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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Sandkörner im neoliberalen Getriebe? Gewerkschaftliche Mobilisierung und neue Formen der Basisorganisation in Chile Santiago de Chile in der Vorweihnachtszeit: Bibliotheken, Museen, Ämter und andere öffentliche Einrichtungen bleiben über Tage geschlossen, die Consultorios (Gesundheitszentren) bieten keine Dienste an, eine Metrolinie fährt nicht und an einem Tag ist der Metro-Verkehr komplett stillgelegt, Schilder verkünden "Paro!" - Streik. Fast jeden Tag gibt es Streikkundgebungen und Demos irgendwo in Santiago und in anderen Städten. Es hat den Anschein, als bekäme die schwache Gewerkschaftsbewegung Chiles neuen Auftrieb. Und tatsächlich gibt es momentan eine gewisse Dynamik - angesichts der enormen Prekarisierung und stärker werdenden Verarmung wäre diese auch dringend notwendig. Gleichzeitig braucht es Strategien, um die Basis für politischen Druck von unten dauerhaft zu stärken. Hauptgründe für die aktuellen Streiks und Mobilisierungen sind vor allem die Forderungen nach längst überfälligen Lohnanpassungen und der Protest gegen Massenentlassungen im öffentlichen Dienst. So rief die gewerkschaftliche Assoziation der Mitarbeiter im öffentlichen Dienst ANEF zu einem nationalen Streik auf, dem weitere Gewerkschaften folgten. Den öffentlichen Dienst trifft es in punkto Entlassungen hart: Nach Schätzungen der ANEF sind bis Dezember 2010, im März 2010 war die rechte Regierung angetreten, ca. 3.000 Beschäftigte entlassen worden. Damit wird der öffentliche Sektor, in dem nur noch sechs Prozent der Beschäftigten arbeiten, weiter "verschlankt". Die Zahl der Streiks hat sich 2010 enorm erhöht: Bis zum September gab es mit 126 Streiks von insgesamt mehr als 20.000 Beschäftigten schon mehr als im gesamten Jahr zuvor. Anfang Oktober 2010 gab es allein 26 Streiks mit mehr als 8.000 Streikenden. Gegen Ende Oktober kamen noch einmal 32 Streiks hinzu. Mehr als einen lang Monat streikten beispielsweise 800 Beschäftigte der größten chilenischen Apothekenkette und zwei Wochen später MinenarbeiterInnen in der Kupfermine in Collahuasi. Die Verarmung im Land verschärft sich Vor allem der Regierungswechsel gab den Protesten Auftrieb: Die Regierungsübernahme des rechten Parteienbündnisses um den Präsidenten und Milliardär Sebastián Piñera bedeutete eine Zäsur für die politischen Verhältnisse in Chile, das seit 20 Jahren von einem Bündnis aus Sozialdemokraten und Christdemokraten, der Concertación, regierte wurde. Vorbei die Zeiten, in denen die Regierung soziale Konflikte effizient und geschickt verwaltete, wie es dem Journalisten Paul Walder zufolge die Concertación vermochte. Nach Walders Ansicht ist dies auch einer der Gründe für die aktuelle Mobilisierung. Ein anderer Grund wäre die sich zuspitzende Prekarisierung in Chile. So offenbart die aktuelle sozioökonomische Studie der chilenischen Regierung einen Anstieg der Armut und eine größer werdende Schere zwischen Arm und Reich. Von Regierungs- und Unternehmerseite wird die Senkung der Arbeitslosenzahlen und das Wirtschaftswachstum gefeiert, in der Realität sind ein Großteil dieser Arbeitsplätze Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse, so dass die Einkommen oftmals nicht einmal für die Deckung der Grundbedürfnisse ausreichen. Ein großer Teil der Beschäftigten wird zudem auf Honorarbasis ohne Vertrag oder mit Subkontrakten und Zeitarbeit zu niedrigen Löhnen und schlechteren Bedingungen beschäftigt. Die Anzahl solcher Beschäftigungsverhältnisse steigt. Ein reeller Kündigungsschutz existiert nicht, so dass ein Arbeitsplatz sowieso selten als sicher gelten kann. Die Löhne sind insgesamt sehr niedrig, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Lebenshaltungskosten zumindest in der Metropole und in den Großstädten nahezu mit denen in Europa vergleichbar sind. Der Mindestlohn in Chile beträgt umgerechnet 250 Euro - die Armutsgrenze liegt bei ca. 105 Euro monatlich pro Person, für einen 4-Personen-Haushalt also bei ca. 420 Euro. 45 Prozent der Beschäftigten in Chile haben der oben zitierten Studie zufolge eine prekäre bzw. unsichere Arbeit. Unter den als arm geltenden ChilenInnen gehen fast 70 Prozent einer Arbeit nach und ungefähr die Hälfte derer, die in extremer Armut leben, tut dies ebenfalls, nur reicht ihr Lohn nicht über die Armutsgrenze hinaus. Im Süden Chiles hat sich die Situation durch tausendfache Entlassungen sowie die Wohnungslosigkeit noch verschärft. Zu den schlechten Beschäftigungsbedingungen kommt die mangelnde bis fehlende soziale Absicherung: Die Basiskrankenversicherung deckt nur eine minimale Versorgung ab, wirksame medizinische Versorgung muss teuer bezahlt werden. Die Rentenversicherung ist privatisiert und ebenfalls teuer und für den Fall der Arbeitslosigkeit gibt es allenfalls eine sehr geringe staatliche Unterstützung, die nur an diejenigen gezahlt wird, die unter die Armutsgrenze fallen. Mit der rechten Regierung wird einer weiteren Entrechtung Tür und Tor geöffnet. Trotzdem greift die These Walders, die aktuelle Mobilisierung werde von der steigenden sozialen Unzufriedenheit befeuert, zu kurz. Die am stärksten Prekarisierten sind meist nicht gewerkschaftlich organisiert, weil die gewerkschaftsfeindliche Praxis der meisten Unternehmen sowie der fehlende Kündigungsschutz die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zu einem persönlichen Risiko machen. Das Gewerkschaftssystem: Teile und herrsche ZeitarbeiterInnen und Beschäftigte mit Subkontrakten sowie in ungeregelten Arbeitsverhältnissen sind in der Regel isoliert, so dass sich hier kaum Druckpotenzial entwickelt. Insgesamt sind nur rund 11 Prozent der chilenischen Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert und die Tendenz ging in den letzten Jahren eher nach unten. Dass langfristig der Druck der gewerkschaftlichen Basis höher wird, weil die Unternehmen sich mit der rechten Regierung auf der sicheren Seite sehen, ist jedoch möglich. Gleichzeitig könnte der Aufruf der ANEF zu einem nationalen Streik auch als eine Art inoffizielle Oppositionspolitik interpretiert werden. Auffällig ist in jedem Fall, dass die Streiks und Kämpfe eher vereinzelt stattfinden und eine gemeinsame Gewerkschaftsbewegung nicht in Sicht scheint. Trotz gegenteiliger Verlautbarungen tritt auch der Gewerkschafts-Dachverband CUT bisher nicht als der große Organisator einer gemeinsamen Bewegung auf. Das System gewerkschaftlicher Interessenvertretung in Chile, dessen gesetzliche Grundlage noch aus der Diktatur stammt, kennt keine Branchengewerkschaften. Die Gewerkschaftslandschaft ist fragmentiert in zur Zeit rund 15.000 Betriebsgewerkschaften. Sie müssen einen festgelegten Anteil an ArbeiterInnen organisieren, um bestehen zu können. Sogenannte "Inter-Empresas", Vereinigungen von Gewerkschaften verschiedener Unternehmen, sind faktisch machtlos, weil sie keine gemeinsamen Tarifverhandlungen führen dürfen. Förderationen, die sich aus mehreren Gewerkschaften einer Branche formieren können, haben nur Verhandlungsrecht, wenn das Unternehmen zustimmt. Und Konförderationen, also Vereinigungen von Förderationen, besitzen schließlich gar kein Verhandlungsrecht mehr. Die Aushandlung gleicher tariflicher Bedingungen für eine Branche ist somit ausgeschlossen. Verhandlungen und Arbeitskämpfe finden in der Regel im Betrieb selbst statt. Das Streikrecht ist gesetzlich geregelt. Schwieriger wird es - deshalb ist dies auch eine beliebte Unternehmensstrategie -, wenn ein Unternehmen Subunternehmen für bestimmte Dienstleistungen beauftragt. Theoretisch ist auch dies geregelt, aber faktisch ist das Recht auf Organisierung und Streik dann nur schwer durchzusetzen. Es gibt aber auch Positivbeispiele, z.B. die Confederación de los trabajadores del Cobre, in der ArbeiterInnen mit Subkontrakten der Kupferminen verschiedener (privater) Unternehmen organisiert sind. Sie führten 2008 einen lang andauernden, wilden Streik durch. Diese Konföderation stellt gleichzeitig eine neue Form der erfolgreichen Organisierung dar, die sich in Chile langsam aber kontinuierlich verbreitert. Neue Formen der Organisierung Das Kündigungsrisiko, das mit der Gründung einer Gewerkschaft verbunden ist, hat in den letzten Jahren klandestine Formen der Gewerkschaftsgründungen hervorgebracht: Eine entschlossene Gruppe von Beschäftigten eines Betriebs wirbt KollegInnen in Treffpunkten, Fußballclubs, bei privaten Feiern etc. für die Gründung einer Gewerkschaft, so dass später keine/r als Verantwortliche/r herausgepickt werden kann. Diese entschlossene Form der Organisierung (ähnlich des Organizings) hat oftmals für die Beschäftigten eine höhere Attraktivität. Zum einen wird durch die persönliche Ansprache und Nähe ein hoher Vertrauensvorschuss erzielt. Zum anderen sind die Arbeitsbedingungen im Unternehmen zum Zeitpunkt der Organisierung oft schon ziemlich miserabel und der Druck, etwas zu verändern, ist hoch. Kurz nach Gewerkschaftsgründung, d.h. vor den ersten Tarifverhandlungen, sind die Mitglieder zudem ein paar Wochen vor Kündigungen geschützt. Einer bereits bestehenden Gewerkschaft beizutreten bedeutet hingegen ein größeres Risiko. Längerfristig sind die so entstehenden Gewerkschaften erfolgreich, da die Organisierungsquote und somit der Druck gegenüber dem Unternehmen hoch bleibt. Neben der Eins-zu-Eins-Kommunikation direkt an der Basis, ist ein Mittel zur Stärkung der Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaft "el mapeo", d.h. das Sammeln und Auswerten aller verfügbaren Informationen über das Unternehmen: Unternehmensgewinne, Löhne, Boni, Stundenzahlen, Akkordzahlen, Produktpreise etc. Diese Form der Aneignung des Unternehmenswissens bildet die Grundlage dessen, was von den GewerkschafterInnen als Schlüssel für ihre Stärke gesehen wird: Das Bewusstsein der Arbeitenden über den Arbeits- und Produktionsprozess und die "Kontrolle der Produktion", durch die Druck auf die Unternehmen ausgeübt wird. So steigen beispielsweise durch die Verlangsamung der Arbeit die Kosten der Produktion - die genaue Information darüber besitzt im besten Fall dann nicht nur das Unternehmen, sondern auch die Gewerkschaft. Die Kenntnisse über den Produktionsprozess sind nicht mehr Herrschaftswissen, sondern werden jedem zugänglich. So wird eine Spaltung der Beschäftigten schwieriger, dem Einzelnen/der Einzelnen wird der Wert ihrer/seiner Arbeit im Prozess klar. Die neuen Basisgewerkschaften haben klare Prinzipien: Autonomie, Basisdemokratie und "Klassenbewusstsein". Sie verstehen ihre Arbeit außerdem als politische Aufgabe über den Betrieb hinaus, basisferne Funktionäre gibt es nicht, die Gewerkschaftsleitung muss aus dem Betrieb kommen. Das notwendige Gewerkschafts-Know-How, sowie das Wissen über ökonomische und politische Prozesse etc., wird in selbst organisierten Gewerkschaftsschulen weitergegeben. Zudem sind die Gewerkschaften gut vernetzt und stehen im ständigen Erfahrungsaustausch. Als gemeinsamer Ort ist ein selbstverwaltetes Bildungs- und Schulungszentrum geplant. Diese neue Form der gewerkschaftlichen Organisierung ist noch in den Anfängen. Bisher gibt es ca. 25-30 solcher Gewerkschaften in Chile, beispielsweise in Supermarktketten, in Häfen, in der Kupferindustrie, der fischverarbeitenden Industrie, in Bierbrauereien etc., es gründen sich aber bereits neue. Es ist eine eher langsame Entwicklung, aber - angesichts der Krise der Gewerkschaften - ist es bereits jetzt auch eine kleine Erfolgsgeschichte. Sie bleibt allerdings häufiger unsichtbar, verglichen mit der Mobilisierung auf der Straße. Die direkte Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Löhne hat dabei eine hohe Priorität. Das Potenzial zur Verbreiterung einer kritischen Basis ist gleichzeitig ein Hoffnungsschimmer im neoliberalen Modellland Chile, in dem der Wahrheitsanspruch des "There is no alternative" nicht nur Politik und Medien, sondern auch die Köpfe beherrscht. Iván Saldías, Kristin Schwierz ak - zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 557 / 21.1.2011
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