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Updated: 18.12.2012 16:00
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Zum "Appell fürgewerkschaftliche Freiheiten"

Ein relativ kurzer „Appell für die öffentlichen und gewerkschaftlichen Freiheiten in Algerien“ (Appel pour les libertés publiques et syndicales en Algérie) wurde in den ersten Septembertagen in Paris veröffentlicht.Ein Bewertungsversuch von B. Schmid vom 22. September 2005

« Appell für gewerkschaftliche Freiheiten » in Paris lanciert

Ein relativ kurzer „Appell für die öffentlichen und gewerkschaftlichen Freiheiten in Algerien“ (Appel pour les libertés publiques et syndicales en Algérie) wurde in den ersten Septembertagen in Paris veröffentlicht. Er steht im Zusammenhang mit einer Demonstration, die am Samstag dieser Woche um 18 Uhr in der französischen Hauptstadt stattfinden soll, und die unter dem Motto „Nacht gegen das Vergessen“ steht.

Diese Aktivitäten müssen natürlich vor dem Hintergrund des Referendums, das am kommenden Donnerstag ( 29. September) in Algerien stattfindet, betrachtet werden. An diesem Datum stimmt die algerische Wahlbevölkerung über eine Vorlage von Präsident Abdelaziz Bouteflika (oder Boutefliqa, je nach Transkription aus dem Arabischen) ab, die „Charta für den Frieden und die nationale Aussöhnung“ heißt. Dabei geht es um eine weitgehende Amnestie für die noch verbliebenen bewaffneten Islamisten in Algerien, die u.a. ein Signal für die „wiedererrungene Stabilität des Landes“ auf internationaler Bühne aussenden soll. Dabei bleiben die Konturen des Projekts aber reichlich unscharf, da weder eine klare Ausschlussfrist (bis zu der eventuelle Amnestiekandidaten die Waffen niedergelegt haben müssen, um von dem Angebot zu profitieren) noch andere Modalitäten zur Umsetzung der Initiative in dem Text näher definiert werden. Der wirklich entscheidende Inhalt der Vorlage steckt also allein im letzten Satz, den die algerische Wahlbevölkerung mit dem übrigen Text absegnen soll: „Das algerische Volk setzt sein Vertrauen in den Präsidenten, um die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen...“

Inhalt des Aufrufs vom 6. September

Die an dieser Stelle für uns besonders interessanten, da gewerkschaftliche Fragen näher betreffenden Passagen des Appells lauten:

„In dem Augenblick, in dem die algerischen Machthaber neue Formeln erfinden, um sich selbst von erschreckenden Menschenrechtsverletzungen zu amnestieren, werden die Freiheit der Meinungsäußerung, die Versammlungsfreiheit, aber auch die gewerkschaftlichen Freiheiten (Anm. Bernard Schmid: im Plural, weil sie die Freiheit der Gewerkschaftsgründung sowie die Freiheit der gewerkschaftlichen Betätigung umfassen) in Algerien mehr denn je unterdrückt. (...) Auf sozialer Ebene stellen die autonomen Gewerkschaften fest, dass die wirtschaftliche Logik der Regierung, die neoliberal inspiriert ist, eine rüde und kontinuierliche Verschlechterung der Existenzbedingungen der abhängig Beschäftigten und ihres Lebensstandards nach sich gezogen hat. Die Unverantwortlichkeit und die autoritäre Kultur der algerischen Regierung haben auf bürokratische Weise die Herausbildung jedes sozialen Dialogs verhindert. Wir sind für ein Algerien, das die Rechte der abhängig Beschäftigten respektiert, das anständige Löhne und eine wirksame soziale Absicherung, die Bewahrung von Arbeitsplätzen, den Kampf gegen Prekarität, die Verteidigung der öffentlichen Dienste garantiert. Die allgemeine Regression hat besonders auch Auswirkungen auf die Situation der Frauen in Algerien. Das geltende Familiengesetz (Code de la famille), trotz der jüngsten zweitrangigen Änderungen, bleibt eine juristische Zwangsjacke, das Frauen einen Status als Minderjährige auf Lebenszeit einräumt. ....“

Kommentar zu den Ausführungen in gewerkschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen

Geht es um eine (gewerkschafts)politische Bewertung des Aufrufs, so muss zunächst festgestellt werden, dass auf sehr allgemeiner Ebene – wo die Verschlechterung der Lebensbedingung von Lohnabhängigen und der anhaltend kritikwürdige Status der Frauen konstatiert wird - den Ausführungen nicht zu widersprechen ist. Aber „der Teufel steckt im Detail“, wie eine französische Redewendung besagt.

Erstens: Autonome Gewerkschaften und UGTA

Es ist (erstens) schon bemerkenswert, dass in einer abschließend wirkenden Formulierung konstatiert wird: „...die autonomen Gewerkschaften stellen fest...“ Autonome Gewerkschaften heißen in Algerien jene Beschäftigtenorganisationen, die nicht dem gewerkschaftlichen Dachverband UGTA (Allgemeine Union der algerischen Werktätigen) angehören. Die UGTA war vor dem Ende des Ein-Parteien-Regimes der Nationalen Befreiungsfront FLN, 1988/89, die bürokratisierte „Massenorganisation“ der damaligen Staatspartei. Später blieb sie der mit Abstand stärkste Gewerkschaftsverband, aber seit 1990 (in jenem Jahr erlaubte ein Gesetz die freie Bildung anderer Gewerkschaften, aber de facto bleiben administrative Blockaden gegen letztere bestehen) haben sich auch eine Reihe nicht dem Dachverband angeschlossener Gewerkschaften gebildet. Dazu gehören die autonome Gewerkschaft der öffentlich Bedienstete (SNAPAP), eine gewissermaßen links-korporatistische Gewerkschaft der Hochschulbediensteten bzw. –Lehrenden (CNES), zwei rivalisierende Gewerkschaften der Ärzte im Krankenhauswesen, zwei voneinander unabhängige Gewerkschaften der LehrerInnen im Oberschulbereich, der CLA („Autonomer Rat der Oberschulen von Algier“, links und basisgewerkschaftlich orientiert) in der Hauptstadtregion sowie der CNAPEST („Autonomer Nationaler Rat der Lehrer in Oberschulen und Berufsschulen“, politisch eher diffus zusammengesetzt, unter Einschluss von Islamisten) in den übrigen Landesteilen.

Die Feststellung einer Verschlechterung der Situation von Lohnabhängigen und Teilen der Bevölkerung (vor allem in den vorangehenden Jahren, denn im Moment erlaubt der hohe Rohölpreis es dem algerischen Regime sogar, einige vermeintliche „Wohltaten“ zu verteilen) wird zweifelsohne nicht allein durch die autonomen Gewerkschaften geteilt, sondern durch nahezu alle sozialen und politischen Akteure auf der algerischen Bühne. Und insbesondere auch durch die UGTA. Die entscheidende Frage lautet dagegen allein, welche Veränderungs-, Widerstands- oder was auch immer für Strategien die unterschiedlichen Akteure dagegen verfolgen und vorschlagen.

Dabei gilt es zwei unterschiedliche Ebenen zu trennen. Auf der einen Ebene geht es um die Erringung und Verteidigung demokratischer Rechte im gewerkschaftlichen Bereich, also etwa des Rechts auf freie Betätigung von nicht in der UGTA organisierten „unabhängigen/autonomen“ Gewerkschaften. Dieses Recht ist prinzipiell seit einem Gesetz von 1990 (während des kurzen Frühlings der Demokratie in Algerien, von Ende 1988 bis 1991), anerkannt; aber es wird durch die Behörden nicht respektiert, die de facto der UGTA einen eindeutigen Vorrang einräumen. Streiks von nicht der UGTA angeschlossenen Verbänden, wie etwa ein Lehrerstreik des CLA in Algier (Labournet berichtete), wurden deswegen durch die Behörden (teilweise erfolgreich) gerichtlich angefochten und im Anschluss unterbunden. Auf dieser Ebene, demokratische Grundprinzipien im gewerkschaftlichen Bereich betreffend, ist es sicherlich notwendig und legitim, für das Recht der „autonomen“ Gewerkschaften auf Gründung und vor allem Betätigung einzutreten.

Die andere Ebene ist jene der real verfolgten Gewerkschaftsstrategien und –politik. Auf dieser Ebene sind die „autonomen“ Gewerkschaften, die in ihrer Praxis oftmals vor allem die Privilegien des UGTA-Apparats und ihr Organisationsmonopol anklagen und bekämpfen, oftmals nicht radikaler oder konsequenter als der „(ex-)offizielle“ Dachverband. In der Mehrzahl der Fälle ist das Gegenteil der Fall: Im Kampf gegen die brachialen Privatisierungsvorhaben der Regierung, in der Erdölindustrie und in anderen bisherigen öffentlichen Produktions- oder Dienstleistungsbereichen, war die UGTA allein federführend. Andere, „autonome“ Gewerkschaften rührten oft keine Hand dagegen (abgesehen von den Inhalten des links-basisgewerkschaflichen CLA, der relativ klare Positionen vertritt). Die UGTA zog in den Jahren von 2001 bis 2004 auch dann – allein – gegen die Vorhaben von Privatisierung und Zerschlagung öffentlicher Sektoren zu Felde, als die Beschäftigten ihr größtenteils dabei nicht folgten. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass – neben der klassenpolitischen Dimension (Konflikt Arbeit/Kapital) im engeren Sinne – die Auseinandersetzung um die Privatisierung und den „Ausverkauf“ Algeriens eben auch ein Konflikt innerhalb der Oligarchie war, zwischen noch eher protektionistisch ausgerichteten und klar neoliberal orientierten Fraktionen. Der UGTA-Apparat unterstützte die Erstgenannten, sicherlich auch aus Eigeninteressen, aber es ging dabei eben de facto gleichzeitig immer auch um Beschäftigteninteressen, die beim „Ausverkauf“ mit auf dem Spiel standen. Seit 2004, nachdem im Vorfeld der Präsidentschaftswahl innerhalb der Oligarchien die Weichen gestellt wurden (die Niederlage des Kandidaten der eher „protektionistischen“ Fraktionen, Ali Benflis, besiegelte den Streit weitgehend), hat die UGTA jedoch in diesen Fragen kapituliert – unter Einschätzung des Kräfteverhältnisses.

Innerhalb der radikalen Linken tobt seit längerem ein heftiger Streit um die Frage: „Wie hältst Du es mit der UGTA?“ Ein Teil der radikalen Linken ist der Auffassung, dass man noch wie vor innerhalb der UGTA tätig sein müsse – weil die entscheidenden Widerstände bisher von dort gekommen seien, aber auch, weil die Mehrzahl der organisierten Beschäftigten sich immer noch dort findet. Es finden sich auch noch MarxistInnen und Linke in wichtigen UGTA-Funktionen, wie etwa Soumiah Salhi, Leiterin des UGTA-Sektors für arbeitende Frauen. Dagegen haben andere Linke sich für eine Beteiligung am Aufbau von „autonomen“ Gewerkschaften entschieden, etwa Radouane Osmane, Sprecher des oben zitierten CLA.

Dieser strategische Konflikt kann an dieser Stelle, und generell von außen, keinesfalls entschieden werden. Aber es lässt sich – vor diesem Hintergrund – zumindest feststellen, dass es schon reichlich dreist ist, durch eine abschließende Formulierung („die autonomen Gewerkschaften stellen fest“) die UGTA völlig draußen zu halten, ja ihre Existenz völlig unerwähnt zu lassen. Dabei spielen sicherlich auch parteipolitische Interessen eines Teils der UnterzeichnerInnen eine erhebliche Rolle, da namentlich die Partei FFS („Front der sozialistischen Kräfte“, siehe unten ausführlich) in mehreren der „autonomen“ Gewerkschaften Verankerung gefunden hat, etwa dem SNAPAP und teilweise auch dem CNAPEST.

(Unabhängig davon lässt sich de facto beklagen, dass die UGTA-Führung derzeit, vor dem Referendum vom 29. September, aktiv hinter Bouteflika für seine Abstimmungsvorlage Wahlkampf betreibt.)

Zweitens: Ausführungen zu den (wirtschaftlichen) Außenbeziehungen Algeriens

Freilich hätte man sich (neben einer größeren Detailfreudigkeit, um von einem allzu allgemeinen Charakter der Bemerkungen wegzukommen) wohl wünschen können, dass die Zusammenhänge mit dem Wirken der „westlichen“, oder eher nördlichen, wirtschaftlichen Großmächte in Algerien präzise benannt werden. Denn besonders im Falle dieses nordafrikanischen Landes, das in der staatssozialistischen Ära in den 1970er Jahren den Ausbruch aus der strukturellen Unterentwicklung zumindest versucht hat (namentlich durch ambitionierte Industrialisierungsprojekte), damit jedoch scheiterte, ist die Verantwortung der nördlichen Großmächte für das Abrutschen in Unterentwicklung und Elend ebenso offenkundig wie entscheidend. Das soll freilich nicht von der Mitverantwortung einer, spätestens ab Anfang der 80er Jahre überwiegend korrupten und unfähigen, inländischen Elite ablenken.

Die Ausführungen des Textes zu den westlichen/nördlichen Großmächten bleiben verschwommen und zweideutig. Sie sind in einem einzigen Satz zusammengefasst: „Wir warnen die EU, die USA und all diejenigen Länder, die sich dem demokratischen Lager zurechnen, vor der eigennützigen Unterstützung, die sie dem algerischen Staat seit der Krise von 1991 ununterbrochen entgegen bringen.“ Dies ist deswegen zweideutig, weil zwar einerseits auf die als „eigennützig“ benannten Interessen der Großmächte (kritisch) Bezug genommen wird – aber andererseits doch wieder de facto an die Europäische Union und die USA appelliert wird, ihre angebliche Unterstützung für den bestehenden algerischen Staat zurückzuziehen.

Dies enthält mindestens eine zeitgeschichtliche Unwahrheit, nämlich die Behauptung, die nördlichen Großmächte hätten seit 15 Jahren „ununterbrochen“ das bestehende algerische Regime unterstützt. Das aber ist falsch: Vielmehr behandelten sie Algerien, jedenfalls zwischen dem Ausbruch der politischen Krise (im Zusammenhang mit dem Aufstieg der „Islamischen Rettungsfront“ FIS) ab 1991 und dem Jahr 2001, als Spielball ihrer Interessen. Dabei unterstützten verschiedene Großmächte abwechselnd mal das algerischen Regime und mal den Apparat der algerischen radikalen Islamisten als (vermeintliche) Staatsmacht im Wartestand, oder aber jenen Flügel des algerischen Establishments, der an einem „alternativen“ Machtszenario unter Einbeziehung eines Teils der Oligarchie und der Islamisten bastelte.

So unterstützte die US-Administration in der ersten Hälfte der 90er Jahre eindeutig eher die algerischen Islamisten, die sie über ihren engen Verbündeten in der Region – die saudi-arabischen Fürsten, die zu den größten Finanziers des FIS gehörten – einzubinden trachtete. Ab 1995 vollführte die politische Führung der USA jedoch eine Kehrtwende, aus mehreren Gründen, u.a. weil sie erkannt hatte, dass den radikalen Islamisten die Übernahme der politischen Macht in Algerien nicht gelingen würde. Sie näherte sich an das bestehende Regime an. Nun waren es eher die europäischen Mächte, die den algerischen Staat, der damals dringend auf Umschuldungsverhandlungen und eine Stundung seiner Zahlungen angewiesen war, unter Druck setzten. Dazu gehörten die Unterstützung für jene Fraktionen des algerischen Establishments, die „den Dialog“ im Sinne einer Einbindung der Islamisten in ein politisches „Lösungs“-Szenario forderten (sinnbildlich verkörpert durch den „Vertrag von Rom“, den mehrere Parteien des algerischen Establishments am 13. Januar 1995 mit Vertretern der radikalen Islamisten schlossen). Dazu gehörte aber auch zeitweise, vor allem von einem Flügel des französischen Establishments aus, das Wedeln mit dem „roten Tuch“, also der Drohung mit einer internationalen Diskreditierung des algerischen Staates als „Paria“- und „Schurkenstaat“ – enthalten in der (Falsch)Behauptung, die algerische Regierung oder Armee selbst inszeniere die Massaker, die damals die GIA (Bewaffnete islamische Gruppe) an der Zivilbevölkerung anrichte. Diese Geschichtslüge ist in den späten 90er Jahren zeitweise durch Teile der politischen Klasse Frankreichs und der bürgerlichen Medien breitgetreten worden. Wichtigste Sprachrohre für die Verbreitung dieser Lügenpropaganda waren die französische Tageszeitung „Libération“ (die in ihrer Algerienberichterstattung oft unverhüllt auf französische Geheimdienstdossiers zurückgreift und sie offen als Quellen zitiert) sowie der Fernsehjournalist Jean-Baptiste Rivoire.

Die Politik der EU und der USA beinhaltete also keineswegs eine „ununterbrochene Unterstützung“ für den bestehenden algerischen Staat, sondern sie spielte vielmehr – in wechselnder Besetzung – mit den unterschiedlichen Akteuren der algerischen Krise. Diese Phase ist freilich seit circa 2001 überwunden: Der hohe Rohölpreis lockerte die ökonomische Zwangsjacke des algerischen Staates, dieser konnte sich gleichzeitig innenpolitisch stabilisieren und die radikalen Islamisten besiegen. Damit hat der algerische Staat heute eine andere, weitaus stärkere Verhandlungsposition. Seit dem 11. September 2001 wird er nunmehr (zumindest auf politischer Ebene, freilich ohne dass ökonomisch dabei viel für ihn abfiele) als Bündnispartner hofiert.

Drittens: Das Kartell der Unterzeichner

Ein bedeutender Teil der prominenten Unterzeichner des vorliegenden Aufrufs glänzte damals wiederum in der Phase, die von 1991 bis 2001 dauerte, durch die eigene Beteiligung an diesem schmutzigen Spiel der – vor allem europäischen – Großmächte. Insbesondere, indem sie die etwa von Teilen der französischen politischen Klasse unterstützten Bemühungen um ein „alternatives“ Machtszenario – unter Einbeziehung der Islamisten – unterstützten und gleichzeitig wirtschaftliche Sanktionen gegen die unnachgiebigen, „dialogunwilligen“ Machthaber in Algier (die sich diesem Machtszenario widersetzten, da sie ihr eigenes machtpolitisches Spiel verfolgten) einforderten.

So finden wir den französischen Fernsehjournalisten Jean-Baptiste Rivoire, der in der Vergangenheit eine üble Rolle (durch die Verbreitung kaum überprüfbarer, „sensationeller“ Informationen im Sinne einer Bestätigung der Geschichtslüge von einer reinen geheimdienstlichen Inszenierung der Massaker an der Zivilbevölkerung) im Bezug auf Algerien spielte.

Wir finden den Pariser Verleger François Gèze, der zu den hemmungslosesten Propagandisten in Frankreich im Hinblick auf die algerische Krise gehörte und gehört. Gèze ist ein geradezu fanatischer Wirrkopf, der während der gesamten Jahre des algerischen Bürgerkriegs und danach an einer unbelegbaren Verschwörungstheorie festhielt: Alle Vorgänge in Algerien seien als Werk geheimdienstlicher und –polizeilicher Inszenierung durch das Regime erklärbar. Politische und gesellschaftliche Kräfte sowie mobilisierungskräftige Ideologien kommen in seinen Vorstellungen von der algerischen Krise schlichtweg nicht vor: Alle gesellschaftlichen Vorgänge reduzieren sich auf das Schattentheater einer Handvoll „Strippenzieher“. Beispielhaft angeführt sei ein reichlich „durchgeknallter“ Artikel, den Gèze vom 20. Dezember 2001 in der französischen halblinken, grünen-nahen Wochenzeitschrift „Politis“ publizierte. Darin „erklärt“ François Gèze beispielsweise den breiten gesellschaftlichen Aufstand (ohne Waffen) in der Kabylei, einer der berbersprachigen Regionen Algeriens, von April bis Juni 2001 im Nachhinein als Ausdruck des Wirkens von Strippenziehern: Ein Teil der algerischen Machthaber habe durch die „Inszenierung“ der sozialen Unruhen davon ablenken wollen, dass er selbst, François Gèze, im Februar 2001 ein (tatsächlich einiges Aufsehen) erregendes Buch über Algerien veröffentlicht habe. Es handelt sich um das Werk „La sale guerre“ (Der schmutzige Krieg) des algerischen Ex-Offiziers Habib Souaïdia, das die These von der rein geheimdienstlich-militärischen Inszenierung der Massaker radikaler Islamisten angeblich belegen soll. (Leider handelt es sich dabei um die Frucht reiner Manipulation, und der ehemalige Offizier Habib Souaïdia begleicht in seinem Buch lediglich einige alte Rechnungen. So zitiert er den früheren Offizierskollegen Abdelkader Belkebich, der angeblich mit den Worten „Die Terroristen, das sind wir“ die Inszenierung falscher ‚islamistischer’ Terrorakte ihm gegenüber eingeräumt habe. Nur leider stellte sich heraus, dass Abdelkader Belkebich zusammen mit Souaïdia im Gefängnis war, dabei aber im Prozess gegen die beiden als Belastungszeuge gegen seinen Mitangeklagten Souaïdia aufgetreten war. Habib Souaïdia saß von Juni 1995 bis Juni 1999 im Militärgefängnis von Blida, weil er Machtmissbrauch betrieben und eigenmächtig Zivilisten unter Ausnetzung seiner Stellung Geld abgepresst hatte.) François Gèze ist ein ehemaliger Linker, dessen Verlag La Découverte aber in den 90er Jahren durch den Vivendi-Konzern aufgekauft wurde. Der Vivendi-Konzern hatte im vergangenen Jahr einige Probleme in Algerien, wo er u.a. erfolglos die gesamte Wasserversorgung aufzukaufen versuchte. Vielleicht auch ein Grund dafür, dass man den Propagandisten François Gèze machen ließ.

Ferner hat der algerische Politiker Hocine Aït Ahmed den Aufruf unterschrieben. Er ist der Chef der von algerischen Berbern geführten Partei FFS (Front des forces socialistes, „Front der sozialistischen Kräfte“), die Mitglied in der so genannten Sozialistischen Internationalen ist, also in dem transnationalen Zusammenschluss sozialdemokratischer und nahe stehender Parteien. Hocine Aït Ahmed lebt in Wirklichkeit aber nicht in Algerien, sondern im schweizerischen Lausanne, von wo aus er seine Partei mit relativ straffer Hand führt. In jüngeren Jahren war Hocine Aït Ahmed einer der führenden Teilnehmer am Befreiungskrieg gegen die Kolonialmacht Algerien und (ab 1963) ein früher Oppositioneller oder jedenfalls Widersacher jenes Clans innerhalb der „Befreiungsarmee“, der nach der Unabhängigkeit vom Juli 1962 die politische Macht an sich riss. Mittlerweile, nunmehr seit Jahrzehnten in Europa lebend, wirkt Aït Ahmed freilich vor allem als Mann der europäischen Sozialdemokratie „für Algerien“; in Frankreich und der Schweiz lebend, wurde er von dortigen Zeitungsredaktionen und Politikern als „der algerische Demokrat“ aufgebaut. Hocine Aït Ahmed gehört auch zu den Unterzeichnern des oben zitierten „Römischen Vertrages“ vom 13. Januar 1995, der ein zur herrschenden Fraktion der Armee „alternatives“ politisches Szenario (unter Einbeziehung der Islamisten sowie rivalisierender Fraktionen des Establishments) herbeiführen sollte. Immer wieder forderte er die aktive Einmischung der Europäischen Union, der USA und der Vereinten Nationen, um dieser „Initiative der Demokraten“ auf der algerischen Bühne zum Durchbruch zu verhelfen. Der Imperialismuskritik verdächtig ist er damit kaum.

Neben diesen, politisch teilweise reichlich fragwürdigen (wobei Hocine Aït Ahmeds historische Rolle im Befreiungskrieg dennoch anerkannt werden muss), Figuren finden sich noch – als „Akteure und Zeugen des Befreiungskriegs“ – ein paar prestigereiche Namen. Dabei handelt es sich um den algerischen Historiker Mohammed Harbi (ein ehemals führendes Mitglied der Nationalen Befreiungsfront FLN im Befreiungskrieg und späterer äußerst fundierter Kritiker des algerischen Systems nach der Unabhängigkeit – der sich jedoch in den 90er Jahren dem FFS angenähert hat) und den hervorragenden linken, jüdischen Historiker Maurice Rajfus (der von Frankreich aus den algerischen Befreiungskrieg unterstützt hat). Sie erteilten ihre Unterstützung für die zweifellos legitimen Anliegen, die in dem Aufruf ebenfalls aufgezählt sind.

Versuch einer abschließenden Bewertung

Unter dem Vorbehalt dessen, wer und was am Samstag in Paris real vertreten sein wird (Labournet wird berichtet), lässt sich vorläufig folgende Bewertung abgeben: Die UnterzeichnerInnen des Aufrufs lassen sich zweifellos nicht alle über einen Kamm scheren. Mohammed Harbi und Maurice Rajfus sind ohne Zweifel historisch legitimierte und integre Persönlichkeiten. In ihrer Mehrheit jedoch gehören die Unterzeichner einem bestimmten politischen Clan an, der sich in den letzten 10 bis 15 Jahren rund um den FFS herausbildete und der auch an bestimmte Fraktionen in der politischen Klasse Frankreichs und Europas angedockt ist.

Die Abwesenheit einer fundierteren Kritik am wirtschaftlichen Wirken der imperialistischen Mächte in Algerien ist ein Manko, das der Aufruf jedoch mita anderen, vergleichbaren teilt.

Die faktische, aber nicht als solche benannte Richtungsentscheidung, die in Sachen Gewerkschaftspolitik durch den Aufruf getroffen wird („Die UGTA ist mausetot oder wäre es besser, es leben – allein – die autonomen Gewerkschaften“) ist – so, wie sie dargeboten wird – kaltschnäuzig und dreist.

Bernhard Schmid (Paris)


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