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Updated: 18.12.2012 16:07
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Erfolg der "Autonomen"

"Der Ausstand muss als erster wichtiger Erfolg der neuen Koordinationsstruktur „autonomer“ Gewerkschaften, die erst vor fünf Monaten gegründet worden war, gelten" - so beginnt der aktuelle Hintergrundartikel "„Autonome“ Gewerkschaften führen erfolgreichen Streik in den öffentlichen Diensten durch" von Bernard Schmid vom 18. Januar 2008.

„Autonome“ Gewerkschaften führen erfolgreichen Streik in den öffentlichen Diensten durch

Am Dienstag, 15. Januar waren mehrere öffentliche Dienste in Algerien im Streik. Besonders von den Arbeitskämpfen betroffen waren das Schul- und Hochschulwesen sowie das öffentliche Gesundheitswesen.

Der Ausstand muss als erster wichtiger Erfolg der neuen Koordinationsstruktur „autonomer“ Gewerkschaften, die erst vor fünf Monaten gegründet worden war, gelten. „Autonome Gewerkschaften“ heißen in Algerien jene Beschäftigtenorganisationen, die außerhalb des Dachverbands UGTA (Union générale des travailleurs algériens) bestehen.

Die UGTA war während des antikolonialen nationalen Befreiungskriegs im Jahr 1956 entstanden, und bildete aus diesem Grund von Anfang an einen „gewerkschaftlichen Arm“ der nationalen Befreiungsfront (FLN), die später – nach erfolgreich errungener Unabhängigkeit – zur Staats- und Einheitspartei wurde. In den darauffolgenden Jahrzehnten fungierte die UGTA im staatssozialistischen Algerien als „Massenorganisation“ der Regierungspartei FLN.

Diese Zeiten sind zwar vorbei: Algerien ist keineswegs mehr staatssozialistisch, seit 1989 besteht ein Mehrparteiensystem, und seit 1990 sind andere Gewerkschaften (außerhalb der UGTA) rechtlich zugelassen. Aber noch immer bildet die UGTA – die zwischen einer und anderthalb Millionen formeller Mitglieder zählt – die mit Abstand stärkste Organisation, und noch immer steht ihre Spitze der Staatsmacht ausgesprochen nahe.

Ihr Chef Abdelmajid Sidi-Saïd hat anlässlich des zweimonatigen Krankenhausaufenthalts von Präsident Abdelaziz Bouteflika im Herbst 2005 einen „sozialen Burgfrieden“ ausgerufen, den sie seitdem nicht wieder aufgekündigt hat. Die UGTA ist Unterzeichnerin eines „sozialen und ökonomischen Pakts“ mit der Regierung.

Am 19. September 2007 schlossen sich nun zwölf „autonome“ Gewerkschaften Algeriens zu einer Koordionationsstruktur zusammen, der „Coordination nationale des syndicats autonomes dans la fonction publique“ (CNSAFP). Bei den teilnehmenden Gewerkschaften handelt es sich allesamt um Beschäftigtenorganisationen in den öffentlichen Diensten, die durch die Behörden zugelassen (agréés) worden sind. Letzteres gilt bisher nicht für den „Rat der Oberschulen von Algier“ (CLA, Conseil des lycées d’Alger), der über keine offizielle Zulassung verfügt und eine progressiv-radikale Basisgewerkschaft in der Hauptstadt Algier darstellt. Insofern muss man beim jüngsten Streik von „12 plus 1“ sprechen, da auch der CLA zu dem Ausstand aufrief, er aber nicht formell der Koordinationsstruktur angehört.

Die wichtigsten Mitgliedsorganisationen der neuen Gewerkschaftskoordination sind die autonome Lehrergewerkschaft im Oberschul- und Berufsschulwesen CNAPEST (außerhalb von Algier, denn in der Hauptstadt dominiert der radikalere CLA), die Gewerkschaft der Ärzte im öffentlichen Gesundheitswesen, die Hochschullehrergewerkschaft CNES (Conseil national de l’enseignement supérieur), oder die – relativ moderate – Gewerkschaft von Angestellten im Staatsdienst SNAPAP. Jede der teilnehmenden Organisationen stellt abwechselnd, in einem Rotationsverfahren und für die Dauer von jeweils zwei Monaten, den Vorsitz der Koordinationsstruktur.

Am 27. Dezember 2007 beschlossen die zwölf (plus eine) Gewerkschaften, im Rahmen ihres Koordinations- und Abstimmungsverfahrens, einen Ausstand für den 15. Januar. Der Hauptgrund dafür lag im wachsenden Kaufkraftverlust der öffentlich Bediensteten.

Eine Graphik in der Tageszeitung ‚El Watan’ vom 15. Januar belegt tatsächlich anschaulich, dass seit 1993 die jährliche Inflationsrate dem Anwachsen der Löhne überlegen ist, auch wenn in 2006/07 ein gewisses Aufholen der Löhne und Gehälter in den öffentlichen Diensten stattgefunden hat. Im September vergangenen Jahres bot das Regierungslager eine Lösung des Problems in Gestalt einer neuen Lohntabelle für die öffentlich Bediensteten an. Doch diese hat zu Enttäuschung und Verbitterung geführt, da der starke Nachholbedarf bei den (seit 15 Jahren kontinuierlich gesunkenen) Löhnen bei weitem nicht ausreichend berücksichtigt werden. Zudem erscheinen manche Einteilungen recht willkürlich, so werden bestimmte Funktionen, die zwei Jahre Hochschulstudium erfordern, höher bewertet als andere bei drei Jahren abgeschlossenen Hochschulstudiums.

Am stärksten enttäuscht waren jedoch die Lehrkräfte, bei denen zudem ein wichtiger Konfliktpunkt in der Frage der Festanstellung der seit Jahren als „Vertragskräfte“ prekär beschäftigten Lehrer/innen besteht. So fand im vorigen Jahr eine Streikbewegung der Arabisch- und Tamagazight- (Berbersprache) Lehrkräfte im Département von Bouira, rund 40 Kilometer östlich von Algier, statt, um die Festanstellung nach Jahren der Prekarität im öffentlichen Schulwesen durchzusetzen.

Zudem sieht das neue „besondere Statut“ der Lehrkräfte, das am 5. Januar – am CLA vorbei, der durch das Bildungsministerium explizit ausgeklammert wurde – den offiziell zugelassenen Gewerkschaften des Sektors präsentiert wurde, de facto ein Streikverbot für Lehrer/innen während der ersten drei Jahre ihrer Beschäftigung vor.

Zudem werden neue disziplinarische Sanktionen eingeführt, die de facto als Strafmaßnahmen gegen (unerwünschte) gewerkschaftliche Betätigung wirken können.

Konkrete Zahlen wurden bisher über die Streikbeteiligung nicht bekannt, die aber laut einhelligen Presseberichten in bestimmten Départements (Béjaïa in der Berberregion Kabylei, Aïn Defla im Atlasgebirge, zum Teil in der Hauptstadt Algier) stark ausfiel, während sie im Bezirk Sétif östlich von Algier eher „schwaché“ und in der westalgerischen Metropole Oran „durchwachsen“ blieb.

Die autonomen Lehrergewerkschaften CLA/CNAPEST sprachen von 70 Prozent Beteiligung in ihrem Sektor, die Hochschulgewerkschaft CNES von 60 % bei ihr. Ansonsten wurde landesweit eine Zahl von 80 Prozent genannt, die (würde sie sich auf die Gesamtzahl der öffentlich Bediensteten beziehen) stark übertrieben erschiene, sich jedoch allem Anschein nach auf die Mitglieder und Sympathisanten der betreffenden Gewerkschaften beziehen soll.

Aus der Hauptstadt Algier wurde bekannt, dass rund 60 (eine präzisere Zahl in der Presse lautet auf 58) von insgesamt 110 Oberschulen bestreikt worden seien. Genauere Zahlen zur Beteiligung an dem Ausstand wurden nicht genannt. Anscheinend erteilten aber in verschiedenen Schulen der Hauptstadt nur prekäre Vertragskräfte an dem Tag ihren Unterricht.

Die den Arbeitskampf vom 15. Januar organisierenden Gewerkschaften kündigten unterdessen an, falls die Regierung sich nicht um eine Lösung der aufgeworfenen Probleme bemüht zeige, werde es im Februar 2008 „einen sozialen Tsunami“ geben.

Bernard Schmid


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