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Updated: 18.12.2012 15:51
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Die Unia am Scheideweg

Eine Bewegung der Arbeiter_innen oder ein modernes Dienstleistungsunternehmen?

 

"Das Mass ist voll !"

Am Dienstag 16. Februar 2011 hat das Gewerkschaftspersonal der Unia-Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental die Arbeit niedergelegt. Auslöser war einerseits die fristlose Absetzung des Berner Sektionsleiters Roland Herzog durch das Management der Unia sowie andererseits eine weiter zurückliegende Verwarnung des Vertreters der Unia-Personalkommission Nazmi Jakurti, deren Rücknahme von der Geschäftsleitung verweigert wird, obwohl diese entgegen allen Regeln ausgesprochen wurde.

Es gibt keine Streiks aus nichtigen Gründen

Die Gewerkschaftssekretär_innen an der Front wissen sehr genau, was bei einem solchen Entscheid auf dem Spiel steht. Einerseits kann der Konflikt von den bürgerlichen Medien dazu missbraucht werden, das Ansehen des Gewerkschaftsgedankens zu diskreditieren. Dies was bisher der Hauptgrund dafür, die Öffentlichkeit aus internen Konflikten herauszuhalten. Andererseits drohen - wie bei jedem Ungehorsam gegenüber einer diktatorischen Direktion - Repressalien. Engagierte gewerkschaftliche Mitarbeiter_innen sind ausserdem auf dem Arbeitsmarkt der Privatwirtschaft nicht gerade die begehrtesten Leute. Solche Aussichten haben folglich einen disziplinierenden Effekt, und das ist den Vorgesetzten wohl bekannt.

Gewerkschaftliches Selbstverständnis gegen Modernisierungstrend.

Seit der Fusion der Gewerkschaften SMUV, GBI und VHTL zur Unia im Jahr 2004 läuft bei der grössten Gewerkschaft der Schweiz ein Modernisierungsprozess im Grunde neoliberalen Zuschnitts: Mit Callcenter für Mitgliederanfragen anstatt Mitgliederkontakt, mit einer Spezialisierung und Fragmentierung der Dienstleistungen, mit einem Organizing-Konzept, welches die aktiven Basismitglieder zunehmend zu Instrumenten der Leitung macht anstatt ihnen Autonomie und reale Mitentscheidung zu bieten. Leider wird nicht versucht die Mitgliederbasis und das Personal von der Einführung neuer Organisationskonzepte, die bisweilen auch interessante Aspekte in sich tragen, zu überzeugen. Sie werden verordnet.

Wer einem Beschluss des Managements im Wege steht, wird eliminiert.

Zwar gibt es bei der Unia eine interne, mit der nationalen Personalkommission als Interessenvertretung des Gewerkschaftspersonals ausgehandelte "Vereinbarung über die Anstellungsbedingungen" mit verbrieften Mitwirkungsrechten etc., die denselben Status wie ein Gesamtarbeitsvertrag in der Privatwirtschaft hat. Darin wird beispielsweise postuliert, dass sich beide Seiten verpflichten, gleichermassen für die Einhaltung der festgelegten Regeln besorgt zu sein, und dass im Sinn von Treu und Glauben gehandelt werden soll. Das Problem ist nur, dass die Einhaltung der festgehaltenen Bestimmungen durch die Mitarbeitenden eingefordert und bei Verstoss sanktioniert wird, während umgekehrt von oben noch und noch gegen die Rechtsansprüche der Untergebenen verstossen wird, die sich aus diesem Vertrag ableiten lassen. Ist ein_e Mitarbeiter_in in Ungnade gefallen, fühlt sich die Obrigkeit nicht mehr an Vertragliches gebunden.

Demokratie - von Fall zu Fall

Gegenüber der Mitgliederbasis kommt dieselbe Mentalität zum Ausdruck. Selektive Information, das künstliche Aufblähen von Schreckenszenarien, wenn dem Vorschlag von oben nicht gefolgt werden sollte, Überzeugungsarbeit im Gespräch unter vier Augen oder durch einzelne Telefonanrufe, Einladungen die "vergessen" werden, Mobilisierung bestimmter Wählergruppen durch das Versprechen von Geschenken oder besonderen Attraktionen sorgt für den optimalen Mix an Stimmen, der bei Wahlen in gewerkschaftliche Gremien den Wunschkandidat_innen der obersten Chefs zum Durchbruch verhilft. Abgesehen davon, dass meist nur dann alternative Kandidat_innen zur Verfügung stehen, wenn sich jemand zur Wahl stellt, der den Oberen suspekt ist. Hält das Management etwas für besonders wichtig und dringend spielen statutarische Bestimmungen keine Rolle mehr. Wie ein solcher Mechanismus funktioniert zeigt sich am Beispiel der gross angekündigten Vertrauensleutekampagne mit dem Namen "Unia-Forte". Die von einem Teil der Mitgliederbasis eingebrachten Vorschläge zur Änderung von Statuten und Grundsatzpapieren, mit dem Ziel, den Einfluss der aktiven Mitgliedschaft zuungunsten des Managements zu stärken, wurden am Unia-Kongress vom Dezember 2010 an eine beratende Kommission überwiesen. Seither hat man nichts mehr davon gehört.

Den Repressalien Grenzen setzen.

Es wird zunächst in erster Linie darum gehen, die mutigen Mitarbeiter_innen, die sich in dieser Auseinandersetzung exponiert haben, vor den Rachegelüsten der Vorgesetzten zu beschützen. Das ist ein defensiver Kampf, der Jahre dauern wird und solide und andauernde Solidarität bedingt. Die Methoden subtiler Repression kennen wir. Immer von plausibel anmutender Argumentation oder von falschen Versprechungen begleitet, können Funktionsänderungen, Versetzungen etc. angeordnet werden, Aufgaben können entzogen oder in einem nicht mehr zu bewältigenden Masse aufgedrängt werden. Persönlichkeitsbezogen inkompatible Personen können durch Personalentscheide in Abhängigkeit zueinander gebracht werden, auf der Basis von gezielten Fehlinformationen können schwerwiegende Verhaltensfehler provoziert werden, die zu Sanktionen führen. Den Möglichkeiten sind in einer Hierarchie kaum Grenzen gesetzt. Wir kennen das aus der Privatwirtschaft.

Zum Kern des Problems vorstossen

Im Grunde sind es nicht einmal schwerwiegende politische Differenzen betreffend gewerkschaftliche Politik, die den Unmut schüren. Der überwiegende Teil des Gewerkschaftspersonals steht der sozialdemokratischen Politik von Reformen und partieller Kollaboration mit dem Bürgertum nahe. Da gibt es keinen grundlegenden Unterschied zur Leitung. Der Kern des Problems liegt vielmehr im Widerspruch zwischen dem realen Innenleben der Gewerkschaft und ihrer Proklamation nach aussen. Die Situation für Mitarbeitende der Gewerkschaft, die beispielsweise Mitglieder gegen Repressalien ihrer Chefs verteidigen wollen, wird unerträglich, wenn sie mit eigener Repression des Managements gegen Arbeitskolleg_innen konfrontiert werden. Gewerkschaftsmitarbeiter_innen an der Front, deren Aufgabe es ist, Lohnabhängige von den Prinzipien der Gewerkschaft und den Vorteilen bezüglich Rechtssicherheit die der Gewerkschaftsbeitritt mit sich bringt, zu überzeugen, können dies nicht mehr mit dem notwendigen Enthusiasmus tun, wenn im Innern der Gewerkschaft das pure Gegenteil von Prinzipientreue und Rechtssicherheit herrscht. Wie will sich ein_e Gewerkschaftssekretär_in glaubhaft für den Schutz von Personalvertreter_innen in der Privatwirtschaft einsetzen, wenn Vertreter der eigenen Personalkommission unlauteren Disziplinierungen durch die Gewerkschaftsleitung ausgesetzt sind? Gefangen in diesen Widersprüchen, muss die Motivation der Mitarbeitenden unweigerlich Schaden erleiden, das interne Vertrauensverhältnis wird zerstört. Dazu kommt, dass die Verhandlungsposition gegenüber Unternehmern geschwächt wird, wenn diese in der Auseinandersetzung darauf hinweisen können, dass Unia-intern auch keine Regeln eingehalten werden.

Die Hindernisse der Demokratisierung

Eine Gewerkschaft, die all ihre grossen Kampagnen mit polterndem Verbalradikalismus einführt, sich in Schaumschlägerei gefällt und schliesslich sogar Niederlagen, in propagandistischer Manier als Erfolge zu verkaufen versucht, untergräbt ihre Glaubwürdigkeit. Es zeugt von einer zynischen Haltung aktuellen und potentiellen Mitgliedern gegenüber, davon auszugehen, dass die Mitgliederzahl nur mittels aufgemotzter PR-Kampagnen, gehalten oder vermehrt werden können. Eine Gewerkschaft, die, sobald sich in irgend einem Betrieb Widerstand manifestiert, sofort wie die Feuerwehr ankommt und das Kommando übernimmt, demobilisiert und entmutigt Lohnabhängige, ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Eine Gewerkschaftsleitung, die ihrem eigenen Personal gegenüber diktatorisch auftritt und arbeitsvertragliche Vereinbarungen nicht einzuhalten bereit ist, richtet die Glaubwürdigkeit der ganzen Bewegung zu Grunde. Gewerkschaftlicher Paternalismus entpolitisiert und entmündigt aktive Menschen, die versuchen ihre Rechte am Arbeitsplatz durchzusetzen. Werden die formell bestimmenden Basisorgane der Gewerkschaft nicht auf ehrliche und transparente Art und Weise in die Entscheidungsfindung miteinbezogen, so werden Leute die Mitbestimmen wollen, entmutigt. Zur Konsultation bleiben dann nur noch die Kopfnicker übrig, die auch als Personalvertreter ihres Betriebes nicht die wertvollsten sind. Wird weiterhin eine gewerkschaftliche Bildungspolitik betrieben, die das Bildungsangebot praktisch ausschliesslich auf technische Aspekte konzentriert und die politische Bildung der Mitglieder vernachlässigt, so wird nicht die Emanzipation der Mitglieder erreicht und ihr Kampfbereitschaft erhöht, sondern die politische Hegemonie der Leitung konserviert.

Zu meinen, die Gewerkschaft Unia könne mit der aktuellen Direktion zu einer demokratisch funktionierenden Organisation oder gar zu einer Interessevertretung der Arbeiter_innenschaft gemacht werden, die transparent funktioniert und darauf verzichtet, hinter den Kulissen mit den Unternehmern zu kungeln, ist allerdings eine Illusion.

Was bedeutet eine demokratische und partizipatorische Gewerkschaftsbewegung?

Die modernen Methoden des gewerkschaftlichen Aufbaus, die Organizing, Campaigning etc. genannt werden, bestehen darin, die Personen, welche man überzeugen will, in einem ersten Schritt über ihre Sorgen, Bedürfnisse und Bereitschaft zur Aktion zu befragen. Sie können auf unterschiedliche Weise genutzt werden. Entweder man stellt mögliche Widerstände gegen das von vornherein verfolgte Vorhaben fest und ergreift Massnahmen, die Vorbehalte oder deren Träger zu eliminieren, oder aber man tritt in einen ehrlichen Dialog mit den betreffenden Personen und versucht, einen Konsens zu finden. Eine andere, partizipative Gewerkschaftspolitik würde voraussetzen, dass alle Aktivitäten einer Bilanz unterzogen werden, bei der breite Kreise einbezogen werden und eine selbstkritische Reflektion über das Geschehene gefördert wird. Eine andere demokratische Gewerkschaft würde ihre von den Mitgliedern bezahlte Infrastruktur und das gesammelte Wissen in den Dienst der Lohnabhängigen die sich zur Wehr setzen stellen und diese darüber entscheiden lassen, wie sie ihre Interessen verteidigen wollen.

Der Streik der Berner Kolleg_innen, so ist zu hoffen, könnte Auslöser dafür sein im Personal und bei der Mitgliederbasis eine breite Diskussion über eine demokratische Unia von unten zu führen. Dafür Anstoss zu geben und Perspektiven zu entwickeln wurde ein nationales Komitee gegründet. Dem Projekt ist Glück und Durchhaltevermögen zu wünschen.

Natürlich sind nicht alle im Management im gleichen Masse an der geschilderten Willkür beteiligt. Da es in diesem Kreis jedoch keine Kraft gibt, diktatorischem Gehabe etwas entgegenzusetzen gilt auch die kollektive Verantwortung der Machthabenden und einiger ihrer regionalen Kader, die diesen ihre Karriere zu verdanken haben. All die geschilderten Fehlleistungen haben ihren Ursprung bei der Direktion, selbst dann, wenn diese im Feld von Subalternen ausgeführt werden: Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf her - oder, wenn wir schon bei Sprichwörtern sind: eine Treppe muss von oben nach unten gewischt werden.

Hanspeter Gysin - Überarbeiteter Artikel vom 04.03.2011

Hanspeter Gysin war, bis zu seiner Pensionierung 2007, 10 Jahre lang Präsident der Unia-Personalkommission


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