Qualifikation im Durchschnitt 30 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Das durchschnittliche Jahreseinkommen liegt bei 19802,45 Euro. [8] Doch während man in einer Bank bis zu 37000 Euro verdient, sind es in einem Restaurant nur 13200 Euro. Das gesetzlich geregelte monatliche Mindesteinkommen beträgt 490,80 Euro. Zapatero hat versprochen, es auf 513 Euro zu erhöhen. Das entspräche dann 36 Prozent des durchschnittlichen Jahreseinkommens. Ein Manager dagegen verdient zwischen 63 und 1861 Mindestgehälter.

Statistisch gesehen existieren in Spanien 3,06 Mio. Firmen, davon arbeiten 78 Prozent im Dienstleistungsbereich. Den Großteil der Beschäftigten stellen kleine und mittelständige Unternehmen. [9] Die Hälfte haben aber keinen einzigen Angestellten, sondern sind so genannte »Ich-AGs«. Schließlich stellen die Selbständigen bis zu 18 Prozent aller Erwerbstätigen. Im Vergleich zu großen Unternehmen tragen sie wesentlich höhere Steuerlasten. Die Beschäftigung in den großen Unternehmen fällt entweder oder wächst nur kümmerlich. So stieg die Zahl der Angestellten in den im Börsenindex Ibex-35 zusammengefassten Konzernen zum Beispiel 2003 um lächerliche 0,49 Prozent. Im Gegenzug multiplizierte sich der Umsatz an der Börse jedoch kontinuierlich. [10] Die Firmen des Ibex-35 verbessern jedes Jahr ihre Ergebnisse in einem Rhythmus der über die nächsten Jahre sehr schwer zu halten sein wird. Endesa verzeichnete allein im Jahr 2005 einen Nettogewinn von 3,18 Mrd. Euro (+154 Prozent gegenüber dem Vorjahr), Repsol-YPF 3,12 Mrd. (+29,2 Prozent), die Banken BBVA 3,80 Mrd. (+30 Prozent) und Santander ganze 6,22 Mrd. Euro (+72,5 Prozent). 15 Millionen Personen sollen insgesamt 283 Milliarden Euro an der Börse, 163 Milliarden Euro in Investmentfonds und 80 Milliarden in Rentenfonds angelegt haben. An der Börse kontrollieren die Auslandsinvestoren 35 Prozent des Marktes und 50 Prozent des Umsatzes.

Immobilienspekulation und -blase

Das anhaltende Wirtschaftswachstum seit 1992 hatte unter anderem ein Ungleichgewicht innerspanischer Wanderungsbewegungen zur Folge. Zwanzig Jahre EU-Mitgliedschaft provozierten eine intensive Urbanisierung in Ballungszentren, während 80 Prozent des Territoriums Bevölkerung verlor. Eine traditionelle Landwirtschaft gibt es nicht mehr, dafür wird aber in wüstenähnlichen Landschaften Obst und Gemüse angebaut und nach Mittel- und Nordeuropa exportiert. Insbesondere entlang der Küstenregionen Murcia, Alicante, Almeria und bis nach Huelva entstand so eine industrielle Landwirtschaft, die zwar 68 Prozent der spanischen Agrarexporte ausmacht, dafür aber die Wasserressourcen aufbraucht bzw. mit der intensiven Nutzung von Pestiziden und Düngemitteln das Grundwasser und die Flüsse unbrauchbar macht. Heute sind die Hälfte der spanischen Flüsse, Grundgewässer und Talsperren überstrapaziert oder stark verschmutzt. An der Küste fiel der Grundwasserspiegel aufgrund hoher Belastungen durch die illegale Benutzung von Brunnen, weshalb 60 Prozent des Süßwassers dort für Jahrzehnte versalzen ist. Die lokale Verwaltung schaut tatenlos zu oder ist in korrupte Machenschaften verwickelt.

Unterdessen konzentriert sich die Bevölkerung und die Wirtschaftsaktivitäten auf 20 Prozent des Territoriums. In einigen Provinzen ist der urbanisierte Boden in den letzten zehn Jahren um 50 Prozent gestiegen (vor allem Madrid und die Küstenregion um die Strandmetropolen in Murcia, Alicante, Malaga und Valencia). Allein im letzten Jahr wurden 800000 neue Wohnungen gebaut, mehr als in Deutschland, Frankreich und England zusammen. Die Nachfrage ist groß, die Preise steigend. Die Familien schuldeten den Kreditanstalten zum Ende 2005 mehr als 650 Mrd. Euro, davon 474,40 Mrd. in Hypotheken. Das sind bereits 53 Prozent des BIP. Einer Untersuchung des Nationalen Statistikinstituts zufolge gaben die spanischen Haushalte 1985 noch 30 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel, Alkohol und Tabak aus. Heute seien es weniger als 20 Prozent. Ein immer größerer Anteil entfalle auf Konsumartikel und vor allem auf die Dienstleistungen, insbesondere die finanziellen. Mit den Jahren, aber vor allem seit 1996, gewinnt der Anteil (55 Prozent), den die Bürger in eine Eigentumswohnung investieren, an Bedeutung. Dieser Immobilienboom ist nicht nur mit der internen Nachfrage und den billigen Krediten (von 15 Prozent im Jahr 1992 auf 4 Prozent heute) zu erklären. Auslandsinvestitionen in den spanischen Immobiliensektor in Form von Renten-, Investitions- und Immobilienfonds bzw. Geldwäsche, mit Rentabilitätsraten von bis zu 20 Prozent in den letzten Jahren, ließen den Sektor explodieren. Heute sind bereits 17 Prozent der spanischen Wirtschaft von dem »Ziegel« - wie man hier spöttisch sagt - abhängig. Der intensive Urbanisierungsprozess verursacht natürlich auch enorme Umweltbelastungen (Wassermangel, dichte Besiedelung, Abfallversorgung, stark zunehmender Verkehr und Energiekonsum etc.).

Das »spanische Wunder«?

Vereinfachend kann gesagt werden, dass das neoliberale Entwicklungsmodell der spanischen Wirtschaft zwar relativ hohe Wachstumsraten bescherte und für ein angestiegenes Lebensniveau sorgte. Doch offenbart es gleichzeitig eine Reihe von Problemen, die darauf schließen lassen, dass dieses Wachstum sehr wahrscheinlich bald abnehmen wird. [11] So warnte die Spanischen Zentralbank vor einiger Zeit vor der Möglichkeit einer »schlagartigen und ungeordneten Korrektur« des spanischen Immobilienmarktes. »Ein derartiges Szenarium hätte enorme Folgen für die spanische Wirtschaft«, meint Durán, »die in den letzten Jahren das größte Defizit der Welt akkumulierte, nämlich 7 Prozent des BIP, was bisher ohne Probleme durch die Beteiligung am Euro finanziert werden konnte, doch die Familienverschuldung aufgrund der hohen Grundstückspreise, die geringe Produktionsbasis in der Industrie sowie das hohe Auslandsdefizit könnten das Wachstum gefährden.« Wenn Spanien nicht in der Eurozone wäre, »würden wir unsere Währung, die Peseta, stark entwertet vorfinden, mit einer Inflationsrate um das doppelte so hoch wie die aktuelle, mit einem sehr hohen Haushaltsdefizit und einer Verschuldung von etwa 100 Prozent des BIP«, schrieb Guillermo De la Dehesa im letzten Jahr in El País. »Wir würden sicherlich starke Anpassungsmaßnahmen der internen Nachfrage vornehmen, die uns eine Rezession produziert hätte, da die hohen Erdölpreise, mit einer abgewerteten Peseta, und unsere Abhängigkeit von den Erdölimporten, uns ein Handelsdefizit mit gigantischen Ausmaßen produziert hätte, das wir wiederum mit Euros und Dollars durch die Exporte ausgleichen müssten, was unmöglich wäre, ohne unsere Auslandsschulden zu erhöhen«, so De la Dehesa. Sollten die Rohstoffpreise weltweit weiter ansteigen und die Zinsen in der Eurozone plötzlich steigen, wäre eine Krise in der Immobilienbranche nicht ausgeschlossen. Der logische Rückgang in der Bauindustrie würde dann die Seifenblase der Immobilienspekulation zum Platzen bringen. Das Wirtschaftswachstum und die Konsumtätigkeit würden sinken, und die Banken gerieten in einen Abwärtsstrudel.

Drei Spaniens

Folglich würde die Erwerbslosigkeit steigen, die Gehälter sinken und die öffentliche Not explodieren. Vor allem wirkt es sich auf die verschiedenen sozialen Gruppen unterschiedlich aus. In dem selben Land existieren parallel drei Spaniens, findet das Seminar für Alternative Wirtschaft TAIFA, eine Gruppe kritischer Ökonomen aus Katalonien [12]:

Ein »arbeitendes Spanien«, das wächst, mit einer Bevölkerung, die seine materiellen Bedürfnisse relativ gut abdeckt, einem hohen - fast krankhaften - Konsumniveau und einem enormen Verschuldungsgrad. »Typische Familien, mit ein oder zwei Kindern, beide Erwachsenen erwerbstätig, leben gut, haben aber nur wenige soziale Dienste zur Verfügung, die zudem immer mehr privatisiert werden. Sie akzeptieren den Diskurs des Individualismus und glauben, wer nicht so lebt wie sie, ist selber schuld«, so TAIFA in einer Studie.

Dann haben wir das »verschwenderische Spanien« einer Minderheit mit außerordentlichen Lebensbedingungen: Finanzmann/frau, Eigentümer von Immobilien, Finanzkapital oder Industrien, erfolgreiche Unternehmer, hohe Angestellte, einige Journalisten, Künstler, Sportler und ihre Familien, sowie ein reichlicher Teil der Politiker und der Kirche. Das ist die spanische jet society. Sie bestimmen die Meinungsbildung in den Massenmedien und glauben: »Spanien geht es gut«.

Zuletzt ist da das arme Spanien, dem es gar nicht gut geht und das etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmacht. Dieses Spanien leidet unter Erwerbslosigkeit, prekärer Beschäftigung, eingefrorenen bzw. sinkenden Löhnen, fehlenden sozialen Dienstleistungen, ungerecht verteiltem Reichtum, Ausgrenzung und Armut. »Menschen, die überleben, weiter nichts. Eine Bevölkerung, die kein Lebensprojekt vor Augen hat, keine Zukunftsaussichten. Das ist das traurige Spanien, das viel zu viele Menschen betrifft«, so Taifa.

Eine mögliche Rezession beantwortet die Regierung mit den üblichen neoliberalen Rezepten. »Wie können wir dem Defizit begegnen? Natürlich mit einer höheren Wettbewerbsfähigkeit der Firmen, die nur durch eine steigende Produktivität erreichbar ist. Oder anders gesagt: wenn die Gehälter steigen, weil die Produktivität zunimmt, die Herstellungskosten jedoch gleich bleiben, haben wir mehr Spielraum, um wettbewerbsfähiger zu sein«, glaubt der Wirtschaftsminister Pedro Solbes. In Spanien fielen die Herstellungskosten 2003 um 0,5 Prozent. Die durchschnittliche Arbeitszeit pro Jahr (1757,2 h) stieg im letzten Jahr um zwei Stunden, während die Nettogehälter 2004 und 2005 stagnierten. Und trotzdem machen Wirtschaft und Regierung weiterhin die »hohen Lohnkosten« für die fehlende Produktivität verantwortlich.

In den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres registrierte das Arbeitsministerium mehr als 900000 Unfälle. Dabei kamen 990 Personen ums Leben. Ein Drittel der Opfer sind Migranten. Oft arbeiten sie ohne eine spezifische Ausbildung, oder es fehlt an Arbeitsschutzmaßnahmen. Eine Reportage in der Zeitung El País über den Bau der neuen U-Bahnlinien in Madrid zeigt die Realität des neuen Arbeitsmarktes: Auf dem Bild, das den Text begleitet, sieht man nur Migranten, die in den Tunnelschächten arbeiten. Spanien sei ein Beispiel dafür, so der EU-Kommissar für Erwerbstätigkeit und soziale Fragen, Vladimir Spidla, um zu zeigen, dass die Ankunft einer erheblichen Zahl von Migranten und ihre Regularisierung zu positiven Wirtschaftsdaten führen kann.

Migranten: die neuen Sklaven des 21. Jahrhunderts

Nach Angaben der Spanischen Kommission zur Hilfe von Flüchtlingen (CEAR), benötige das Land jedes Jahr die Zuwanderung von 300000 Personen, um das BIP, die Geburtenrate und das Rentensystem stabil zu halten. Lebten 1998 etwa 630000 Ausländer in Spanien (davon 42 Prozent aus der EU), sprechen die offiziellen Statistiken heute von 3691500 (8,4 Prozent, davon 21,3 Prozent aus der EU).

Einmal am Zielort angelangt, arbeiten die meisten von ihnen in den Nischen des Arbeitsmarktes unter sklavenähnlichen Bedingungen: Schuhproduktion, Landwirtschaft, Lederverarbeitung, Baustellen, Reinigung, Prostitution sowie Hausarbeit. [13] In vielen Fällen ohne Arbeitsvertrag und ohne Sozialversicherung, schuften sie zu Hungerlöhnen, im Durchschnitt 10 bis 13 Stunden am Tag. Dieser Niedriglohnsektor bzw. informelle Arbeitsmarkt erwirtschafte jedoch bereits 23 Prozent des spanischen BIPs (130 Mrd. Euro). [14] Das geltende Ausländergesetz reproduziert diese Situation vielfach. »Während es ein Angebot klandestiner Arbeiter gibt, benutzen das die Unternehmer, um die Kosten zu drücken und die Bedingungen zu verschlechtern«, erklärt die Migrationsbeauftragte der Gewerkschaft UGT, Almudena Fontech. Dieser Sachverhalt hat unter anderem zur Folge, dass durch die prekären Arbeitsverhältnisse die Unfallquote überdimensional ansteigt. (Siehe oben)

Die Arbeitslosenquote unter Migranten ist dreimal so hoch wie beim Rest der Bevölkerung. Viele leben in Armut. In den Gemüseplantagen von Almeria oder den Erdbeerfeldern von Huleva nächtigen Migranten unter Plastikplanen, Bauschutt und Holzpaletten. Tausende betteln in Kirchen um Nahrungsmittel, leben in verlassenen Industriegeländen, Fabriken, Containern, Wohnanhängern, Garagen oder in Parks. »19 Prozent der Migranten wohnen in weniger als zehn Quadratmetern, 50 Prozent mieten Zimmer ohne Bad für durchschnittlich 200 Euro im Monat«, so Carlos Pereda in seiner unlängst veröffentlichten Studie »Immigration und Wohnung in Spanien«.

EU-Grenzland

Laut Angaben von Eurostat ließen sich 2003 fast 23 Prozent der in die EU eingereisten Migranten in Spanien nieder. Damit löste es Deutschland in der EU-Rangliste um die höchsten Aufnahmezahlen ab. Die Ursachen liegen u.a. in der geographisch günstigen Lage (14 km zwischen Ceuta und Algeciras, 100 km zwischen Tarfaya und Fuerteventura) und der steigenden Nachfrage nach billigen Arbeitskräften.

Aus dem einstigen Auswanderland wurde ein Vorreiter der EU-Migrationspolitik. Zum einen baute die Regierung das Grenzregime aus, zum anderen regulierte die die Einreise von Arbeitskräften, je nach den Bedürfnissen der Wirtschaft. Parallel dazu beeinflusste Spanien in den letzten Jahren entscheidend die Entwicklung der Politik der Inneren Sicherheit und Justiz der EU. Seitdem 1991 die Schengener Visabestimmungen für Marokko in Kraft traten [15], wurde aus der Meeresenge zwischen Afrika und Europa ein Massengrab, in dem laut Menschenrechtsorganisationen in den letzten 15 Jahren mehr als 5000 Menschen ertranken.

Spanien fordert von der EU seit Jahren vehement Mittel und politische sowie juristische Initiativen, um die nationalen Kosten der »Grenzsicherung« auf alle Unionsmitglieder abzuwälzen. »Die Bewachung der Grenzen ist keine nationale, sondern eine EU-weite Angelegenheit«, so der ehemalige Regierungsbeauftragte für Migration, Ingnacio Gonzales, »dessen Kosten es gilt, gemeinsam zu bestreiten« [16]. Die EU-Kommission finanziert mittlerweile mit mehreren Millionen Euro den Aufbau einer Europäischen Agentur, um die Zusammenarbeit an den Außengrenzen zu verbessern bzw. die Abschiebungen EU-weit zu regeln. Außerdem ver-lagerte die spanische Regierung die Schengengrenzen weiter nach Süden, um die Weiterreise von Migranten aus Ländern südlich der Sahara bereits in den Maghrebstaaten selbst zu bremsen. So wurden die be-treffenden Behörden dieser Staaten direkt in die Verwirklichung der europäischen Abschottungspolitik eingebunden.

Marokko z.B. folgte den spanischen Forderungen, aktivierte seine Grenzpolizei, eröffnete ein Überwachungszentrum der Migrationsbewegungen, das in Koordination mit dem Außen-, Innen- und Finanzministerium »alle Informationen zusammenträgt und Vorschläge zur Eindämmung des Phänomens erarbeitet«. Seit 2004 patroullieren marokkanische und spanische Polizisten und Soldaten auf dem Seeweg zwischen El Aaiun und Fuerteventura bzw. in der Meerenge von Gibraltar. Marokko verwandelte sich damit in ein »Auffanglager« der EU. Menschenrechtsorganisationen erwarten schon seit geraumer Zeit, dass sich dadurch die Situation afrikanischer Flüchtlinge verschlechtert, weil die sozialen Konflikte in Marokko auf dem Rücken der Migranten ausgetragen werden. Die Tragödie an der Grenze zwischen Marokko und Ceuta bestätigte diese Ängste. Im Oktober letzten Jahres töteten spanische und marokkanische Sicherheitsbeamte mehrere Flüchtlinge, als sie versuchten den Grenzzaun zwischen beiden Staaten zu überwinden. Auch die Militarisierung der Region, die willkürlichen Abschiebungen sowie die Repression gegen die einheimische Bevölkerung werden mit Hilfe der spanischen »Kooperation« in Sachen »Migrationskontrolle« zunehmen. Die spanische Regierung finanziert marokkanische Abschiebezentren und benutzt die Entwicklungshilfe zur Aufrüstung und Modernisierung der marokkanischen Polizei. [17] Ganz im Sinne der britischen und deutschen Regierung, außerhalb der EU »Zentren zur Asylbearbeitung« einzurichten, um die »Flüchtlingsströme von den EU-Grenzen fernzuhalten«.

Schlechte Aussichten

Unter der scheinbar »idyllischen« Oberfläche des »spanischen Wunders« stecken eine Reihe sozialer und ökologischer Probleme. So verbreiten sich in immer größeren sozialen Bereichen äußerst prekäre Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Die soziale Ausgrenzung sowie die Gewalt unter Jugendlichen nimmt zu, und die Anzahl der Häftlinge hat sich in zwanzig Jahren verdreifacht.

Den spanischen Behörden bereitet außerdem die zukünftige Verteilung der EU-Fonds Sorgen. Nach der EU-Erweiterung 2005 werden diese für das Mittelmeerland bedeutend sinken. Bisher erhielt es mehr als ein Viertel der EU-Struktur- und Kohäsionsfonds sowie 15 Prozent der Agrarsubventionen. Mit der anstehenden Mittelstreichung ab 2013 wird Spanien dann neuen Problemen begegnen müssen. Dass sich die wirtschaftliche und soziale Situation bis dahin verschlechtert hat, ist kein Geheimnis mehr, auch wenn die großen Unternehmen alle drei Monate Gewinne melden.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 7-8/06


(1) Die Automobilfirma Seat wurde mit 300 Milliarden Peseten saniert und dann für 80 Milliarden Peseten an Volkswagen verkauft.

(2) Transport, Telekommunikation, Energie

(3) Der Anteil der Auslandsinvestitionen am BIP betrug im Jahr 2000 ganze 35,9 Prozent, ist seitdem aber fallend. Vgl. El País-Negocios vom 2. Januar 2005.

(4) Die sog. »Goldene Banane« bezeichnet die europäischen Regionen von Südengland-London über Nordfrankreich-Paris, Beneluxstaaten, Süddeutschland-Frankfurt und Norditalien.

(5) Allein im Bereich Textil lassen heute 300 spanische Firmen ihre Produkte in Marokko herstellen.

(6) 2005 sollen nach statistischen Angaben 548300 neue Arbeitsstellen geschaffen worden sein (die höchste Ziffer seit 1998).

(7) Genauer: einer von sieben neuen Verträgen!

(8) Männer: 22196,16 Euro; Frauen: 15767,56 Euro

(9) Acht von zehn Firmen haben nur zwei oder weniger Beschäftigte. Vgl. Nationales Statistikinstitut, 2005

(10) Seit 1985 multiplizierte sich der Umsatz um 88. In den ersten 10 Monaten des Jahres 2004 wurden an der Madrider Börse 530 Milliarden Euro bewegt. Vgl. El País-Negocios vom 2. Januar 2005

(11) Zwischen Juni und Juli 2005 hätten sich 14557 Personen arbeitslos gemeldet. Mitten in der Tourismussaison ist das ein schlechtes Zeichen, da das Tourismusgeschäft mehr als 11 Prozent des BIP ausmacht. Außerdem wurden im Jahr 2005 insgesamt 304000 weniger Kraftfahrzeuge hergestellt. In einem Sektor, der 10 Prozent der Erwerbstätigen und 8 Prozent des BIP ausmacht.

(12) Vgl. TAIFA - Seminario de economía crítica: La situación actual de la economía española. Barcelona, 2005

(13) Dossier campaña de la fresa en Huelva, movilizaciones de immigrantes y encierro en la Universidad Pablo de Olavide-Sevilla, 2003

(14) Fundación de Cajas de Ahorros Confederadas (FUNCAS): Papeles de la Economía Española, 2003

(15) Die sozialdemokratische Regierung verabschiedete 1985 das Ausländergesetz 7/85 und unterzeichnete den Schengener Vertrag, der aber erst am 25. Juni 1991 in Kraft trat.

(16) El País vom 26. Oktober 2003

(17) Asociación Pro Derechos Humanos de Andalucia: El Estrecho: la muerte de perfil. Los derechos humanos y la inmigración clandestina, Sevilla, 2003


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