letzte Änderung am 21. Oktober 2003

LabourNet Germany ARCHIV! Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Home -> Internationales -> Algerien -> Arbeitskampf -> Streikwelle Suchen

Algerien: Massive Streikwelle im Bildungswesen und bei den Eisenbahnern

Die gesamte vergangene Woche über war die Situation in Algerien von Streikbewegungen geprägt. Am Montag voriger Woche (12. Oktober) begann gleichzeitig die Streiks in den Mittel- und Oberschulen, am darauf folgenden Tag jener bei der staatlichen Bahngesellschaft SNTF.

(Selbst-)Organisationsstrukturen im Bildungswesen

Der Streik im landesweiten Bildungswesen (in Mittel- und Oberschulen) war zunächst auf vier Tage befristet, von Montag bis zum Donnerstag - dem ersten Tag des algerischen Wochenendes, da der Freitag der muslimische Gebetstag ist, wie der Sonntag in christlichen Ländern. Bereits am vergangenen Montag wurden 14 Lehrer in Algier wegen "illegalen" Ausstands vom Dienst suspendiert; für diesen ersten Streiktag meldete die Tageszeitung "El Watan" eine landesweite Streikbeteiligung um die 90 Prozent (in den 38 von insgesamt 48 Verwaltungsbezirken, die am Streik teilnehmen). Um die Wochenmitte wurden Beteiligungsraten von über 98 Prozent gemeldet, die 35 Verwaltungsbezirke betreffen, berief die Presse sich vorwiegend auf gewerkschaftliche Quellen.

Im landesweiten Schulwesen wird der Streik von zwei konkurrierenden Organisationen angeführt, der Gewerkschaft Cnapest (die jedoch nicht dem Gewerkschafts-Dachverband UGTA angegliedert, sondern "autonom" ist) sowie der eigenständigen Streikkoordination der Oberschulen von Algier, CLA. Cnapest steht für "Conseil national autonome des professeurs de l'enseignement secondaire et technique" (Landesweiter Rat der Oberstufen- und Berufsschullehrer). CLA wiederum steht für "Conseil des lycées d'Alger" (Rat der Oberschulen von Algier), eine Art autonomer Basiskoordination.

Letztere Struktur wird von einem ehemaligen Aktivisten der radikalen Linken angeführt, Radouan Osmane, der Ende September wegen seiner Aktivitäten vorübergehend inhaftiert worden war. Der etwa 45jährige Radouan Osmane, der von seinen Freunden liebevoll "Radovan Karadzic" genannt wird - aber, die LeserInnen seien beruhigt, nur wegen der gleichen Herkunft der Vornamen - war bis vor circa zwei Jahren Führungsmitglied des PST (Parti socialiste des travailleurs, Sozialistische Arbeiterpartei). Es handelt sich um eine kleine marxistische Partei, die es im Gegensatz zu anderen linken Formationen geschafft hat, weder ins Schlepptau der Islamisten (wie die linkspopulistische "Arbeiterpartei" PT während mehrerer Jahre) noch jenes der Militärs zu geraten. Doch Radouane Osmane schied aus der kleinen Partei, die enorme Schwierigkeiten während der Jahre von Bürgerkrieg und Terror erlitt und deswegen nur noch rudimentäre kollektive Leitungsstrukturen besitzt, wegen Differenzen zu deren Sprecher Chawki Salhi aus. Letzterer ist ein ehemaliger Eisenbahner, dessen Ehefrau Soumilliah Salhi der Führung des Gewerkschaftsbunds UGTA angehört und nach wie vor eine wichtige Rolle in der gewerkschaftlichen Frauenarbeit spielt.

Fortgang des Streiks und Sanktionen

Nachdem der Streik keine nennenswerten Zugeständnisse seitens der Regierung erzielte, riefen beide Strukturen (Cnapest und CLA) am Samstag den unbefristeten Streik aus. Dieser hielt am Sonntag unvermindert an. Zudem richtete der Ausstand nunmehr auch mit wachsender Schärfe gegen die Sanktionen, die wegen "illegaler" Arbeitsniederlegungen verhängt worden sind. Der Cnapest-Vorsitzende Méziane Mériane kündigte in "Le Matin" an, der Streik werde so lange (ohne Befristung) weitergehen, bis die Repressalien zurückgenommen würden.

Bis zum Wochenende waren Strafverfahren gegen insgesamt 300 Lehrer eingeleitet worden, denen Geldstrafen drohen. Am Donnerstag (dem ersten Tag des Wochenendes) und am Samstag, zum algerischen Wochenbeginn, kam es etwa im Gericht der ostalgerischen Metropole Constantine zu tumultartigen Szenen. Dort waren 42 Lehrer zugleich angeklagt, doch das Gericht wurde von deren Freunden und Familien eingenommen, so dass der Prozess am Donnerstag zunächst gar nicht stattfinden konnte und vorläufig platzte. Der Cnapest-Vorsitzende Mériane selbst war am Mittwoch anlässlich eines viel beachteten Sit-ins vor der Schulbehörde von Bordj Bou Arrérj, gut 100 Kilometer östlich von Algier, mit 11 anderen Personen inhaftiert, aber nach mehreren Stunden wieder freigelassen worden.

Zugleich wurden, nach Angaben der Tageszeitung "El Watan" vom Samstag, bisher 400 Lehrer sowie neun Schuldirektoren wegen Streikbeteiligung oder -unterstützung vom Dienst suspendiert.

Denn die örtlichen Behörden erklärten sowohl die "autonome" Gewerkschaft Cnapest als auch die Selbstorganisations-Struktur CLA (als nicht offiziell anerkannte Gewerkschaften) für nicht berechtigt, einen Streik anzuführen, weshalb dieser illegal sei.

Die Streikenden fordern vor allem Lohnerhöhungen. Eine Lehrperson verdient in Algerien rund 14.000 Dinar (rund 200 Euro), der gesetzliche Mindestlohn  des Landes wird demnächst von 8.000 auf 10.000 Dinar (rund 150 Euro) angehoben. Eine Wohnung in Algier kann leicht bis zu 20.000 Dinar kosten, weshalb auch kleine Wohnungen meist von sieben bis acht Personen belegt werden. Cnapest und CLA forderten zum Streikbeginn Lohnerhöhungen in Höhe von 100 Prozent sowie einen Rentenanspruch nach 25 Dienstjahren. Die Lehrerinnen und Lehrer standen während der letzten Jahre häufig in der ersten Reihe der vom islamistischen Terrorismus bedrohten, und sind dies in entlegeneren Landesteilen auch heute noch - etwa weil sie in den Augen bewaffneter Islamisten den verhassten "ungläubigen Staaté" repräsentieren, Mädchen und Jungen zugleich unterrichten usw. Dieser Berufsstand hat in den Neunziger Jahren wohl mit den höchsten Blutzoll erbracht.

Wiederholter Streik im Transportsektor

Um Lohnforderungen geht es auch bei den Eisenbahnern, deren Verdienst in ähnlicher Höhe liegt. Sie fordern eine Erhöhung um 2500 Dinar (rund 40 Eruo), die SNTF will ihnen bisher ein Drittel davon gewähren, nämlich 800 Dinar. Die algerischen Eisenbahner hatten bereits am 9. und 10. September dieses Jahres in Algier und Constantine für ihre Forderungen gestreikt.

Eine Klage wegen "illegalen" Streiks sowie der Nichteinhaltung eines "service minimum" (also Einrichtung einer Mindestbelegschaft) wurde am Mittwoch von einem Bezirksgericht in Algier, dem des Bezirks Sidi Mhammed, abgewiesen. Das Gericht erklärte sich für unzuständig, um - wie von Betriebsleitung und Behörden gewünscht - eine Einstweilige Verfügung gegen den Streik zu erlassen. Zur gleichen Zeit berichtete die algerische Presse von "fast 100 Prozent Streikbeteiligung" unter den insgesamt 12.000 Eisenbahnern.

Wiederholter Streik im Transportsektor endet mit Erfolg

Um Lohnforderungen geht es auch bei den Eisenbahnern, deren Verdienst in ähnlicher Höhe liegt. Sie fordern eine Erhöhung um 2500 Dinar (rund 40 Euro), die SNTF wollte ihnen anfänglich ein Drittel davon gewähren, nämlich 800 Dinar. Die algerischen Eisenbahner hatten bereits am 9. und 10. September dieses Jahres in Algier und Constantine für ihre Forderungen gestreikt.

Eine Klage wegen "illegalen" Streiks sowie der Nichteinhaltung eines "service minimum" (also Einrichtung einer Mindestbelegschaft) wurde am Mittwoch von einem Bezirksgericht in Algier, dem des Bezirks Sidi Mhammed, abgewiesen. Das Gericht erklärte sich für unzuständig, um - wie von Betriebsleitung und Behörden gewünscht - eine Einstweilige Verfügung gegen den Streik zu erlassen. Zur gleichen Zeit berichtete die algerische Presse von "fast 100 Prozent Streikbeteiligung" unter den insgesamt 12.000 Eisenbahnern.

Am Wochenende hielt der Ausstand an. Zugleich drohte in Teilen des Landes Treibstoffmangel, da in Algerien Benzin vor allem in Zügen zu den Endverbrauchern transportiert wird.

Am Montag berichtete dann die algerische Presse, der Ausstand der Eisenbahner sei am Vorabend beendet worden, nachdem ein Teilerfolg bezüglich der zentralen Lohnforderung mittels eines Abkommens erzielt werden konnte. Dem Abkommen zufolge werden die Löhne der Eisenbahner künftig um 1.500 Dinar (rund 25 Euro) monatlich erhöht.

 

Bernhard Schmid (Paris, mit Hilfe der algerischen Presse sowie telefonisch eingeholten Informationen)

Stand 20.10.2003

LabourNet Germany Top ^