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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Melbourne 1990: Direkte Aktion im Nahverkehr Ein Einblick in den australischen Straßenbahner-Streik Seit März wird bei der BVG (Berliner Verkehrsbetriebe) gestreikt. Der Grund ist, dass die Gewerkschaft ver.di höhere Löhne für die rund 12.000 Beschäftigten der BVG und deren Tochtergesellschaft Berlin Transport (BT) fordert. Anfangs wurde die BVG voll bestreikt, um mit ausfallenden U-Bahnen, Straßenbahnen und Bussen Druck auf die Arbeitgeber auszuüben. Problematisch war nur, dass die BVG eine Gesellschaft öffentlichen Rechts ist und von staatlicher Seite stark subventioniert wird. Und da stillstehende Züge für die BVG keine Kosten bedeuten, sie selbst die Löhne und der Senat die Subventionen spart, kann solch ein Streik in aller Ruhe ausgesessen werden. Ver.di befindet sich deswegen in einem Dilemma, was die Frage nach einer effektiven Strategie betrifft. Eine ähnliche Situation erlebten die Straßenbahner in Melbourne 1990. Die Regierung wollte den Nahverkehrsbetrieb an die Metropolitan Melbourne Puplic Transport Authority (MET) verkaufen. Im Zuge der Privatisierung sollten Arbeitsplätze abgebaut werden. Ein neues Fahrkartensystem mit Ticket-Automaten und öffentlichen Ticketverkaufsstellen (MET-Shops) sollte für Stellenabbau sorgen. Aber anstatt die Züge zu blockieren ließen die ArbeiterInnen sie rollen. Unentgeltlich für die Fahrgäste. Somit produzierten die Bahnen Kosten, nahmen aber nichts ein – und der Druck auf die Stadtverwaltung wuchs. Anarchos bei der Bahn Seit Mitte der 1980er Jahre arbeitete eine kleine Gruppe von AnarchistInnen in den öffentlichen Melbourner Verkehrsbetrieben. 1985 brachten sie ein Flugblatt mit dem Titel „Stopping all Stations“ heraus. Im Mai 1986 wurde es zu einer kleinen Zeitung namens „Sparks“ ausgeweitet, die von der Anarcho-Syndicalist Federation (ASF) für die ArbeiterInnen in den öffentlichen Verkehrsmitteln herausgegeben wurde. Sparks wurde zu einem Sprachrohr der ArbeiterInnen. Die Zeitschrift empfahl die direkte Demokratie und den Anarchosyndikalismus und sprach mit einer Auflage von 5.000 eine beträchtliche Leserschaft an. Die Zeitung erreichte mehr Glaubwürdigkeit als die Zeitschriften der öffentlichen Gewerkschaften. Am deutlichsten wurde der Einfluss der AnarchosyndikalistInnen dann bei den Besetzungen der Straßenbahnen 1990. Die ArbeiterInnen besetzten die Bahnstationen und boten die Fahrten für lau an. Die Vorgeschichte Im August 1988 fand ein Protestmarsch gegen die Eröffnung des MET-Shops (Verkaufsstelle im Besitz der Metropolitan Melbourne Public Transport Authority, ein Teil der Public Transport Corporation) in der South Melbourner Straßenbahnstation statt. Der MET-Shop wurde personell durch Nicht-Mitglieder der ATMOEA (1) besetzt, die „Scratch-Tickets“(2) verkauften. Ziel der Regierung war es, Einsparungen am Nahverkehrsbetrieb vorzunehmen. Die Umstrukturierungspolitik der Regierung beinhaltete zunächst die Entlassung von ZugführerInnen und SchaffnerInnen, später dann von EisenbahnerInnen. Während die ArbeiterInnen protestierten, fand in der Gewerkschaftsführung ein Wechsel statt. Der Generalsekretär Harper wurde von Lou Di Gregorio abgelöst. Das Team um Lou Di Gregorio führte erste ZugführerInnen-Treffen ein, Aktionen wurden geplant und durchgeführt. So zum Beispiel der Versuch, das Amt der Public Transport Corporation zu besetzen, oder die Störung der nationalen ALP-Konferenz (3). In einigen Stationen wie Essendon und Brunswick agierten die ArbeiterInnen auf eigene Faust und legten ihre Arbeit ohne Vorankündigung nieder. Die MET musste auf Leiharbeiter zurückgreifen, die eine äußerst schlampige Arbeit verrichteten. Die MET reagierte darauf mit folgender Auflage für die ArbeiterInnen: „Sie sind aufgefordert, dafür zu unterschreiben, dass sie während ihrer Schicht wie befohlen gearbeitet haben.“ Nur zwei Eisenbahner in Brunswick beugten sich der Bürokratie und unterzeichneten den neuen Vertrag mit den neuen Auflagen. Die anderen ArbeiterInnen wurden in ihrer Meinung gefestigt, dass ab jetzt „drastischere Methoden“ notwendig waren, um die Regierung und die MET wieder zur Besinnung zu bringen. Direkte Aktionen waren die Antwort auf die MET-Pläne. Gratisfahrten durch Melbourne Am Montag, dem ersten 1. Januar 1990, wurden die Stationen Brunswick, Essendon, Kew, North Fitzroy, Preston, und South Melbourne besetzt. In Brunswick hängten die ArbeiterInnen ein Banner auf mit der Aufschrift: „Diese Station ist unter Kontrolle der ArbeiterInnen“. Für die MET geriet der Streik außer Kontrolle. Die Bahn-ArbeiterInnen organisierten sich und verabschiedeten folgende Resolution: „Wir, die Mitglieder von Brunswick, sind gegen die Entscheidung der Regierung, das System und den Öffentlichen Verkehr herunterzufahren und Einsparungen an den ArbeiterInnen vorzunehmen. Wir fügen hinzu, dass auch im Falle der Umstände, unter denen eine Wiederaufnahme des Dienstes möglich wäre, wir nur unter der Bedingung unsere Arbeit wieder aufnehmen, dass die Regierung einverstanden ist, dass die Zugführer für immer auf allen Strecken eingestellt bleiben. Wir lehnen jede Vorstellung eines Kompromisses zu diesen Themen ab. Wir erklären, dass unsere Besetzung von Brunswick fortgesetzt wird, bis unsere Forderungen erfüllt sind.“ Die StraßenbahnerInnen erfuhren viel Solidarität und materielle Unterstützung. Der Versuch der Regierung, die ArbeiterInnen wieder an ihre Arbeit zu bringen, scheiterte. Irgendwann ließen die Streikenden den Betrieb dann doch wieder aufleben. Nur nicht so, wie die MET es geplant hatte. Weil das bloße Stilllegen des Verkehrsnetzes der Stadtverwaltung und der MET keinen Cent gekostet hätten, weil stehende Züge nichts kosten und sie sogar noch an den Lohnkosten und Energie gespart hätten, ließen die StraßenbahnerInnen von Brunswick die Züge wieder rollen. Im Zuge der Arbeitsaufnahme boten sie den Fahrgästen die kostenlose Mitfahrt an. Diese bedankten sich mit Spenden. Insgesamt kamen über 4.000 Dollar zusammen, zuzüglich der Nahrungsmittel, und sogar Nahrung für die Haustiere der Streikenden. So konnte erstens der Druck auf die Stadtverwaltung erhöht werden und zweitens konnte der Streik durch die Spenden länger durchgehalten werden. Das Ende eines großen Streiks Das Ende des Streiks wurde durch ein geheimes Treffen zwischen ALPlern und dem Präsidenten von ATMOEA eingeleitet. Den Verrat durch die Gewerkschaftsführung an den ArbeiterInnen besiegelte ein Deal, der drei Tage zuvor von den ArbeiterInnen abgelehnt worden war. Nun aber wurde er vom Gewerkschaftsvorsitzenden Di Gregorio unterzeichnet; dieser rief die ArbeiterInnen zur Arbeitsaufnahme auf. Vor allem die ArbeiterInnen in Brunswick widersetzten sich. Ihnen wurden die finanziellen Mittel durch die Gewerkschaftsbosse entzogen, was sich demoralisierend auf die Streikenden auswirkte. Hinzu kam, dass die Regierung, getroffen von den Kosten durch die Gratisfahrten, gewaltsam in den Protest eingriff. Mit einem massiven Polizeiaufgebot wurden die Straßenbahnen stillgelegt. Macht und Mittel Die StraßenbahnerInnen von Melbourne haben mit ihrem Streik ein deutliches Zeichen gesetzt. Sie zeigten, was direkte Aktion bedeutet, indem sie einfach nur das gemacht haben, was sie sonst auch gemacht haben. Sie nutzten die Mittel, die ihnen zur Verfügung standen, um ihre Ziele zu erreichen. Der bloße Streik und der Stillstand der Züge hätten der MET und der Stadt keinen Cent gekostet. Sie hätte, wie aktuell in Berlin, den Streik seelenruhig aussitzen und abwarten können, bis die Streikkassen leer sind und die Gewerkschaft einlenkt. Stattdessen ließen die ArbeiterInnen die Züge rollen, und zwar kostenlos für die Passagiere. Sie trafen die Bosse dort, wo es ihnen wirklich wehtut: an ihren Bankkonten; so dass diese gezwungen waren, die Bahnen gewaltsam stillzulegen. Der Streik der Melbourner StraßenbahnerInnen war ein Ausdruck für die Macht der arbeitenden Klasse. Sie sind es, die die Mittel, die ihnen nicht gehören, für diejenigen benutzen, denen sie zwar gehören, aber nicht benutzen können. Und die ArbeiterInnen sind es, aus deren Schweiß und Blut diese Welt geschaffen wurde und wodurch sie funktioniert. Der bloße Kapitalist ist nur derjenige der den Besitzanspruch auf die Mittel behauptet, aber letztendlich sind es die ArbeiterInnen, die diese Mittel verwalten und benutzen. Und in ihren Händen werden diese Mittel zu einem gewaltigen Instrument ihrer Macht. Benjamin Simmon, erschienen in Direkte Aktion 187, Mai/Juni 2008 Anmerkungen: (1) Australian Tram and Motor Omnibus Employees Association (2) Öffentliche Verkehrstickets, die an Verkaufsstellen erworben werden können. Ähnlich wie unsere ÖPNV-Tickets. |