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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Produktionsmodell China? Electronics Contract Manufacturing: globale Produktion und neue Arbeitsregime In Teil I seines Beitrags hatte Boy Lüthje die globale Restrukturierung der Produktionsketten im IT-Bereich analysiert als Entstehung eines neuen Produktionsmodells, das verschiedene Elemente beinhaltete: Abwälzung der Risiken der Produktion auf hochintegrierte Kontraktfertiger in Niedriglohnländern (wie z.B. China), Kapitalkonzentrationsprozesse und tayloristische Massenfertigung auf High Tech-Niveau. Teil II geht auf die damit verbundenen Arbeitsverhältnisse und die Folgen für die Beschäftigten ein: Die Arbeitspolitik in den EMS-Betrieben (Electronics Manufacturing Services) Chinas ist geprägt von den massiven Umbrüchen in den Regulationsformen des Lohnverhältnisses, die das Land im letzten Jahrzehnt erlebt hat. Die Reformen der Arbeitsgesetze und des Gewerkschaftssystems, die Arbeitsmigrationspolitik und besonders die klientelistischen Beziehungen lokaler Staats- und Parteiapparate mit in- und ausländischen Investoren auf Grundlage einer relativ weitreichenden fiskalen und politischen Autonomie von Städten und Provinzen (Hsing 1998, S.110ff.) sind die bestimmenden Faktoren. Die seit etwa 1990 geschaffenen Arbeitsgesetze definieren einen relativ klaren Rahmen der Regulierung des Lohnverhältnisses, der sich an den Gesetzen und Regeln industriell entwickelter kapitalistischer Länder orientiert (ausführlich: Taylor et al. 2003) und an staatskorporatistische Traditionen der Interessenvermittlung anknüpft (Chan 1991). Die damit etablierte »Rechtsstaatlichkeit« (yifazhiguo) markiert einen fundamentalen Umbruch in den vom nicht antagonistischen Modell der realsozialistischen »Betriebsgemeinschaft« (danwei) geprägten chinesischen Arbeitsbeziehungen (Lee 2002, S.197). Die auf eine harmonische Vermittlung der sich rasch entfaltenden Antagonismen von Arbeit und Kapital ausgelegten Arbeitsgesetze werden allerdings nur in höchst selektiver Weise überwacht und durchgesetzt. Relativ günstige institutionelle Voraussetzungen für rechtsstaatliche Verkehrsformen finden sich meistens in staatlichen Betrieben, privatisierten Staatsunternehmen (SOEs) und chinesisch-ausländischen Joint Ventures. Die Situation in den Exportindustrien in den Küstenprovinzen, insbesondere in den ehemaligen Sonderwirtschaftszonen und in Regionen mit überwiegend auslandschinesischem Kapital ist demgegenüber charakterisiert durch die schwache Überwachung bestehender Gesetze, das weitgehende Fehlen von Gewerkschaften und durch Belegschaften mit geringen Traditionen gewerkschaftlicher oder sozialer Organisierung (Taylor et al. 2003). Die Elektronik-Kontraktfertigung liefert ein bezeichnendes Beispiel. In Guangdong, dem wichtigsten Standort der Branche in China, ist die Nicht-Überwachung der Arbeitsgesetze durch die staatlichen Behörden gängige Praxis. Obwohl das Gesetz eine Präsenz von betrieblichen Vertretungen des staatlich kontrollierten All-chinesischen Gewerkschaftsbundes (ACGB) in Unternehmen mit ausländischem Investitionskapital vorsieht, sind solche offiziellen Arbeitnehmervertretungen in den EMS-Betrieben des Pearl River Delta so gut wie nicht vorhanden. In keinem der von uns untersuchten Großbetriebe existiert der gesetzlich vorgesehene Kollektivvertrag (betrieblicher Tarifvertrag). Relevante Initiativen zum Aufbau offizieller Vertretungsstrukturen in den Elektronikproduktionsbetrieben ausländischer Investoren gibt es nicht, auch wenn das Problem der gewerkschaftsfreien Betriebe von lokalen Gewerkschaftsfunktionären teilweise durchaus gesehen wird. Im einzigen EMS-Betrieb unseres Untersuchungssamples, in dem die Betriebsleitung die Existenz einer Betriebsgewerkschaft bestätigte, bestand diese aus einer von der Personalabteilung ausgewählten Vorarbeiterin. Unsere Einsichten unterstreichen die Feststellung chinesischer Arbeitssoziologen, dass die Arbeitsgesetzreformen des letzten Jahrzehnts an den Exportbetrieben mit einem überwiegenden Anteil an Migrantenbelegschaften weitgehend vorbeigegangen sind und im besten Falle zur Bildung von arbeitgeberbeherrschten Vertretungen geführt haben (Chang 2000). Auch wenn es bislang keine systematische Auswertung von Arbeiterbeschwerden, Gerichtsklagen und Arbeitskonflikten in Elektronikbetrieben der PRD-Region oder in China insgesamt gibt, erscheinen massive Proteste und Arbeitskonflikte eher als Ausnahme. Zwar berichten lokale Experten von Nichtregierungsorganisationen auch für die Elektronikindustrie von zahlreichen Beschwerden und Gerichtsklagen gegen Rechtsverletzungen. Dennoch lässt sich für die Mehrheit der EMS-Betriebe die Existenz relativ stark formalisierter Arbeitsbeziehungen feststellen, die auf individuellen Arbeitsverträgen und ausgedehnten betrieblichen Regelsystemen für Beschäftigungspolitik, Entlohnung, Beförderung und Beschwerdeverfahren beruhen. Im Unterschied zu den Befunden einschlägiger neuerer Analysen (Chiu/Frenkel 2000; Chan 2001) gilt diese Feststellung auch für Großbetriebe im Eigentum taiwanesischer Unternehmen. »Stabile Betriebsfamilien« Die Kontraktfertiger experimentieren mit einer Vielfalt von Politiken zur Stabilisierung der betrieblichen Sozialbeziehungen. Die meisten dieser Ansätze ähneln den Formen des modernen Betriebspaternalismus, der in den gewerkschaftsfreien IT-Unternehmen der USA, namentlich in Silicon Valley, vorherrscht (Lüthje 2001). Die starke Betonung von »Unternehmenswerten«, der ausgedehnte Einsatz von Programmen des Qualitätsmanagements aus dem Instrumentarium der »schlanken Produktion«, die zuweilen extensiven betrieblichen Freizeitprogramme und die Einbeziehung von Clubs und Assoziationen der Arbeitsmigranten in den Wohnheimen reflektieren dies. Der größte EMS-Betrieb Südchinas verfügt über ein breit gefächertes Angebot von Läden und Restaurants auf dem Betriebsgelände; Fitnesscenter, Kino, Freizeiteinrichtungen bis hin zu aufwendig ausgestatteten Computerspielsälen und ein Cybercafé für die Angestellten sollen den zumeist aus ländlichen Verhältnissen stammenden Beschäftigten großstädtisches Lebensgefühl vermitteln. Offensichtlich tragen solche Praktiken dem Umstand Rechnung, dass Arbeitsmigranten, insbesondere auch junge Frauen, Lohnarbeit nicht nur der Verdienstmöglichkeiten wegen suchen, sondern vor allem auch von der Hoffnung auf einen urbanen Lebensstil motiviert sind (Hsing 1998; S.99). Solche Sozialmodelle knüpfen zugleich an viele Aspekte der traditionellen sozialistischen Betriebsgemeinschaft in China und deren Grundgedanken der umfassenden sozialen Versorgung durch den Betrieb an (Li 1996). Die Identifikation mit den »Unternehmenswerten« wird dabei zu einer wesentlichen Ressource sozialer Stabilität in einem Umfeld, das angesichts andauernd niedriger Löhne und des Mangels institutionalisierter Sozialnormen bei Arbeitsbedingungen und Vertretungsrechten den Beschäftigten kaum längerfristige Perspektiven der beruflichen und persönlichen Entwicklung bieten kann. »Desorganisierter Despotismus« Die in den EMS-Betrieben in China entstandenen Formen eines weltmarktorientierten Betriebspaternalismus sind allerdings nur ein Element jener chaotisch anmutenden Fragmentierung der arbeits- und sozialpolitischen Institutionen und Regulierungsformen im kapitalistisch gewendeten China, für die Lee (2002) in Anknüpfung an Burawoy die treffende Bezeichnung »desorganisierter Despotismus« geprägt hat. In der PRD-Region manifestiert sich diese Situation in dem massiven »Standortwettlauf« zwischen den einzelnen Städten und Gemeinden, der fast alle Aspekte der Regulierung der Arbeitsbeziehungen zu beherrschen scheint. So gibt es erhebliche Unterschiede im Niveau des gesetzlichen Mindestlohns, der gemäß nationaler Gesetzgebung auf lokaler Ebene zwischen Stadtverwaltung, Arbeitgebern und Gewerkschaften ausgehandelt werden muss und der auch für ElektronikarbeiterInnen die offizielle Untergrenze ihrer Entlohnung bildet. In Shenzhen z.B. betrug im Jahre 2004 der gesetzliche Mindestlohn in den beiden benachbarten Stadtbezirken mit der stärksten Konzentration von Elektronikfertigungsbetrieben nach Angaben lokaler NGOs jeweils 595 Renmimbi (RMB) (ca. 60 Euro) bzw. 460 RMB. Diese Mindestlöhne sind in jüngster Zeit um 10-20 Prozent erhöht worden, um der Abwanderung von Arbeitskräften in andere Regionen mit höherem Lohnniveau entgegenzuwirken. Allerdings sind die Überwachungsmechanismen kaum verbessert worden (Interviewdaten 2005). Große Unterschiede bestehen auch bezüglich der Regelungen für die Lebensbedingungen in den Fabrikwohnheimen. Die meisten örtlichen Arbeitsbüros geben an, dass die Auflagen in den letzten Jahren erheblich strenger geworden seien, auch als Ergebnis von kritischen Berichten in der Lokalpresse und Protesten von Betroffenen. Die Bedeutung solcher Aussagen ist allerdings sehr interpretationsfähig und bestimmt von den existierenden örtlichen Standards. In Dongguan zum Beispiel verbietet eine im Jahre 2003 erlassene Richtlinie die Belegung von Wohnheimbetten mit zwei bis drei in verschiedenen Schichten arbeitenden ArbeiterInnen - nach Aussagen der Verantwortlichen ein großer Fortschritt gegenüber bestehenden Praktiken. Die relative Machtlosigkeit der ArbeiterInnen in den neuen Großbetrieben hängt offensichtlich mit dem völligen Fehlen kollektiver Kontrakte und Institutionen zusammen, die als Plattform gegenseitig beachteter Formen betrieblicher Arbeitsbeziehungen dienen könnten. Die Unmöglichkeit, auch nur die einfachsten gesetzlichen Normen und Vorschriften im Betrieb einfordern zu können, verdeutlicht auf drastische Weise die Schwäche solcher Institutionen und das Fehlen wirkungsvoller Tarifverhandlungsstrukturen in den betreffenden Betrieben und im gegenwärtigen System der industriellen Beziehungen Chinas generell (Taylor et al. 2003, S. 155ff.). Für ArbeitsmigrantInnen verschärft sich diese Problematik in entscheidender Weise durch die herrschende Migrationspolitik, die auf dem System der so genannten Haushaltsregistrierung (hukou) basiert, welches in den 1950er Jahren zur Verhinderung großer Migrationsbewegungen aus dem ländlichen Raum in die Städte etabliert wurde (Solinger 1999). ArbeitsmigrantInnen haben einen Zweite-Klasse-Status in städtischen Arbeitsmärkten, weil ihr Meldestatus als Einwohner und Staatsbürger nur am Ort der Familienherkunft gilt, aber in der Regel nicht am Arbeitsort. Faktisch weist dieses System den ArbeitsmigrantInnen einen »Gastarbeiter«-Status zu. MigrantInnen können deshalb auch keinen Einfluss in lokalen Staatsinstitutionen, wie z.B. städtischen Volkskongressen, ausüben. Hinzu kommt, dass die hukou Politik der einzelnen Städte in massiver Weise die soziale Differenzierung innerhalb der zugewanderten Arbeitsbevölkerung verstärkt. In den meisten Städten der PRD-Region können etwa stark gesuchte qualifizierte Techniker, Manager und Ingenieure ohne Probleme einen permanenten Aufenthaltsstatus erhalten, während ProduktionsarbeiterInnen auch nach langjährigem Aufenthalt ihren hukou nicht vom Land in die PRD-Städte transferieren dürfen. Das rasante Wachstum der Industrie, der boomende Arbeitsmarkt und die institutionell desorganisierte Produktionspolitik der PRD-Region bewirken eine hochgradige Instabilität der Arbeitsbeziehungen. So hat die Provinz Guangdong seit langer Zeit die bei weitem höchste Anzahl offiziell registrierter und durch Gerichte oder lokale Behörden geschlichteter Arbeitskonflikte in China (Sun 2000, S. 168ff.). Neuere Studien verweisen darauf, dass diese Konflikte in der Regel in individualisierter Form zwischen ArbeiterInnen und Management im Betrieb ausgetragen werden, die große Zahl von formellen Klagen vor Arbeitsgerichten sind so nur die Spitze eines Eisberges. Die am meisten verbreitete Form des Widerstandes gegen schlechte Beschäftigungsbedingungen ist offensichtlich der Wechsel des Arbeitsplatzes, was sich in der enormen Arbeitskräftefluktuation niederschlägt (in den von uns untersuchten EMS-Betrieben zwischen 30 Prozent und 60 Prozent pro Jahr). Die anschwellende Flut der Arbeitsgerichtsklagen zeigt allerdings auch ein rasch wachsendes Bewusstsein über individuelle Rechte am Arbeitsplatz auf Seiten der Beschäftigten an (Lee 2002, S.217). Die individuelle Widerstandsbereitschaft wird unterstützt durch eine zwar begrenzte, aber wachsende Publizität von Rechtsverletzungen im Betrieb, vor allem durch lokale Medien (ausführlich: Chan 2001) und sich rasch entwickelnde, als NGOs fungierende Netzwerke der Beratung und Unterstützung. Unter den Vorzeichen der andauernden Arbeitskräfteknappheit in der PRD-Region ist es in jüngster Zeit zu einer Welle zumeist spontaner betrieblicher Arbeitskämpfe gekommen, über deren Zahl und Ausmaß freilich niemand wirklich Bescheid wissen dürfte. Schlussbemerkung Unsere Analyse verweist auf die enge Verknüpfung von globalen und lokalen Restrukturierungsprozessen, die aus der raschen Entstehung moderner Industriestrukturen mit hochdifferenzierten Arbeitsregimes in China resultiert. Die globale Restrukturierung des industriellen Entwicklungsmodells der IT-Branche ist dabei von einer widersprüchlich wirkenden Doppelläufigkeit gekennzeichnet, bei der die zunehmende Entflechtung und Spezialisierung der Produktionssysteme an der »Spitze« (vertikale Desintegration) von einer massiven vertikalen Reintegration am unteren und mittleren Ende gekennzeichnet ist, also auf der Ebene von Fertigungs-prozessen und Logistik. In dieses Szenario passt auch hinein, dass die technologisch und organisatorisch stärksten Kontraktfertigungsunternehmen - heute vor allem in Taiwan beheimatet - eigene Strukturen von Technologieentwicklung, Markenbildung, Supply Chain Management und Vertrieb aufbauen und dabei auch nicht vor Akquisitionen großer westlicher Markenfirmen zurückschrecken. Diese massive Rekonzentration der Produktionsstrukturen schafft Voraussetzungen für industriegewerkschaftliche Organisierungsstrategien, die in traditionellen Industrieländern zunehmend abhanden zu kommen scheinen. Die gegenwärtigen politischen Entwicklungen in China deuten darauf hin, dass auch von oberster Ebene verstärkt die Frage der sozialen (und auch ökologischen) Kohäsion des chinesischen Entwicklungsmodells thematisiert wird. Ob die inzwischen auch von den chinesischen Gewerkschaften unterstützten Reformprojekte zur Verbesserung des Status von ArbeitsmigrantInnen auch zu Veränderungen im betrieblichen Kräftegefüge führen werden, darf für die IT-Industrie zumindest bezweifelt werden. Vor allem sind die chinesischen Gewerkschaften weit entfernt von ernsthaften Ansätzen branchenweiter Organisierung, was angesichts ihrer traditionellen Rolle im plansozialistischen Staatssystem und dem Fehlen industriegewerkschaftlicher Kampferfahrungen in früheren Epochen der chinesischen Arbeiterbewegung kaum verwundert. Die Frage der »Corporate Social Responsibility« in der Elektronikproduktion sollte aber nicht nur den Unternehmen und der sich innerhalb in China rasch entwickelnden Szene professioneller Consultants überlassen werden. Für eine stärker arbeitnehmerorientierte Thematisierung dieser Problematik besteht nicht nur auf Seiten des inzwischen recht bunten Spektrums chinesischer NGOs Interesse, sondern zunehmend auch innerhalb des offiziellen arbeitspolitischen Apparates von ACGB-Gewerkschaften, staatlichen Behörden und der sie umgebenden wissenschaftlichen Forschungslandschaft. Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3/06 (Die Literaturliste ist über die Redaktion zu beziehen oder in der Langfassung dieses Textes nachzulesen, die erschienen ist in: WSI-Mitteilungen, Nr. 1/2006: »Weltmarkt und Gewerkschaftsarbeit«; zu beziehen über die Hans-Böckler-Stiftung für 7,50 Euro) Boy Lüthje ist Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung Frankfurt/Main und Gastwissenschaftler am East-West Center, Honolulu, Hawaii; seine Arbeitsschwerpunkte sind: Transnationale Produktion, Innovation und industrielle Beziehungen (Ostasien und USA). |