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Updated: 18.12.2012 15:51
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Kulturrevolution von unten?

Wie alt ist die Globalisierung? Dieser Frage geht die Ausstellung »Das Potosi-Prinzip« nach, die am 7. Oktober im Berliner Haus der Kulturen der Welt eröffnet wird. Die feststellbare Überlagerung und Vermischung von Wahrnehmungen beinhaltet, so die These der KuratorInnen, nicht nur eine Zurichtung von Kultur und Geschichtsverständnis durch die jeweils kolonialisierenden Mächte, sondern auch die Aufhebung von Grenzen. Neben vielen anderen KünstlerInnen haben die OrganisatorInnen auch Sun Heng und seine Band »Art Troupe of Young Migrant Workers« aus Picun bei Beijing eingeladen. Sun Heng ist darüber hinaus Mitgründer der »Heimstatt für WanderarbeiterInnen«, die selbst wiederum ein Museum für Kunst und Kultur der WanderarbeiterInnen beherbergt. Ohne Kenntnis der eigenen Geschichte kein (Selbst-)Bewusstsein, so die Idee, die zu diesem Workers Center führte.

Die Ausstellungseröffnung in Berlin bildet zugleich den Auftakt für eine Rundreise chinesischer AktivistInnen aus verschiedenen Wanderarbeiterorganisationen, darunter auch Sun Heng und Lin Zhibin, die im Oktober auf Einladung des Asienhauses Essen nach Deutschland kommen werden. Als Mitorganisatoren der Reise (s. »Vermischte« in dieser Ausgabe) freuen wir uns, das folgende Gespräch von Matthijs de Bruijne, Künstler, und Max Jorge Hinderer, Kurator der Berliner Ausstellung, mit Sun Heng dokumentieren zu können.

Das »Museum für Kunst und Kultur der WanderarbeiterInnen« ist Teil der »Heimstatt für WanderarbeiterInnen«. Kannst Du uns etwas über die Geschichte der »Heimstatt« erzählen?

Sun Heng: Ich möchte zuerst über meine persönliche Erfahrung sprechen, dann über die Geschichte der »Heimstatt« und dann über das Museum.

Ich wurde 1975 in der Provinz Shaanxi geboren, irgendwo in den Bergen. Meine Eltern waren Bauern, arbeiteten in einem staatseigenen Landwirtschaftsbetrieb und kamen so in den Genuss von Sozialleistungen. Später ging ich in einer Stadt in Henan zur Schule und machte meinen Abschluss in Musikerziehung. Danach ging ich zurück in die Stadt Kaifeng, als Musiklehrer an einer Sekundärschule. Dort blieb ich allerdings nur ein Jahr. Ich konnte das rigide chinesische Schulsystem nicht ertragen: was man als Lehrer tun sollte, wie man die Kinder unterrichten sollte. Also kündigte ich einfach. Das war sehr ungewöhnlich, denn man hatte die sogenannte eiserne Reisschüssel, also einen Job mit Absicherung, und normalerweise kündigte man seinen Job nicht. Das war 1998, und ich ging nach Beijing.

In den 1990er-Jahren machte China eine große soziale Transformation durch: von einem sozialistischen System in eine sogenannte ›sozialistische Marktwirtschaft‹ mit Privatisierungen. Viele Menschen verloren ihre Arbeit, auch meine Eltern. Ich war in einer sozialistischen Gesellschaft aufgewachsen und musste mich nun einer kapitalistischen Realität stellen. Daher hatte ich Schwierigkeiten zu verstehen, was vor sich ging, und war sehr verwirrt. Ich wollte die Welt ändern, wusste aber nicht wie. Daher verliebte ich mich in Rock’n’ Roll-Musik. Sie war für mich ein Weg, die Gesellschaft zu verändern.

Nun kommt Rock’n’Roll natürlich aus der westlichen Welt. Aber ich mochte ihren »Spirit« ... Zwei Jahre lang verlor ich mich in Musik. Dann begriff ich, dass Musik kein Zweck an sich ist. 1999 beschloss ich, in China herumzureisen. Ich spielte auf der Straße, auf dem Land, in U-Bahnen, an Baustellen, manchmal an Universitäten, traf Leute und unterhielt mich mit jedem, um die Gesellschaft kennen zu lernen. Ich erfuhr von ausländischen Sängern wie Woody Guthrie und Billy Bragg, die sich der Musik bedienten, um öffentlich soziale Probleme anzusprechen. Ich bewunderte sie sehr.

Nach einem Jahr Wanderschaft hatte ich sehr viel erfahren, vor allem über das Leben der Menschen aus der sogenannten Unterklasse: Bauarbeiter, Hausangestellte, Straßenköche, sogar Polizisten, alle möglichen Leute. Sie erzählten mir viele Geschichten aus ihrem Leben, und ich konnte ihren Optimismus sehen, obwohl ihr Leben nicht einfach war.

Im Jahr 2000 ging ich zurück nach Beijing und stellte fest, dass es für die Kinder von WanderarbeiterInnen sehr schwer war, Zugang zur öffentlichen Schule zu bekommen. So mussten sie die Schule für Wanderarbeiterkinder besuchen, wo die Bedingungen sehr schlecht waren. Vor allem hatten sie an diesen Schulen keine Musiklehrer. Also wollte ich in einer dieser Schulen als freiwilliger Lehrer arbeiten. Ich sah, dass die Wanderarbeiter kein Leben außer der Arbeit hatten, es gab nur Arbeit, Arbeit, Arbeit – weder ein Sozialleben noch kulturelle Aktivitäten. Deshalb gründete ich im April 2002 eine Gruppe namens »The Art Troupe of Young Migrant Workers« zusammen mit zwei, drei Freunden, einschließlich Xu Duo. Wir beschlossen, an unterschiedlichen Orten aufzutreten: auf Baustellen, in Fabriken oder Gemeinden, wo Wanderarbeiter lebten, natürlich kostenlos.

Zunächst wollten wir lediglich für ein Sozialleben sorgen, den Leuten ein wenig Unterhaltung bieten, sonst nichts. Nach den Konzerten unterhielten wir uns stets mit den ArbeiterInnen. Sie erzählten uns von den vielen Schwierigkeiten, mit denen sie sich herumschlagen mussten, z.B. kamen die Lohnzahlungen oft zu spät oder gar nicht. Wir konnten nicht helfen und fühlten uns schließlich sehr verloren. Das ließ uns über die Ursache der Probleme nachdenken, mit denen sie sich jeden Tag konfrontiert sehen.

China ist eine geteilte Gesellschaft: Stadt und Land sind völlig unterschiedlich. Wenn Leute, die vorher Bauern waren, in die Stadt kommen, sind sie von der Unterstützung durch ihre sozialen Netzwerke auf dem Land abgeschnitten. In der Stadt sind sie hilflos. Schließlich hatten wir diese Idee, einen Ort wie ein Zuhause einzurichten, wo die Arbeiter hinkommen und wir ihnen helfen können.

Das ist die »Heimstatt für WanderarbeiterInnen«. Kannst Du uns ihre Struktur erklären?

Sun Heng: Unsere Organisation wurde offiziell im November 2002 eingerichtet. Anfangs machten wir vor allem Aufführungen mit der »Art Troupe«. Im ersten Jahr hatten wir 40 oder 50 Aufführungen. Wir hatten eine Hotline, bei der die Arbeiter anrufen und rechtliche Fragen stellen konnten. Einige davon versuchten wir selbst zu beantworten. Wenn wir mit einem Fall nicht klarkamen, versuchten wir eine Antwort von einem Rechtsanwalt oder Freiwilligen zu bekommen, der das Gesetz besser kennt. Wir boten auch Schulungen in Rechtsfragen und Computernutzung. Wir kombinierten Unterhaltung mit der Formulierung von Rechten und versuchten, durch unsere Songs und deren Texte ein Bewusstsein für die rechtlichen Ansprüche der ArbeiterInnen zu schaffen.

2004 brannten wir ein paar CDs mit einer Zusammenstellung unserer Songs. Und dann hörte eine bekannte große chinesische Firma unsere Musik und bot an, die CD herauszubringen. Sie machten auch Werbung und verkauften 100000 Scheiben. Viele Leute, Uni-Studenten und Akademiker, die sich für die Arbeiter interessierten, kauften die CD. Auch einige bekannte Fernsehstars und Popshow-Moderatoren unterstützten den Verkauf. Wir verdienten 75000 RMB (heute ca. 8000 Euro) und machten richtig Profit mit dieser CD. Mit dem Geld gründeten wir eine Schule für Wanderarbeiterkinder: Wir mieteten das Unterrichtsgelände – eine verlassene Fabrik, die der Gemeinde gehörte – und bauten Klassenzimmer.

Wussten die lokalen Behörden von Eurer Schule?

Sun Heng: ›Die chinesische Regierung‹ ist kein einheitliches Gebilde. Außerdem ändern sich die Strategien der Regierung; vor allem 2003 hat sich in der Politik vieles geändert, nachdem die neue Führung von Hu Jintao die Macht übernommen hatte.

Unsere Schule hat momentan 400 SchülerInnen, vom Kindergarten bis zur sechsten Klasse. Sie dient auch als kommunales Bildungszentrum, als Abendschule. Die Gemeindemitglieder können die Bibliothek nutzen und an den Schulungen teilnehmen.

Wer sind die Mitglieder der Gemeinde, für die Ihr arbeitet?

Sun Heng: Jeder, der in der Gemeinde Picun lebt, hat Zugang zu unseren Diensten. Unsere Organisation befindet sich in Picun, einem typischen Vorstadt-Dorf, wo WanderarbeiterInnen leben und arbeiten. Normalerweise bleiben die Leute jahrelang dort. Einige arbeiten in den Fabriken vor Ort, andere im Stadtzentrum.

Bietet Ihr auch Unterkünfte für WanderarbeiterInnen an?

Sun Heng: Die Arbeiter mieten Zimmer von den Einheimischen, die früher Bauern waren. Jetzt haben sie kein Land mehr, aber sie besitzen Immobilien im Dorf. Verteilt über ganz China sind es 240 Millionen WanderarbeiterInnen, die vom Land in die Städte ziehen und dort arbeiten und leben. Diese Leute gelten nicht als vollständige Bürger wie die Einheimischen. Sie haben kein Geld, um Wohnungen oder Häuser zu kaufen, in denen sie leben können. Also müssen sie sich bei den Einheimischen einmieten. Normalerweise können sie sich keine Miete für eine ganze Wohnung leisten und leben in einem Zimmer. Eine durchschnittliche Familie hat nur acht bis zwölf Quadratmeter Platz.

Die Vorstadt-Dörfer werden also mehr und mehr so etwas wie Wanderarbeiter-Gemeinden. In Picun leben nur 1400 Einheimische und über 10000 WanderarbeiterInnen, daher nennen wir es eine Wanderarbeiter-Gemeinde.

Dann stellten wir fest, dass die Einheimischen ihre Kleider und andere Dinge einfach wegwerfen, wenn sie aus der Mode kommen. So kamen wir auf die Idee, einen Secondhand-Laden zu eröffnen. Wir bitten die Einheimischen um Spenden und verkaufen diese sehr billig an die Wanderarbeiter. Das senkt die Lebenskosten der Wanderarbeiter und ist zudem noch umweltbewusst für die ganze Gesellschaft. Wir haben mittlerweile sechs Secondhand-Läden in Picun und den Dörfern. Pro Laden stellen wir ein bis zwei Leute ein. Wir machen etwas Profit, bezahlen davon die Angestellten und stecken den Rest in unsere Aktivitäten. Wenn arme Kinder kommen, bekommen sie Sachen umsonst.

Aber dann mussten wir feststellen, dass die Mainstream-Kultur den Menschen nur von der positiven Seite des chinesischen Wirtschaftswachstums erzählt. Also begannen wir ab 2007 mit dem »Museum für Kunst und Kultur der WanderarbeiterInnen«. Wenn man seine Kultur nicht kennt, sieht es so aus, als habe man historisch gar nicht existiert. Dabei soll das Museum die Geschichte nicht einfach festhalten, sondern verändern. Die Dokumentation dessen, was in der Vergangenheit geschehen ist, bedeutet eine Chance, es zu reflektieren und für die Zukunft daraus zu lernen.

Welche Menschen besuchen das Museum?

Sun Heng: Bei der gemeinsamen Arbeit an einem Bericht stellten der Museumsleiter Xu Duo und ich fest, dass wir bis dahin 10000 Besucher hatten. Leute aus Picun haben das Museum besucht; WanderarbeiterInnen aus ganz China, die an unseren Aktivitäten teilgenommen hatten; und auch Leute, die wir gar nicht kannten. Manche hatten in der Zeitung von dem Museum gelesen. Auch Leute aus Beijing: StudentInnen, WissenschaftlerInnen, ProfessorInnen. Es gab auch offizielle Besuche.

Wir realisierten, dass unser Museum etwas abgelegen ist; also nutzen wir das Internet, um mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Wir haben eine Webseite für das Museum, ein Set von Ausstellungstafeln und eine elektronische Version des Museums, um die Ausstellung in anderen Teilen Chinas zeigen zu können. Jedes Jahr haben wir im Museum ein Schwerpunktthema. Letztes Jahr war das: 30 Jahre ökonomische Reform und Öffnung in China. Dieses Jahr ist der Aufenthaltsstatus der WanderarbeiterInnen unser zentrales Thema. Wir werden eine Untersuchung durchführen, einen Bericht darüber schreiben und diesen ausstellen.

Einmal im Jahr machen wir ein »Festival der Kunst und Kultur der WanderarbeiterInnen«. Das erste hat im Januar 2009 stattgefunden. Drei Tage lang gab es Musik, Aufführungen, Dokumentarfilme, Theaterstücke und Workshops.

Es gibt aber auch ein offizielles Wanderarbeiter-Museum in Shenzhen, in dem Erfolge präsentiert werden: das wirtschaftliche Wachstum Chinas, all diese typischen offiziellen Geschichten. Die ArbeiterInnen, ihr Leben und ihre Gefühle sieht man dort nicht.

Was für Objekte sammelt und zeigt Ihr in Eurem Museum?

Sun Heng: Die Objekte, die wir zeigen, haben uns die ArbeiterInnen überlassen, dazu gehören Fotos, Briefe, Instrumente, Arbeitsuniformen, Aufenthaltserlaubnispapiere, Artikel, CDs, NGO-Veröffentlichungen. Außerdem haben wir Regierungsverlautbarungen aus unterschiedlichen Phasen gesammelt.

Wir haben inzwischen ein Forschungszentrum, und die Veröffentlichung von Büchern wird ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Das ist Learning by Doing. Wir haben über die Entwicklung von Bildung für Kinder geforscht. Gerade machen wir eine Untersuchung über die Aufenthaltsrechte der ArbeiterInnen. Die Ergebnisse werden wieder in Form eines Berichts vorgestellt werden, zusammen mit einer Ausstellung.

Wir verteilen den Forschungsbericht über die Bildung für Wanderarbeiterkinder unter den ArbeiterInnen und Interessierten. Wir schicken ihn auch an NGOs und andere WissenschaftlerInnen. Ursprünglich haben wir 300 Exemplare machen lassen, dann noch einmal 300. Sie waren so schnell weg, dass wir nicht mal mehr wussten, wo sie eigentlich hingegangen sind. Auf der Basis dieses Berichts können wir Workshops machen. Der erste Bericht war Gegenstand unseres ersten Kinder-Festivals, zu dem wir auch ForscherInnen einluden. Mit dem zweiten Bericht werden wir ebenfalls einen Workshop veranstalten und dazu auch WissenschaftlerInnen und sogar einige Offizielle einladen. Es ist wichtig, eigene Forschung und unsere eigene Plattform zu haben.

Soweit zur allgemeinen Struktur der »Heimstatt für WanderarbeiterInnen«. Die Schule ist unabhängig; sie kommt immer noch ohne Unterstützung der Regierung aus. Aber sie sollte wie eine normale Schule funktionieren. In der Schule beschäftigen wir ungefähr 20 Leute. Für die anderen Projekte haben wir noch einmal 20 Beschäftigte, also insgesamt 40. Zusätzlich arbeiten wir mit der Hilfe einer Menge Freiwilliger, StudentInnen und ArbeiterInnen, etwa 200 bis 300 im Jahr.

Wenn Du von etwa 240 Millionen WanderarbeiterInnen in China sprichst, könntest Du kurz ihre Geschichte zusammenfassen? Wann und wie hat es angefangen?

Sun Heng: Die Entwicklung der europäischen Länder basiert auf der Ausbeutung der Menschen in den Kolonien – in Afrika, Asien und Lateinamerika. In China machen wir das mit unseren eigenen Leuten vom Land. Nach der ökonomischen Transformation im Jahre 1978 dauerte diese Ausbeutung und diese Form der Kapitalakkumulation auf Kosten der ländlichen Regionen an.

Wie ist die Funktion des Hukou-Systems zu verstehen? Ist es Teil der Ausbeutungsstruktur?

Sun Heng: 1949 während des ersten Industrialisierungsprozesses hatten die ArbeiterInnen einen sehr hohen Status. Aber es gab eine Lebensmittelknappheit, und in den frühen 1950er-Jahren war die landwirtschaftliche Produktion auf einem sehr niedrigen Stand. Wegen dieser Probleme wurden nur wenige Arbeiter benötigt, nicht allzu viele. Man musste die Wanderungsbewegung vom Land in die Stadt kontrollieren, und deshalb verfügte die Regierung 1958 das Hukou, das Registrierungssystem für Haushalte. In dieser Funktion wird das Registrierungssystem heute nicht mehr benötigt, aber mit dem freien Fluss des Kapitals ab 1978 wurde es zum Instrument der Ausbeutung von Bauern. Es schafft Ungleichheiten zwischen den Menschen vom Land und denen aus der Stadt.

In mittleren und kleinen Städten ist es leicht, regulärer Einwohner zu werden, wenn man eine bestimmte Zeit lang dort bleiben und arbeiten muss. Und einige lokale Regierungen in den großen Städten experimentieren gerade mit Reformen. In Shanghai kann man zum Beispiel den Einwohnerstatus beantragen, wenn man über sieben Jahre dort gearbeitet und gelebt hat, aber natürlich nur unter bestimmten Bedingungen.

Eure Theaterstücke und Songtexte sprechen von dem Traum, einen kollektiven Prozess zu begründen, dabei aber auf den Rechten der WanderarbeiterInnen und der Überwindung der Ausbeutung zu beharren, welche auf unregelmäßigen Lohnzahlungen ohne jegliche Absicherung und ohne angemessenen Aufenthaltsstatus beruht. Was würdest Du im Hinblick auf Ausbeutung noch hinzufügen?

Sun Heng: Dies ist ein historischer Moment. Eine riesige Anzahl von Leuten wechselt gerade die Identität: Sie werden von Bauern zu StadtbürgerInnen. Jetzt sind es 240 Millionen WanderarbeiterInnen. In den kommenden Jahren könnten es 300 oder 400 Millionen werden.

Wir haben die Idee, die positiven Elemente einer neuen Kultur der WanderarbeiterInnen zu befördern. Wir benutzen Kultur als ein Instrument, um Bewusstsein unter den Arbeitern zu erzeugen. Wir hoffen außerdem, dass Kultur ein Weg sein kann, internationale Solidarität unter den Arbeitern aufzubauen. Das Kapital ist bereits globalisiert, aber die Arbeiter sind in unterschiedliche Länder aufgeteilt, also hoffen wir, dass die Kultur der ArbeiterInnen internationalisiert werden kann. Wenn die ökonomische Befreiung so unglaublich wichtig sein soll, wie viel wichtiger muss dann erst die kulturelle Emanzipation für die Arbeiterklasse sein, im Sinne von »die Befreiung lesen und denken«.

Arbeitet Ihr mit anderen ähnlichen Organisationen in China zusammen?

Sun Heng: Die Regierung organisiert einen Teil ihrer kulturellen Aktivitäten in Kulturzentren. Solche Zentren gibt es in jeder Stadt als Ort für Konzerte, Kino, Theater usw. Das Kulturzentrum in unserem Distrikt, vor allem der Leiter, unterstützt viele unserer Aktivitäten.

Wir arbeiten zudem mit 20 unterschiedlichen Arbeitsgruppen und Einrichtungen der Universität in Beijing zusammen, wo viele StudentInnen hinkommen und freiwillige Dienste anbieten. Wir arbeiten auch mit 20 Nichtregierungsorganisationen in ganz China zusammen, die im gleichen Bereich tätig sind wie wir. Und wir haben Kooperationen mit Unternehmen, die Abteilungen für sogenannte Soziale Unternehmensverantwortung (Corporate Social Responsibility, CSR) haben. Diese CSR-Abteilungen sind immer auf der Suche nach bestimmten Themen und gewähren dann finanzielle Unterstützung. Dabei geht es den Unternehmen vorrangig um Eigenwerbung und ein gutes Image in der Öffentlichkeit. Wir haben auch Kontakte zu Massenmedien. Zu Gewerkschaften haben wir wenig Kontakt.

Aber gerade jetzt ist ein interessanter Moment. Die lokale Regierung hat kürzlich erklärt, uns bei der Gründung einer gemeindebasierten Gewerkschaft unterstützen zu wollen. Das kam ganz plötzlich vor ein paar Wochen. Ich war unterwegs, als mich meine Kollegen informierten, wir hätten gerade mit Unterstützung der Lokalregierung eine Gewerkschaft gegründet. Zunächst dachte ich, das wäre ein Scherz.

Wäre das nicht ein Wendepunkt, wenn die ArbeiterInnen selbst die Gewerkschaften organisieren könnten?

Lin Zhibin: Darum darf man die chinesische Regierung nicht über einen Kamm scheren. China hat eine große Bevölkerung, und es gibt viele Möglichkeiten.

Aber haben es die Arbeiterorganisationen in Guangdong zur Zeit nicht recht schwer? Wie wichtig sind diese Kämpfe in der chinesischen Gesellschaft?

Sun Heng: Die Beziehung zwischen Arbeitern und Unternehmen, dem Kapital, sind konfliktreich. Im Süden gibt es zurzeit viele Arbeitskämpfe. Diese dauern oft nur kurz und sind nicht organisiert. Gewerkschaften sind nur in staatlichen Unternehmen aktiv, sie repräsentieren die WanderarbeiterInnen nicht, da diese normalerweise nicht in Staatsbetrieben beschäftigt sind.

Im Bezug auf die internationalen Systeme und die nationale Situation in China hast Du vorhin gesagt, dass das Kapital sowieso schon global ist. Unsere Ausstellung basiert auf der These, dass das Kapital mindestens seit dem 16. Jahrhundert global ist. Um also auf die Situation der WanderarbeiterInnen in China zurückzukommen: In welchem Maße sind sie sich dessen bewusst?

Sun Heng: Viele WanderarbeiterInnen wissen, dass es eine globale Krise ist. Diejenigen, die lesen können, kommen leichter an Informationen. Und es gibt Wissenschaftler, die sich tatsächlich mit den Arbeitern treffen, um gemeinsam zu diskutieren. Viele Arbeiter wissen, dass die Dinge, die sie herstellen, nach Amerika oder Europa exportiert werden. Aber das Bewusstsein der ArbeiterInnen entsteht nur durch Diskussionen. Und daher müssen wir unserer historischen Verantwortung gerecht werden.

Übersetzung aus dem Englischen: Anne Scheidhauer

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 8/10. express im Netz unter: www.express-afp.info externer Link, www.labournet.de/express externer Link


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