Home > Internationales > Chile > proteste > rosso4
Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

„Es gibt in chile keine Mitte-Links-Regierung“

Exklusivinterview mit der Generalsekretärin der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR) Chile, Mónica Quilodrán , zur Lage in Chile nach den sozialen Massenprotesten

Von Rosso Vincenzo*

Der 1965 gegründete Movimiento de Izquierda Revolucionaria (Bewegung der Revolutionären Linken – MIR) war zusammen mit der Kommunistischen Partei Chiles und der aus dieser hervorgegangenen Guerillaorganisation FPMR eine der Säulen des Widerstandes gegen die Pinochet-Diktatur von 1973 bis 1990 und bekämpft heute kompromisslos die neoliberale Politik und die zahlreichen, antidemokratischen Relikte der Junta-Herrschaft. Ziel des MIR ist weiterhin eine sozialistische Gesellschaftsordnung. Im Folgenden die vollständige Fassung (gut 9.200 Zeichen) eines Exklusivinterview mit der Generalsekretärin des MIR, Monica Quilodran, zur Lage in Chile, das in einer stark „umgearbeiteten“ Kurzform (4.810 Zeichen) in der „jungen Welt“ vom 1.10.2007 erschien.

In den letzten Wochen machten Berichte über soziale Massenproteste in Chile weltweit Schlagzeilen. Vorläufiger Höhepunkt waren die vom Gewerkschaftsbund CUT organisierten Großdemonstrationen am 29.August 2007. Was war der Grund für diese Demonstrationen?

„Der Grund für den Protestaufruf der CUT liegt in einer schwierigen und widersprüchlichen innenpolitischen Situation, das heißt dem dramatischen Anstieg der Lebenshaltungskosten in diesem Jahr. Den Zahlen zufolge, die auf den Wirtschaftsseiten der großen landsweiten Tageszeitung ‚Mercurio’ zu finden sind, stiegen die Lebenshaltungskosten (auf Jahresbasis berechnet) um 13% und die Löhne nur um 3%. Und für das Jahr 2008 wird ein Preisanstieg um 9,8% erwartet, aber auch ein noch höherer Wert ist möglich.

Im kommenden Jahr finden Wahlen statt und 2009 ebenfalls. Sowohl innerhalb des Regierungsbündnisses als auch in der Allianz von UDI und Renovación Nacional <d.h. der Rechtsparteien, die in der Pinochet-Tradition stehen> gibt es verschiedene Präsidentschaftsanwärter. Das hat die im chilenischen Volk vorhandenen Widersprüche erhöht, wie in der Presse und im Fernsehen zu beobachten ist, wo man sich gegenseitig Plünderung, Diebstahl, Korruption und Brutalität vorwirft, während unterhalb dessen eine riesige Menge an Menschen ausgegrenzt wird. Das Wirtschaftsmodell war für vier Millionen Menschen konzipiert. Nachdem der Reichtum allerdings in wenigen Händen konzentriert wurde, hat sich diese Projektion auf weniger Menschen reduziert. Im Augenblick umfasst der Markt ungefähr drei Millionen Konsumenten. Chile hat aber 16 Millionen Einwohner!

Der Kompromiss des Regierungsbündnisses mit den chilenischen Streitkräften und dem Pentagon hat jede Spur von Klassenorganisation beseitigt. Deshalb gibt es im Land kaum eine gewerkschaftliche Organisierung. Der Gewerkschaftsdachverband Central Unitaria de Trabajadores (Einheitszentrale der Arbeiter – CUT) repräsentiert einige Betriebs- und Branchengewerkschaften, die mehr Schein als Sein sind. Vor der weiteren Verschlechterung der Lebensbedingungen und den nächsten Wahlen brauchte die Regierung einen Protesttag, da anschließend die nationalen Feierlichkeiten anstanden, für die sie eine einwöchige Fiesta Popular spendierten und das Volk mit Alkohol betäubten, um es von seinen miserablen Lebensbedingungen abzulenken. Deshalb rief die CUT für den 29.August zum Protest auf, allerdings ohne eine klare Agenda.“

Warum diese brutale Polizeirepression gegen den friedlichen Protestmarsch in Chile, bei der 537 Demonstranten festgenommen und Hunderte verletzt wurden (darunter sogar der sozialistische Senator Alejandro Navarro)?

„Die Kritik des <Pinochet-nahen rechten Oppositions-> Bündnisses für Chile an der gegenwärtigen Regierung lautet, dass sie keinen Charakter besitzt. Die einzige Form, Charakter zu zeigen, besteht darin das Volk zu unterdrücken, wenn es protestiert, wie es auch beim Schülerprotest im vergangenen Jahr der Fall war. Der Innenminister demonstriert seine neuen Überzeugungstechniken und darunter haben diejenigen zu leiden, die es wagen, ihre Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen zu zeigen. Andererseits gibt es Leute, wie diesen Senator, die an den Protesten teilnehmen, um an Popularität zu gewinnen, im Grunde aber nur auf der Welle des Protests Präsidentschaftskandidat eines unzufriedenen Teils der Bevölkerung werden wollen.“

Welche politischen Konsequenzen hatten diese Ereignisse für das Verhältnis zwischen Gewerkschaften, fortschrittlichen Jugendlichen und verarmten Massen einerseits und der so genannten Mitte-Links-Regierung der sozialistischen Präsidentin Michelle Bachelet andererseits?

„Zuallererst einmal gibt es in den Großunternehmen und im Großhandel in Chile, wie gesagt, nur einen äußerst geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Um überhaupt ein paar Gewerkschaften zu haben, wurde in das entsprechende Gesetz ein Artikel eingeführt durch den Subunternehmen der Arbeitskräfte geschaffen wurden und die Möglichkeit der dort Beschäftigten, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Da ein und dasselbe Unternehmen jedoch im Handelsregister unter verschiedenen Namen firmiert, wird diese gewerkschaftliche Organisation allerdings sehr unscharf und tendiert gegen Null. Gegenwärtig bestehen die Betriebs- und Branchengewerkschaften der CUT vor allem aus Lehrern, aus Beschäftigten des Gesundheitswesens und öffentlich Bediensteten, die in der flexibilisierten Welt der Privatunternehmen eine Minderheit darstellen. Die CUT existiert nur deshalb, weil die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und einige Freihandelsverträge (wie die mit Europa) das verlangen. Gegenwärtig ist die Central Unitaria de Trabajadores (CUT) eine Gewerkschaftszentrale mit vielen Ideologien, die von der Christdemokratischen Partei (die Mitglied der Christlich Demokratischen Organisation Amerikas – ODCA ist) bis zur Unabhängigen Demokratischen Union (UDI) reichen. Einer Partei, die dem Opus Dei nahe steht und die radikalste der beiden Pinochet nahen Rechtsparteien ist. Die CUT unterhält keinerlei Beziehungen zur Gesellschaft, sondern nur zum Arbeitsministerium.

Die Regierung verachtet die Jugendlichen. Das hat sie unter anderem durch das neue Jugendstrafrecht zum Ausdruck gebracht, das selbst 14jährige Kinder wegen geringfügiger Vergehen verurteilt. Dazu kommt, dass sich das chilenische Erziehungswesen in den Händen der Privatwirtschaft befindet und die Mehrheit der Kinder des Landes, aufgrund fehlenden Schutzes durch das Bildungsministerium, zu Armut und Schutzlosigkeit verdammt. Hochwertige Bildung gibt es nur für jene, die sie bezahlen können und das ist der kleine Kreis der Konsumenten, die in die Gesellschaft und den Markt integriert sind. Deshalb ist die große Mehrheit der Jugendlichen dazu verdammt, weiterhin in den äußerst ärmlichen Verhältnissen ihrer Familien zu leben.

Im Gegensatz zu dem Eindruck, der auf dem Weltmarkt verbreitet wird, gibt es in Chile keine Mitte-Links-Regierung, deshalb kann es hier auch keine fortschrittliche Politik geben.“

Ein prominenter sozialistischer Senator unter den Opfern der Polizeirepression und eine regierende Sozialistische Partei, die zu Protesten gegen die neoliberale Regierungspolitik aufruft. Wie ernst zu nehmen ist das? Erwartest Du Dir eine Spaltung innerhalb der Sozialistischen Partei oder einen politischen Kurswechsel?

„Erstens werden die Abgeordneten und Senatoren im Allgemeinen nach einem sehr umstrittenen Wahlsystem gewählt. Das ist nicht mal ein ‚korrigiertes Verhältniswahlrecht’, wie einige Teilen des Systems genannt werden, die einige Kräfte der Linken aussperren. Deshalb ist es ein Pakt zwischen denjenigen, die die Parlamentsessel besetzen und deshalb erfreut sich dieses Wahlsystem keiner großen Beliebtheit.

Zweitens ist die Sozialistische Partei ein Sektor, der in verschiedene Tendenzen gespalten ist, aber nicht über Aktivisten verfügt. Das sind Technokraten mit oder ohne Titel, die bei Pinochets Abgabe der Regierung <im März 1990> im Wesentlichen eine Übereinkunft mit dem neoliberalen Modell schlossen. Aus diesem Grund rekrutierte die amtierende Präsidentin Bachelet, bevor die ehemaligen politischen Gefangenen ein Gnadengesuch stellten, in den Gefängnissen Leute zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit der Regierung. Mit dem Ziel eine eigene Politische Polizei ins Leben zu rufen und mit deren Hilfe die Entwaffnung der sozialen und politischen Organisationen zu beginnen, die gegen die Diktatur gekämpft haben.

Das einzige soziale Interesse dieser (sozialistischen) Partei besteht darin, dafür zu sorgen, dass sie die nächsten Wahlen gewinnt. Das erfordert ein gewisses Fingerspitzengefühl, da das Land mittlerweile der Ausplünderung, der Brutalitäten und der Korruption müde ist. Wir erwarten uns von keinem dieser Leute etwas, weil die, die sich jetzt ‚Widerspenstige’ nennen, ohne mit der Wimper zu zucken, für die übelsten, antidemokratischen Gesetze gestimmt haben.“

Während der letzten nationalen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen erhielt das Bündnis der vereinigten Linken Juntos Podemos Mas (Zusammen können wir mehr), dem auch der MIR angehörte, 5% der Stimmen. Wie steht es jetzt um die chilenische radikale Linke und welche Perspektiven hat sie?

„Erstens: In Chile gibt es keine radikale Linke. Es gibt eine außerparlamentarische Linke und auf diese – marxistische – Linke, die im Parlament für die Demokratisierung des Landes kämpfen würde, beziehe ich mich.

Juntos podemos war nur ein Wahlbündnis, das noch am Wahltag entwaffnet wurde, da es kein Interesse daran hatte eine Linksopposition zur Regierung und zum neoliberalen Modell zu sein. Bedauerlicherweise ist es jetzt zu spät, um ein neues Wahlbündnis ins Leben zu rufen, weil das launenhaft und verlogen wäre. Der MIR ist nicht bereit Bündnisse einzugehen, die nur das unmittelbare Interesse verfolgen, in den Genuss von Wahlkampfkostenerstattung zu kommen oder bei den Kommunalwahlen <ein paar> Stadt- oder Gemeinderatssitze zu erringen.“

Vorbemerkung, Interview und Einfügungen in eckigen Klammern: Rosso

Der Name Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe: http://www.freewebtown.com/antifauni/ externer Link Rubrik „Aktuelles“). Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen per Mail an: negroamaro@mymail.ch


Home | Impressum | Über uns | Kontakt | Fördermitgliedschaft | Newsletter | Volltextsuche
Branchennachrichten | Diskussion | Internationales | Solidarität gefragt!
Termine und Veranstaltungen | Kriege | Galerie | Kooperationspartner
AK Internationalismus IG Metall Berlin | express | Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken
zum Seitenanfang