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Updated: 18.12.2012 15:51
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«Unten geht es um Löhne, oben um Lebensqualität»

Die Perspektiven der Gewerkschaften Kommunikation und SEV nach der gescheiterten Fusion

Das Phänomen „Fusionsfieber mit Rechenschieber“, das heißt die Vereinigung von Gewerkschaften entsprechend betriebswirtschaftlichen Überlegungen und ihre (meist reichlich dilettantische) Umsetzung nach zweitklassiger Technokratenart, kennt man nicht nur in den bundesdeutschen Gewerkschaften (mit ver.di als abschreckendstem Beispiel!), sondern auch in anderen europäischen Ländern. Neben Großbritannien ist da insbesondere unser Nachbarland Schweiz zu nennen.

Anders als sonst üblich stieß das Projekt der obersten sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokraten in der Gewerkschaft Kommunikation und der Eisenbahner- und Transportgewerkschaft SEV dort im November 2006 allerdings unter den SEV-Mitgliedern mehrheitlich auf Ablehnung und musste vorerst fallen gelassen werden. Grund genug für die „Neue Zürcher Zeitung“ (www.nzz.ch externer Link) sich knapp ein Jahr später bei den beiden Gewerkschaftsbossen Levrat und Gentil nach ihrem Zwischenresümee und den weiteren Perspektiven zu erkundigen. Das hochinteressante Ergebnis, das tiefe Einblicke in das gegenwärtige „strategische“ Denken der Gewerkschaftsspitzen gibt, erschien am 24.9.2007. Die Lektüre ist mehr als lohnenswert.

Den Gewerkschaften des Service public weht ein rauer Wind entgegen – nur schon, weil sie immer weniger Arbeitnehmer vertreten. Im Gespräch äussern sich der Freiburger SP-Nationalrat Christian Levrat, Chef der Gewerkschaft Kommunikation, und der jurassische SP-Ständerat Pierre-Alain Gentil, sein Amtskollege vom Eisenbahnerverband, über die Zukunft ihrer Organisationen nach dem im Frühjahr gescheiterten Fusionsversuch.

Herr Levrat, Herr Gentil, im November 2006 hatten Sie sich darangemacht, Ihre beiden Organisationen zusammenzuschliessen. Ein halbes Jahr später war der Traum ausgeträumt, weil sich im Schweizerischen Eisenbahn- und Verkehrspersonal-Verband (SEV) dafür keine Mehrheit finden liess. Wie räumen Sie diesen Scherbenhaufen auf?

Pierre-Alain Gentil: Der Ausdruck Scherbenhaufen scheint mir übertrieben. Wir hatten es im SEV mit einem demokratischen Entscheidungsprozess zu tun, in dessen Verlauf sich zeigte, dass wir die für einen solchen Schritt nötige grosse Mehrheit nicht finden würden. Das Projekt ist nun im Kühlschrank verstaut worden, und wir vom SEV wollen uns bis im Frühjahr 2009 klar werden, wie wir unsere Strukturen straffen und gleichzeitig unsere Präsenz in den Regionen verbessern können.

Christian Levrat: Ich finde es vernünftig, dass wir die Fusion nicht um jeden Preis durchgeboxt haben. Die Tatsache, dass sich bei uns in der Gewerkschaft Kommunikation (GeKo) der Kongress hinter das Fusionsprojekt stellte, hat auch damit zu tun, dass Reformen für unsere Leute nichts Neues sind. Unter anderem ging unsere Gewerkschaft 1999 aus einer Fusion hervor.

Kein Plan B in der Schublade

Welche Ziele haben Sie mit dem Fusionsprojekt verfolgt, und wie wollen Sie diese nun erreichen?

Levrat: Der Status quo ist für uns nicht zufriedenstellend. Zum einen müssen wir den Mantel einer Betriebsgewerkschaft der staatlich dominierten Unternehmen Swisscom und Post abstreifen. Heute haben wir es in Telekommunikation und Logistik mit einem freien Markt zu tun und mit verschiedenen Unternehmen, die sich in diesem tummeln. Zum anderen sind wir der Ansicht, dass wir als GeKo mit rund 37 000 Mitgliedern in fünf bis sechs Jahren definitiv zu klein sein werden – zu klein, sowohl was unser Mobilisierungspotenzial angeht als auch in Bezug auf die Dienstleistungen, die wir unseren Mitgliedern zunehmend auch regional anbieten wollen. Ideal wären dafür 80 000 bis 100 000 Mitglieder. Wir prüfen nun in Ruhe verschiedene Optionen, auch die Gründung einer Grossgewerkschaft bleibt eine Möglichkeit.

Herr Gentil, haben Sie denn einen Plan B, den Sie jetzt aus der Schublade ziehen können?

Gentil: Nein, aber wir müssen als SEV über unsere eigene Strukturreform hinaus prüfen, welche Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit anderen Gewerkschaften sich bieten. Entscheidend ist für mich nicht nur die Grösse einer Arbeitnehmerorganisation, sondern auch der Organisationsgrad innerhalb einer Branche; nur wenn dieser hoch ist, kann eine Gewerkschaft Druck aufbauen. Diesbezüglich haben wir bei den Eisenbahnern gute Voraussetzungen – bei den SBB vertreten wir rund 70 Prozent des Personals. Insofern haben wir auch eine Chance, wenn wir uns auf unseren angestammten Bereich konzentrieren und unsere Effizienz steigern.

Apropos Organisationsgrad: Werden Sie diesen halten können? Indem Sie sich defensiv auf die Besitzstandwahrung konzentrieren, gewinnen Sie doch keine neuen Mitglieder. Insbesondere qualifizierte Arbeitnehmer verstehen und nutzen Flexibilitäten im Arbeitsmarkt als Chancen.

Levrat: Primär haben wir Mitglieder verloren, weil die Arbeitgeber im öffentlichen Dienst Angestellte abgebaut haben; unser Organisationsgrad innerhalb der Swisscom und der Post ist aber stabil bis steigend. Für uns als GeKo ist es jedoch tatsächlich schwierig, Mitglieder zu gewinnen, die bei neuen Anbietern beschäftigt sind. Bei der Swisscom gehören uns rund 35 Prozent der Arbeitnehmer an, bei den privaten Telekomunternehmen zwischen 10 und 15 Prozent.

Noch einmal: Man hat den Eindruck, Sie zielten mit Ihrem Engagement auf die weniger qualifizierten Angestellten, von denen es im Zuge der Automatisierung immer weniger gibt. Wie halten Sie es mit der Vertretung der tendenziell zunehmenden Zahl von Personen mit höherer Ausbildung?

Gentil: Natürlich kümmern wir uns auch um diese Leute. Für den Zusammenhalt, die Verankerung und die Schlagkraft einer Gewerkschaft ist es wichtig, dass sie auch Mitglieder bis hinauf ins mittlere Kader hat. Bei uns hat das Tradition.

Levrat: Wir sehen uns vor allem mit der Herausforderung konfrontiert, dass sich die Einkommensschere immer weiter öffnet. Oben haben wir es mit immer mehr jungen Leuten zu tun, die relativ viel verdienen, und unten bewegen sich immer mehr Arbeitnehmer Richtung «Prekariat». Da diese Gruppen ganz unterschiedliche Bedürfnisse haben, müssen wir einen grossen Spagat machen.

Wie denn?

Levrat: Für die Menschen mit tieferen Einkommen steht die Lohnfrage im Vordergrund, und die Bezüger höherer Einkommen streben nach höherer Lebensqualität. Bei einer Tochtergesellschaft der Swisscom haben wir uns beispielsweise erfolgreich um die Telearbeit für Informatiker bemüht, die nun einen Teil ihrer Arbeit ausserhalb des Büros erledigen können.

Steht Ihrer Akzeptanz bei besser qualifizierten Arbeitnehmern nicht auch Ihr übergeordnetes politisches Engagement gegen Liberalisierungen und die Globalisierung im Weg?

Gentil: Nein, man muss hier ganz klar trennen zwischen dem gewerkschaftlichen Engagement, das sich auf die Arbeitsverhältnisse unserer Mitglieder bezieht, und politischen sowie gesellschaftlichen Grundwerten, die wir vertreten. Wir sind der Überzeugung, dass blosser Korporatismus, also Gewerkschaftsarbeit, die sich nur auf einzelne Paragrafen eines Gesamtarbeitsvertrags konzentriert, nicht mehr ausreicht. Unsere Mitglieder erwarten von uns auch Lösungsvorschläge zu allgemeinen Problemen wie zur Verkehrspolitik oder zur Zukunft der Pensionskassen.

Streik als Ultima Ratio

Ihre beiden Gewerkschaften sind im vergangenen Jahr kämpferisch aufgetreten: Der SEV äusserte im Zuge der Verhandlungen um einen neuen SBB-GAV Warnstreik-Drohungen, die GeKo lancierte wegen der Reorganisation der Poststellen «Montagsdemonstrationen». Laufen Sie nicht Gefahr, mit Ihrem überzogenen Auftreten Ihre Basis zu verunsichern und Ihr Image aufs Spiel zu setzen?

Gentil: 2006 war diesbezüglich eine Ausnahmesituation; die SBB haben hart verhandelt, so dass wir gezwungen waren, unter anderen auch auf dieses gewerkschaftliche Druckmittel zurückzugreifen. Im Übrigen beweisen wir als Partner des Contrat social seit Jahren, dass wir bereit sind, den Wandel bei den SBB konstruktiv zu begleiten, solange diese ihrerseits uns mit ihren Anliegen nicht überfahren.

Levrat: Ich habe da kein schlechtes Gewissen. Wir haben bis anhin das letzte Mal zu Wort und Option Streik gegriffen, als es um die Reorganisation der Paketzentren ging. Das war eine Reaktion auf die harte Linie, welche die Post damals verfolgte. Mit der Swisscom zum Beispiel pflegen wir einen konstruktiven Verhandlungs- und Umgangston. Ich bin aber überzeugt, dass uns die Öffentlichkeit versteht, wenn wir Kampfmassnahmen argumentativ und konkret weiterhin nur als Ultima Ratio einsetzen. Das diesbezügliche Verständnis ist in der Romandie aber wohl etwas grösser als in der Deutschschweiz.

Interview: P. S. / nn.

Vorbemerkung und Einfügungen in eckigen Klammern: Gewerkschaftsforum Hannover

Kontakt: gewerkschaftsforum-H@web.de


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