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Updated: 18.12.2012 15:51
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Revolutionäre Harmonie

Bodo Zeuner* schaut sich um auf der »Baustelle China«

Hier also die Fortsetzung unserer im letzten express begonnenen Reihe mit Reiseberichten aus China. Diesmal antwortet Bodo Zeuner, der ebenfalls mit auf der Reise war, auf unseren Fragebogen.

I. Mit welchen Fragen bist Du nach China gereist? Wo lagen die Schwerpunkte Deines Interesses?

Ich wollte mehr über diesen sich in China neu entwickelnden Kapitalismus wissen: Wie wälzt er die Gesellschaft, die Arbeitswelten, die Sozialstruktur und die Kultur um? Wo liegen Widerspruchs- und Konfliktpotentiale? Welche Steuerungs- und Gestaltungsmöglichkeiten hat der Staat - anders als z.B. im russischen Kriminal- und Ausverkaufskapitalismus udunter Jelzin - in der Hand behalten oder neu entwickelt? Gibt es vielleicht einen »Sino-Keynesianismus«?

Speziell interessierte mich die Interessenvertretung der abhängig Arbeitenden. Ich ging davon aus, dass es sich beim Allchinesischen Gewerkschaftsbund ACFTU um eine staatlich gelenkte Institution, um eine Massenorganisation der Einheitspartei, in den Betrieben auch um eine gelbe, weil von den Arbeitgebern direkt beherrschte Scheingewerkschaft handle, die nicht streiken darf und will und von der keinerlei ernsthafte und unabhängige Interessenvertretung zu erwarten sei. Andererseits hörte man von massenhaft punktuellen autonomen Streiks, Kämpfen und auch Kampagnen für ArbeiterInnenrechte, z.T. von NGOs unterstützt, die allerdings unterdrückt und durch den repressiven Staat an jeder Verallgemeinerung und Vernetzung gehindert würden. Ein brutaler Kapitalismus ohne Gewerkschaften also? Gewiss ist das möglich. NS-Deutschland und viele US-unterstützte Diktaturen haben es vorgemacht. Möglich ist das schon, aber, so meine Hoffnung und Hypothese, stabil und dauerhaft kann es nicht sein.

Ganz traditionell-marxistisch - und im Gegensatz zu dem, was die KPCh als ihren »Marxismus« ausgibt - bin ich davon ausgegangen, dass sich in China, vielleicht analog zur Industrialisierung und zum Frühkapitalismus im Westen, ein sich verschärfender Klassengegensatz auftut, der seine Ausdrucksformen sucht, zu denen auch Gewerkschaften gehören, die nicht hierarchisch dem Staat und/oder den Arbeitgebern unterstellt sind.

II. Welche Antworten hast Du durch die Reise, die Gespräche und Besichtigungen erhalten?

Die kapitalistische Revolution in China hat stattgefunden und findet weiter statt, mit anhaltend atemberaubender Wachstumsdynamik und Gesellschaftsspaltung, aber es zeigen sich sehr deutlich soziale, kulturelle und politische Grenzen dieser Entwicklung. Es gibt eine Stimmung des »So kann es nicht weitergehen«, der Einsicht in die Notwendigkeit staatlicher und planerischer Einhegung des - vielleicht noch nicht vollständig - entfesselten Kapitalismus, des sozialen Ausgleichs, des Ausbaus von Arbeiterrechten, von Sozialversicherungen, von der Sozial- und Umweltverträglichkeit künftiger Investitionen. Das alles scheint die KP ja mit ihrem Slogan der »harmonischen Gesellschaft« zu meinen. Es gibt Lockerungen des von einigen Kritikern so genannten »Apartheidsystems« zwischen Landbewohnern und Städtern, wenngleich keineswegs eine Aufhebung der rechtlichen Spaltung zwischen den beiden Gruppen. WanderarbeiterInneninteressen in den Städten werden aber etwas stärker beachtet, und auf dem Land hat man uns interessante Entwicklungsprojekte gezeigt, mit Menschen, die zugleich hoffnungsvoll und unzufrieden, etwa mit ihrer Gesundheitsversorgung und den Bildungschancen ihrer Kinder, waren.

Die Landbewohner sind aber nicht abgekoppelt von den Informationen aus den Metropolen des Landes. Sie sehen fern, bekommen die scheußliche TV-Werbewelt ebenso mit wie politische Leitlinien und Debatten. Die Landbewohner sind keine Analphabeten und auf Dauer auch keine genügsamen Dörfler. Ihren Ansprüchen auf Gleichbehandlung und Gleichstellung mit den Städtern wird sich jede Regierung zu stellen haben.

Inwieweit der Staat bzw. die KPCh in der Lage ist, den Kapitalismus sozial- und umweltverträglich einzuhegen und die gesellschaftliche Entwicklung zu steuern, dazu konnten wir in drei Wochen nur verstreute Indizien und Auskünfte einsammeln. Für mich ergibt sich ein wackeliges und uneinheitliches Bild mit vielen leeren Stellen.

Der Staat kann etwa in der Sozial- und Arbeitsgesetzgebung, aber auch bei der Festsetzung von Höchstpreisen und Mindestlöhnen, bei der Erhöhung und Senkung von Steuern, bei der Ausweitung oder Einschränkung der Rechte von WanderarbeiterInnen, ganz offensichtlich regulierend und gestaltend eingreifen. Da fast alle inländischen KapitalistInnen Mitglied der KP sind, gäbe es auf diesem Wege auch Möglichkeiten der Einbindung der neuen Bourgeoisie - freilich ist ebenso das Umgekehrte denkbar: Die KP wird zu einer von der neuen Bourgeoisie beherrschten Partei, bzw. ihre führenden Kader gehen eine Symbiose mit dem Kapital ein, die mit dem Begriff »Korruption« gar nicht angemessen beschrieben ist: Eher geht es um die Privatisierung von Teilen des vormals öffentlichen Interessen verpflichteten Staatsapparats - wozu es bei uns und vor allem in den USA mit der Privatisierung auch zentraler Staatsaufgaben (Gefängnisse, Militär) bemerkenswerte Parallelen gibt. Dass in China dieser Korruptions- und Privatisierungsprozess nicht nur in etlichen Städten und Provinzen, sondern auch im Gesamtstaat schon so weit fortgeschritten ist, dass eine Instanz, die gemeinwohlorientiert agieren könnte, gar nicht mehr vorhanden ist, wie es einige Theorien der totalen und systemischen Korruption behaupten, das bezweifle ich.

Dass es eine Instanz geben muss, die für Gemeinwohl und Gerechtigkeit zuständig ist, gehört ebenso zur chinesischen wie zur europäischen Tradition des politischen Denkens. Und, das ist das bleibende Verdienst der kommunistischen Revolution von 1949: Die Herrschenden können sich dem Anspruch, dass letztlich alle ChinesInnen gleiche Lebenschancen haben sollen, nicht entziehen, auch wenn dem Deng'schen Heilsversprechen, dass, wenn »einige früher reich werden«, dies allen nütze, bislang noch ebenso grundlos geglaubt wird wie früher manchen Heilsversprechen Maos.

Insgesamt: Ich denke, dass sich in China nicht einfach eine Kopie des Weltkapitalismus oder gar des US-Modells, sondern ein spezifischer Sinokapitalismus entwickelt, bei dem staatliche Steuerung eine stärkere Rolle spielen wird als im Westen.

III. Welche Fragen hast Du aus China wieder mitgenommen? Sind neue Fragen hinzu gekommen? Welche Widersprüche konntest/musstest Du wahrnehmen?

Es gibt Widersprüche, denen man ein Sprengpotential zutraut, vielleicht sogar die Chance der dialektischen Entwicklung zu höheren Stufen - und es gibt schwer durchschaubare, komplexe Gegensätzlichkeiten, Ungleichzeitigkeiten, Ambivalenzen, aus denen man lieber keine Erwartungen und Prognosen ableiten sollte, weil man sie (noch?) nicht richtig verstanden hat. Die meisten meiner Wahrnehmungen gehören zur zweiten Kategorie.

Aber eine Erwartung habe ich in China erst gewonnen, und ich bin mir ihrer ziemlich sicher: China ist kein unterentwickeltes Land mehr, auch auf dem Lande nicht. Und das heißt: Wir haben nicht nur die chinesische Großstadtbevölkerung, die mit 500 Millionen Menschen schon zahlreicher ist als die Einwohnerschaft der ganzen EU, sondern auch die 800 Millionen Landbewohner als Weltbürger ernst zu nehmen und zu akzeptieren, ja zu begrüßen.

Anders ausgedrückt: Die Herrschaft des weißen Mannes ist - selbst im Rahmen eines globalisierten Weltkapitalismus - zu Ende. Das westlich-kapitalistische Weltsystem wird, gerade weil sich China ihm angeschlossen hat, China wegen dessen schierer Größe und dessen politischer Potenz nicht mehr zur Peripherie degradieren und dort halten können, wie dies viele Jahrzehnte mit Lateinamerika gelang, und wie es der europäische Imperialismus seit den Opium-Kriegen und den »ungleichen Verträgen« eben auch mit China ein Jahrhundert lang praktiziert hat.

1300 Millionen ChinesInnen, das sind mehr als die Bevölkerung von Europa und Nordamerika, aber fast ebenso viele, wie noch einmal in Indien leben und ähnliches anstreben, haben sich aufgemacht, das materielle Lebensniveau der OECD-Bürger zu erreichen - mit Intelligenz, Anpassungsfähigkeit, Opferbereitschaft und (National-)Stolz. Die westlich-kolonialistische Erwartung, diese Menschen in Asien auf Dauer in einem Zustand bedürfnisarmer Abhängigkeit halten zu können, ist schon jetzt definitiv widerlegt.

Westliche Linke sollten sich über diesen Effekt der Globalisierung, über dieses tendenzielle Gleichziehen Chinas mit dem Westen eher freuen als erschrecken. Haben Linke nicht immer die Universalität der Menschenrechte gefordert, also gleiches Recht auf ein gutes Leben für alle Erdenbewohner? Nun gilt es mit diesem Prinzip ernst zu machen. Man stelle sich einen US-Präsidenten oder einen EU-Präsidenten vor, der in seiner ersten Regierungserklärung sagt:

»Das Ziel unseres Strebens nach Demokratisierung der ganzen Welt ist selbstverständlich die Gleichstellung aller Menschen auf dieser Welt, und deshalb richten wir uns darauf ein, dass in naher Zukunft in einer demokratischen Weltgemeinschaft bisher von uns wahrgenommene Führungsaufgaben auf Asien, insbesondere auf China und Indien, übergehen, weil dort mehr Menschen leben als bei uns und weil diese Menschen dieselben Menschenrechte haben wie wir. Wir werden alle Anstrengungen für einen friedlichen Übergang unternehmen und unsere Werte in eine demokratische Weltgemeinschaft, in der wir Anglo-Europäer eine Minderheit sind, einbringen.«

Undenkbar? - Aber erst wenn dies denkbar wird, nehmen wir die Menschenrechte als universale Rechte ernst. Demgegenüber sind die üblichen Menschenrechtsforderungen der Europäer gegenüber China, die sich meist auf ethnisch-religiöse Minderheiten (Tibeter, Uiguren) konzentrieren, nicht unberechtigt, aber niedrigrangig.

Das gilt allerdings nicht für die Forderung nach dem, was die Deutschen »Rechtsstaatlichkeit«, die Angelsachsen »rule of law« nennen. Hier geht es um ein System, ja um einen staatlichen Apparat, der überhaupt erst durchsetzt, dass das Recht gilt, dass Menschen zu ihrem Recht kommen. Dazu bedarf es unabhängiger Gerichte und Ermittlungsbehörden und der Geltung des Rechts gegenüber allen, auch gegenüber staatlichen Funktionären und gegenüber denen, die durch Reichtum mächtig sind.

Soweit wir etwas darüber erfahren konnten, existiert in China kein »rule of law«, und die Chancen dafür sind angesichts des Primats der Machtsicherung der KP auch nicht gut.

Richter sind nicht unabhängig, sondern Weisungen von Partei/Staat unterworfen. Außerdem sind sie schlecht bezahlt und deshalb korrumpierbar. Schließlich unterliegen 72 Millionen Parteimitglieder überhaupt nicht der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Sie können erst strafrechtlich verfolgt werden, wenn eine Ordnungskommission der Partei dies genehmigt. Da fast alle Inlandskapitalisten Mitglieder der KPCh sind, genießen sie diese zusätzliche Immunität gegen Strafverfolgung - auch bei Verstößen gegen das Arbeitsrecht. So berichtete uns dies Jutta Lietsch, die deutsche Journalistin in Peking, an unserem letzten Aufenthaltstag. Dadurch verstand ich besser, wie es möglich ist, was uns permanent von allen Gesprächspartnern gesagt wurde: Unsere Gesetze sind hervorragend - aber leider stehen sie nur auf dem Papier und begründen keine durchsetzbaren Rechte der Individuen.

Ganz glauben wollte und will ich das nicht. Berechenbare Verhältnisse und Gesetze, die durchsetzbare subjektive Rechte schaffen, gehören überall auf der Welt zu den unverzichtbaren Rahmenbedingungen kapitalistischer Akkumulation. Das war auch im NS-Reich so: Kapitalist A konnte, wenn es um Eigentumsrechte und Zahlungsverpflichtungen ging, gegen Grundbesitzer B und Lieferanten C sowie Kreditgeber D vor Gericht klagen, und dabei ging es rechtsstaatlich-berechenbar zu. Diese rechtsstaatliche Berechenbarkeit galt aber nicht, wenn der politisch oder rassisch Verfolgte gegen willkürliche Inhaftierung und Drangsalierung klagte. Es gab einen »Doppelstaat«, »Rechtsstaat« für das Kapital, Willkürstaat für die Bevölkerung, so hat der berühmte NS-Forscher und Politologe Ernst Fraenkel es für NS-Deutschland analysiert.

Ist das China von Deng, Jiang und Hu auch ein solcher Doppelstaat, der nur für Kapitalisten und Investoren, nicht aber für die Arbeiter, für die Normalbürger Rechtssicherheit garantiert? Man darf hoffen, dass es sich bei der gegenwärtigen Doppelstaatlichkeit um eine Übergangsphase zu mehr Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit für alle handelt.

Warum?

Erstens weil die herrschende Ideologie in China, vor der die herrschende Parteiführung sich legitimieren muss, anders als im mörderisch-rassistischen deutschen Nationalsozialismus, eine Ideologie der Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Menschen ist. Rechtssicherheit nur für die Reichen - das untergräbt die Legitimität, ohne die keine Parteiherrschaft Bestand haben kann.

Zweitens weil durch den wachsenden Wohlstand jedenfalls im oberen Drittel der Gesellschaft eine neue Mittelschicht mit rechtstaatlich-demokratischem Anspruchsniveau entstanden ist. Dass man sich auf die Geltung und Durchsetzbarkeit von Gesetzen nicht verlassen kann, ruft übrigens mehr Empörung hervor, als die Tatsache, dass es an einer Parteienkonkurrenz bei Wahlen fehlt.

IV. Wie würdest Du die Situation der staatlichen chinesischen Gewerkschaft beurteilen,

a) in Bezug auf die Wanderarbeiter,

b) in Bezug auf die Rahmenbedingungen und die Form der gewerkschaftlichen Interessenvertretung und

c) in Bezug auf ihre Rolle im Verhältnis Partei, Gewerkschaft, Kapital? Was würdest Du als aktuelle Hauptaufgaben bzw. Probleme der Gewerkschaften bezeichnen?

Die staatliche Gewerkschaft, die ACFTU, ist ein bemerkenswerter Papierdrache. Nein, kein Papiertiger im Mao'schen Sinne - das hieße ja einfach nur: Fiktion, Bluff. Nein, die ACFTU steht auf dem Papier als Gewerkschaft. Er ist aber leider kein Drachen. Denn Drachen sind nach chinesischem Verständnis starke, in gutem Sinne wirkende Lebewesen. Aber was ist die ACFTU?

Die ACFTU will, wie jede gute Gewerkschaft, die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter vertreten. Das war unter Mao - wie auch überall im staatskommunistischen Osteuropa seit Lenin - kein Problem: Da ja schon die kommunistische Staatspartei eine Arbeiterpartei war, brauchten sich die Gewerkschaften dieser Partei nur unterzuordnen - als ihre »Massenorganisation«. In den Betrieben gab es eine Leitungs-Troika aus Betriebsleiter, Gewerkschaftssekretär und KP-Sekretär. Unter Deng, also mit den seit Ende der 70er Jahre begonnenen »Reformen«, entstand ein Kapitalismus, den die KPCh bis heute sich selbst und der Bevölkerung als Marktwirtschaft ohne Klassengegensatz zu verkaufen versucht. Das ist offensichtlicher Unfug und widerspricht selbstverständlich allen Erkenntnissen von Karl Marx, auf den die KPCh sich ansonsten immer noch beruft.

Was machen aber nun staatsparteigesteuerte Gewerkschaften in einem Kapitalismus ohne offiziell anerkannten Klassengegensatz, der von brutalster Ausbeutung lebt? Wo sie es können, also in Staatsbetrieben und in Joint Ventures mit hohem Staatsanteil, setzen sie einfach die Troika-Tradition fort. Das gibt es zum Teil als Personalunion: Derselbe Mann, manchmal auch dieselbe Frau, ist zugleich Personalchef, Parteisekretär und Gewerkschaftschef in einem Unternehmen. In Gesprächen mit GewerkschafterInnen in Kanton (die Stadt Kanton/Guangzhou hat so viele Einwohner wie das größte deutsche Bundesland Nordrhein-Westfalen) lernten wir aber auch interne Unzufriedenheit mit der Troika-Tradition kennen. Gewerkschaftsfunktionäre sagten uns etwa:

  • Gewerkschaften sollten sich stärker auf die Seite der Arbeitenden stellen und nicht nur eine Vermittlerrolle in Arbeitskonflikten spielen.
  • Wenn ArbeiterInnen streiken, dann sollten die Gewerkschaften deren Forderungen ernst nehmen und vertreten. Streiks sind zwar nicht ausdrücklich erlaubt, aber auch nicht ausdrücklich verboten. Manchmal können sie nützlich sein für die Unterstützung der Forderungen der Gewerkschaften.
  • Mitglieder des Managements sollten keine führenden Positionen in den Gewerkschaften mehr bekleiden dürfen.
  • Die Gewerkschaften müssen gleichermaßen die städtischen ArbeiterInnen und die WanderarbeiterInnen vertreten.

Solche Forderungen klingen für uns zunächst grotesk: Ist es nicht von vornherein Aufgabe der Gewerkschaften, auf der Seite der Arbeitenden zu stehen und Streikforderungen nicht nur aufzugreifen, sondern selber Streiks zu führen? Für eine parteigesteuerte Massenorganisation allerdings sind solche Perspektiven fast schon revolutionär. Im Übrigen sollten sich deutsche GewerkschafterInnen nicht aufs hohe Ross setzen. Manche der Kantoner Forderungen wären auch für deutsche Betriebsratsfürsten, die ihre Rolle als Sozialpartner und Co-Manager verinnerlicht haben, ein harter Brocken.

Andererseits wurden wir in Peking davor gewarnt, die gegenwärtigen Gewerkschaften als wirkliche Interessenvertretung, oder auch als auf dem Wege dazu befindlich, anzusehen - und zwar von renommierten WissenschaftlerInnen, die über industrial relations in China forschen und publizieren. Einer brachte es im small talk auf den Punkt: »Our unions are a fake!« - ACFTU als Mogelpackung also. Dafür spricht, dass uns Juristen der ACFTU in Peking auf die Frage, ob die Gewerkschaften nicht auch in China ein Streikrecht benötigten, zur Antwort gaben, man habe hier ja eine herrschende Partei, die letztlich alle Konflikte zum Besten der Gesellschaft entscheide und löse, so dass Streiks nicht erforderlich seien.

Ich finde es richtig, dass der Weltgewerkschaftsbund die ACFTU, solange dessen Führung von der Partei gesteuert wird und kein Streikrecht haben will, nicht als Mitglied aufnimmt. Andererseits sollten Reformansätze in Richtung auf echte Gewerkschaften von den europäischen Gewerkschaften differenziert unterstützt werden. Denn auch wenn es in der Volksrepublik China noch keine organisierte Arbeiterbewegung gibt - die ArbeiterInnen lassen sich längst nicht mehr alles gefallen: Sie bewegen sich.

Kann diese Bewegung zu mehr internationaler Solidarität führen? - Sie könnte und sollte, aber der Weg dorthin ist steinig und weit. Denn anzuerkennen ist, dass die niedrigeren Löhne für die chinesischen KollegInnen ein komparativer Wettbewerbsvorteil sind, der ihnen nicht genommen werden darf. Das Gefälle kann nicht eingeebnet werden, und es ist mit weiteren Verlagerungen arbeitsintensiver Produktion nach China zu rechnen. Andererseits artikulieren ChinesInnen selber zunehmend Ansprüche nach besserem Leben für alle, nach gerechterer internationaler Verteilung der Profite und binnennationaler Verteilung der Wachstumserlöse. Das heißt: Eine Verminderung des Gefälles und eine Durchsetzung internationaler Kernarbeitsnormen liegt auch in ihrem Interesse.

Eine Schlüsselszene unserer dreiwöchigen Erkundungen in China war für mich das Treffen mit VertreterInnen der mittleren ACFTU-Ebene (LeiterInnen von Branchen- und Betriebsgewerkschaften) in Kanton. Gegen Ende des Erfahrungsaustauschs fragten wir nach dem möglichen Verhalten von Gewerkschaftern bei Produktionsverlagerungen aus Deutschland nach China: Sollten sich in solchen Fällen die chinesischen und deutschen GewerkschafterInnen, vielleicht im Rahmen eines Weltbetriebsrats, zusammensetzen, gegenseitig informieren, gemeinsame Lösungen suchen? Eine chinesische Kollegin sagte, da ja klar sei, dass die ChinesInnen dabei die Gewinner, die Deutschen die Verlierer seien, habe es keinen Sinn, mit den Verlierern zu reden. Daraufhin riskierte einer von uns eine Provokation an der Grenze der Gasthöflichkeit: Was würden die chinesischen GewerkschafterInnen sagen, wenn die deutschen Gewerkschaften in einer solchen Situation zu einem Boykott chinesischer Waren aufriefen? Nach einigem Nachdenken gab es zwei Reaktionen:

  1. Die Leiterin der internationalen Abteilung der Gewerkschaft bekannte sich zur internationalen Solidarität und schlug vor, dass in solch einem Falle für die Deutschen eben andere, höherwertige Arbeitsplätze, samt entsprechender Umschulung, geschaffen werden müssten.
  2. Ein deutscher Teilnehmer sagte: Das Problem sei schwierig, weil es die Frage gerechter Verteilung betreffe. Er habe gehört, dass die nordamerikanischen Automobilarbeitergewerkschaften sich auf das Prinzip verständigt hätten, dass die Investitionssummen zwischen USA und Kanada entsprechend den Bevölkerungszahlen zu verteilen seien. Dasselbe Prinzip könnte doch auch für Europa und China gelten.

Beide Antworten scheinen mir vernünftig. In beiden Antworten steckt die Hoffnung auf eine Instanz, die die Ökonomie im Sinne vernünftiger Gemeinwohlziele zu steuern vermag - also das Gegenteil der herrschenden neoliberalen Marktreligion. Die zweite Antwort, die auch bei den ChinesInnen Erstaunen auslöste, aber nimmt unsere bewussten oder unbewussten kolonialistischen Denkprämissen aufs Korn. Gleichverteilung von Investitionen nach Bevölkerungszahl - das ist die ökonomische Operationalisierung eines Ziels, zu dem wir uns bekennen, ohne es bisher vollständig durchdacht zu haben: Universalismus der Menschenrechte, insbesondere der sozialen Menschenrechte.

V. Wie schätzt Du die Situation in den ländlichen Regionen bzw. Provinzen bzw. die Perspektiven für deren Entwicklung ein? Wie würdest Du die Auseinandersetzung um die unterschiedlichen Konzepte zur ländlichen Entwicklung beurteilen?

Dazu sind andere kompetenter.

VI. Welche Bedeutung hat die Geschlechterfrage vor dem Hintergrund der behaupteten Gleichberechtigung in Bezug auf die Wanderarbeiterproblematik bzw. der ländlichen Entwicklung? Welches Konfliktpotential würdest Du hier sehen?

Die Geschlechterfrage war in unserem Programm nicht ein eigenes Thema, sondern sollte eine Querschnittsfrage sein, was hieß, dass sie oft auch unterging. Dazu zwei widersprüchliche Impressionen: 1) Dass es bei der besonderen Ausbeutung der WanderarbeiterInnen noch spezifische Formen der Frauenunterdrückung gibt, wird jedenfalls von den NGOs der labour activists im Perlflussdelta seit einiger Zeit anerkannt: Es wurden besondere Abteilungen für die Beratung und das empowerment von Wanderarbeiterinnen eingerichtet. 2) Die Stadt-Land-Spaltung führt, verbunden mit dem Fehlen sozialer Sicherungssysteme, auch gesetzlich zu einer Diskriminierung von Frauen. Landbewohnern ist es, als Ausnahme von der Ein-Kind-Politik, erlaubt, ein weiteres Kind zu haben, wenn das Erstgeborene ein Mädchen ist. Der Grund: Mädchen sind, wie seit je in der chinesischen Tradition, für die Alterssicherung wertlos, weil sie nach der Heirat der Familie des Ehemannes zugehören. Nur Söhne sichern, mangels gesetzlicher Altersrente, ein Überleben im Alter.

VII. Welche Auswirkungen werden deines Erachtens Entwicklungen in China auf die (Weiter-) Entwicklung des Kapitalismus haben?

Die Frage ist zu groß und kommt mir zu früh. Der chinesische Kapitalismus ist krisenhaft wie jeder Kapitalismus. Trotz zu erwartender Rückschläge, Abstürze und Konflikte erwarte ich keinen Trend zurück in Unterentwicklung und Bescheidenheit. China wird eine führende weltkapitalistische Macht sein, über deren nationale Steuerungsfähigkeit wir noch zu wenig wissen. Wie überall im globalen Kapitalismus verschärft sich auch in China die Spaltung in Arm und Reich, die Spaltung auch nach dem Besitz von Produktionsmitteln, also nach Klassen. Viel wird davon abhängen, ob die chinesische Arbeiterklasse ihre internen Abschottungen: Staatsbeschäftigte vs. Privatbeschäftigte, Stadtresidenten vs. Wanderarbeiter, zu überwinden in der Lage ist. Bisher gibt es dafür nur schwache Ansätze. Noch schwächer sind die Ansätze zu globaler Solidarität der vom globalen Kapitalismus zueinander in Konkurrenz Gesetzten. Gleichwohl: Hier liegt die einzig humane und vernünftige Perspektive.

* Bodo Zeuner lebt in Berlin und ist Prof. a.D. für Politikwissenschaft

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 12/07


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