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Updated: 18.12.2012 15:51 |
ÜBERSICHT über die Revolten des „Arabischen Frühlings“: Chronologie der wichtigsten Ereignisse, Januar bis Juli 2011 (Stand: 08. Juli 2011) Von Bernard Schmid, Paris, Juli 2011 Vorbemerkung 1: In der folgenden Darstellung wird es, in einer geographischen Bewegung von West nach Ost, nacheinander um Marokko – Mauretanien – Algerien– Tunesien — Libyen – Ägypten – den Sudan – Jordanien – den Libanon – Syrien – den Iraq – Saudi-Arabien – die Golfmonarchien – den Jemen gehen. Nicht unmittelbar auftauchen werden in dieser Aufstellung die (durch Marokko okkupierte und annektierte) Westsahara und die besetzten palästinensischen Gebiete. Nicht, weil dort nichts Nennenswertes passieren würde, sondern weil in der marokkanisch beherrschten Westsahara und im besetzten Palästina die Konflikte um die anhaltende Besatzung derzeit die innergesellschaftlichen Aspekte (Protest gegen politische Unterdrückung, soziale Ungleichverteilung) überlagern. Diese Besatzungskonflikte verdienen eine eigenständige Darstellung und werden an anderer Stelle ausführlich behandelt. Vorbemerkung 2: In der folgenden Darstellung wurde für arabische Eigenname jene Schreibweise gewählt, die der Aussprache im Original am nächsten kommt (und oftmals im englischen Sprachraum benutzt wird, während im deutschen Sprachraum eine falschere „eingedeutschte“ Schreibweise vorherrschend ist). Das arabische Alphabet weist Laute auf, die es im deutschen Alphabet so nicht gibt. Sie können jedoch durch bestimmte Buchstaben oder Buchstabenkombinationen signalisiert werden. So deutet der Buchstabe „q“ einen Laut an, der ungefähr einem tief hinten in der Kehle ausgesprochenen „k“ entspricht. Es ist besser, ihn nicht mit dem einfachen „k“ – das dem entsprechenden Laut in den europäischen Sprachen vergleichbar ist – zu verwechseln: qalbi bedeutet so viel wie „mein Herz“, kalbi jedoch „mein Hund“. Wer Wert darauf legt, unbedingt richtig Ärger zu bekommen (auch eine Erfahrung!), darf ruhig beide miteinander verwechseln. Alle anderen achten lieber ein bisschen auf die Aussprache... Dieser Buchstabe findet sich etwa im Landesnamen des – eingedeutscht „Irak“ geschriebenen – Staates, der im englischsprachigen Raum korrekterweise Iraq transkribiert wird, in Al-Qaida oder in Qatar. Der vor einem Buchstaben stehende Apostroph signalisiert einen Vokal, der hinten in der Kehle ausgesprochen wird, wie in ’Iraq, ’Arafat oder auch in Ben ’Ali. Die Buchstabenkombination „gh“ steht ungefähr für ein stimmlos ausgesprochenes „r“ (wie in „Paris“). In der eingedeutschten Schreibweise wird es oft fälschlich durch ein „g“ ausgetauscht. Dieser Buchstabe findet sich beispielsweise in Baghdad, Ghaza oder in Ghezali. Die Buchstabenkombination „dh“ steht für einen dunklen, ungefähr einem dumpfen englischen „th“ ähnelnden Laut, wie etwa in El-Nahdha („Wiedergeburt“, Name mehrerer islamistischer Parteien). In Marokko hat die Welle der arabischen Revolten im Frühjahr 2011 nicht so explosive Formen wie in Tunesien und Ägypten angenommen. Jedoch ist eine neue außerparlamentarische Opposition entstanden, die alle Aspekte der bestehenden politischen und wirtschaftlichen Ordnung der Kritik unterzieht. Mehrmals im Monat demonstrieren manchmal Zehntausende, manchmal auch 200.000 oder 300.000 Menschen in verschiedenen marokkanischen Städten. Als Reaktion auf die Proteste, d.h. um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat die regierende Monarchie verfassungsrechtliche Reformen in die Wege geleitet. Ähnlich wie in Tunesien gingen der Welle des „Arabischen Frühlings“ von 2011 auch in Marokko aufsehenerregende soziale Bewegungen in jüngerer Vergangenheit voraus. Seit Dezember 1990 existiert etwa die Bewegung der diplômes chômeurs (arbeitslosen Hochschulabgänger/innen), die damals im Zuge der Riots in Fès entstand und im Jahr 1991 die Vereinigung Association nationale desdiplômés chômeurs gründete. Aufgrund der Struktur der marokkanischen Ökonomie ist das Risiko, arbeitslos zu bleiben, bei wachsendem Bildungsniveau steigend und nicht sinkend. Ursächlich dafür ist ein Angebot vor allem an „gering qualifizierten“ Arbeitsplätzen, während die höher qualifizierten Stellen in den Firmen entweder den Abkömmlingen der gesellschaftlichen Oberklassen vorbehalten bleiben oder aber in Europa (besonders Frankreich) angesiedelt sind. Die offizielle Arbeitslosenrate variierte im Jahr 2010 zwischen 9 und 10 Prozent. Doch die Arbeitslosigkeit bei den unter 30jährigen - die meist wesentlich besser ausgebildet sind als die Generation ihrer Eltern - betrug etwa 2008 hingegen 17,6 Prozent. Unter den Hochschulabgängern betrug sie gar 29 Prozent im Jahr 2000, und sank dann (jedenfalls ausweislich der amtlichen Statistiken) auf 20 Prozent acht Jahre später. Dies erfolgte im Zuge einer Bereinigung des Statistiken, aber auch des Aufbaus neuer Wirtschaftszweige, da sich nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise in den USA und Europa manche Banken und Finanzdienstleister in Marokko ansiedelten, um von dort aus Afrika zu durchdringen. Im Juni 2008 kam es zu einer heftigen regionalen Revolte im Fischereihafen Sidi Ifni, in der Nähe von Agadir. (Ausführliches dazu vgl. unter Artikel und dort verlinktes Bildmaterial.) Auf sie reagierte der Staatsapparat mit brachialer Repression. Nach dem Ausbruch der Revolte in Tunesien, im Dezember 2010, begann sie alsbald auch Sympathien in Marokko zu wecken. In dem Staat an der Nordwestflanke Afrikas wurden in der ersten Januarwoche mehrere Solidaritätskundgebungen für die tunesische Jugend, welche in Rabat und Casablanca geplant waren, vorsorglich verboten. Am 20. Februar waren jedoch erstmals in zahlreichen Städten gleichzeitig Demonstrationen abgehalten, denen weitere Protestzüge, Kundgebungen und Sit-ins am 26. und 27. Februar folgten. Die Spannbreite der Forderungen reichte dabei von sozialen Anliegen bis zur Einführung einer Demokratie, entweder - für die radikaleren Kräfte - durch Abschaffung der bestehenden autoritären Monarchie oder aber durch ihren Übergang zu einer konstitutionellen oder parlamentarischen Form der Monarchie. Auch die Opposition gegen die Folter war ein Thema. Letztere war seit dem Wechsel auf dem marokkanischen Thron – im Juli 1999 verstarb der langjährige despotische Monarch Hassan II., und sein als liberaler geltender Sohn Mohammed VI. wurde sein Nachfolger – zunächst zurückgedrängt worden, hatte aber in jüngerer Zeit erneut zugenommen. Seither hat sich die außerparlamentarische Protestbewegung unter dem Namen mouvement du 20 février („Bewegung des 20. Februar“), unter welche sie über eigene Koordinationsgremien auf der Ebene der einzelnen Städte verfügt, zur mit Abstand wichtigsten Oppositionskraft im Land entwickelt. An politischen Kräften findet die außerparlamentarische Opposition vor allem bei mehreren linken Kräften Unterstützung. Unter ihnen der linkssozialistische Parti Socialiste Unifié (PSU, „Vereinigte sozialistische Partei“), die durch Ex-Maoisten gegründete Vereinigung An-Nahj Ad-dimocrati („Demokratischer Weg“) oder die kleinere trotzkistische Gruppe Al-Mounadhil-a (ungefähr: „Aktivist-in“). Parallel dazu findet die Protestbewegung auch Unterstützung bei Anhänger/innen islamistischer Kräfte, die jedoch nicht in die Koordinationsstrukturen der „Bewegung des 20. Februar“ integriert sind, sondern auf eigener Basis zu den Protesten mobilisieren. Besonders jene der charismatisch-messianischen, gewaltlosen Bewegung Al- ’Adl wa-l Ihsane (sehr vergröbert übersetzt: „Gerechtigkeit und gute Taten“), die auch als „Adlisten“ bezeichnet werden. Al-’Adl wurde im Jahr 1973 durch den heute greisen „Scheikh“ Abdessalam Yassine gegründet und wird heute vorwiegend durch seine Tochter Nadia geleitet. Die Vereinigung ist nicht legal zugelassen, sondern wird durch die Behörden lediglich toleriert. Sie tritt für eine Abschaffung der Monarchie und eine parlamentarische Republik ein, wobei sie sich gegen Vorwürfe wehrt, sie strebe in Wirklichkeit eine islamische Republik ein; Nadia Yassine jedenfalls erklärt: „Wir streben keinen islamischen Staat, sondern einen zivilen Staat an.“ Im Gegensatz zur Al-’Adl verfolgt die mit Abstand stärkste islamistische Organisation Marokkos, der Parti de la justice et du développement (PDJ, „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) – die zweit- oder drittstärkste politische Partei des Landes, seit den Parlamentswahlen vom September 2007 verfügt der PJD jedenfalls über die zweitstärkste Parlamentsfraktion – eine ausgesprochen staatstragende Strategie. Sie blieb den Demonstrationen fern, auch wenn dies zu Spannungen im Inneren der Partei und zum Austritt von Mitgliedern führte. Auch drei Spitzenfunktionäre kehrten der Partei vorübergehend den Rücken, die Vorstandsmitglieder Mustapha Ramid, Lahbib Choubani und Abdelali Hamidine. Doch am 04. April d.J. nahmen sie ihre Austrittserklärung zurück. Mustapha Ramid – der Rechtsanwalt war auch Vorsitzender der Parlamentsfraktion des PJD – hatte bereits im Juni 2010 „aus politischen Gründen“ seinen Austritt erklärt und später wieder zurückgenommen. Zum Dritten finden sich in der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung auch aktive Mitglieder von Menschenrechtsvereinigungen, vor allem der AMDH (Association marocaine des droits humains) sowie von sozialen Oppositionskräften wie der o.g. Bewegung der diplômes chômeurs. Seitens der Gewerkschaften erfährt die „Bewegung des 20. Februar“ zum Teil ebenfalls Unterstützung (vgl. unser Kapitel über Soziale Kämpfe & Gewerkschaften), ebenso wie durch die Vereinigung ATTAC Marokko und andere zivilgesesellschaftliche Organisationen. Vor allem in der Anfangsphase kam es zu teilweise heftigen Zusammenstößen mit den staatlichen Sicherheitskräften. In Al-Hoceima, einer Bezirkshauptstadt im Berbergebiet des Rif-Gebirges – einer durch den Zentralstaat vernachlässigten Region, kam es am 20. Februar zu Auseinandersetzungen mit brennenden Autos und öffentlichen Gebäuden sowie fünf Toten. Am letzten Wochenende im Februar wurden unter anderem im südmarokkanischen Agadir zahlreiche Protestierende sowie ein Mitglied einer französischen Solidaritätsvereinigung festgenommen. Im Laufe der darauffolgenden Monate, während derer alle zwei bis drei Woche größere Demonstrationen in Metropolen wie Casablanca und Rabat, aber auch in mittleren und kleineren Städten stattfanden, veränderte sich jedoch das Muster der Repression. Nicht mehr im Staatsdienst stehende Uniformträger, sondern – mutmaßlich bezahlte - Schläger oder eigens aus den Haftanstalten entlassene „gewöhnliche“ Kriminelle werden gegen die Protestierenden losgelassen. Vor allem im Mai und Juni 2011 kam es zu mehreren Zwischenfällen mit solchen Schlägertypen. Diese werden durch die Aktiven unter Benutzung des ägyptischen Begriffs (zur Bezeichnung jener Horden, die in Kairo Anfang Februar 2011 vom Mubarak-Regime mit Äxten und Dromedaren gegen die Demonstranten mobilisiert worden waren) als baltagija oder „Beilträger“ bezeichnet. Mehrfach wurden prominente Protest-Aktivist/inn/en wie Samira Kinani auf der Straße oder auch in ihren Wohnvierteln angegriffen. Am 09. März 2011 hatte König Mohammed VI. als Reaktion auf die Proteste eine Überarbeitung der marokkanischen Verfassung angekündigt. Diese sollte jedoch nicht durch einen demokratischen Prozess stattfinden, sondern durch die Arbeit einer aus Juristen und Beratern des Palasts bestehenden „Expertenkommission“. Die Ergebnisse wurden in einer Ansprache des Monarchen vom 17. Juni d.J. präsentiert. Statt der bisherigen Verfassungsvorschriften (von 1996), die dem König zwar einen aus der parlamentarischen Mehrheit hervorgehenden Premierminister zur Seite stellten, aber dessen Vollmachten nicht genau definierten, wird nunmehr die Aufgabenstellung des Regierungschefs bestimmt. Allerdings wird gleichzeitig die Machtfülle des Königs nicht wirklich eingeschränkt. Er bleibt ferner Emir al-muminiin („Befehlshaber der Gläubiger“), also religiöses Oberhaupt des marokkanischen Armee, und Oberbefehlshaber der Armee, zudem leitet er weiterhin die Kabinettssitzungen und legt die Tagesordnung der dort geführten Debatten fest. Nunmehr wird auch die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Geltung internationaler Konventionen – etwa zur Einhaltung der Menschenrechte – durch die Verfassung proklamiert. An anderen Stellen des Textes werden sie jedoch, durch die Unterordnung bzw. Bindung nationaler und internationaler Vorschriften an religiöse Normen, konterkariert. Der Islam bleibt Staatsreligion, doch wird die „Freiheit der Religionsausübung für alle“ garantiert. Die durch progressive Oppositionelle geforderte „Glaubens- und Gewissensfreiheit“, die auch die Religionslosigkeit eingeschlossen hätte, wurde hingegen aus dem Text gestrichen – ein Zugeständnis an die staatstragende islamistische Partei PJD, die daraufhin aktiv in die Kampagne für die Annahme des Textes einstieg. Der neue Verfassungstext ist reich an Widersprüchen. Unter den marokkanischen Gewerkschaftsvereinigungen rief einer von mehreren Dachverbänden, die CDT (Confédération démocratique du travail), zum Abstimmungsboykott auf. Vgl. dazu folgende flammende Rede einer Kollegin, in denen sie die sozialen und politischen Motive dafür aufzählt, also Alles, was in der „reformerischen“ Verfassung fehlt (siehe bei YouTube ) Am 01. Juli 2011, nach nur zehntägiger Abstimmungskampagne, wurde eine Volksabstimmung zur Annahme der neuen Verfassung durchgeführt. Am Ergebnis bestanden von vornherein geringe Zweifel, da die politischen Kräfte entweder zum „Ja“-Stimmen oder aber (wie die „Bewegung des 20. Februar“) zum Boykott des Referendums aufriefen, kaum jemand jedoch zum „Nein“-Stimmen. Seit 1965 hat die radikale Opposition in Marokko bei allen vom Staat organisierten Urnengängen zum Boykott aufgerufen. Befürchtet wurde seitens der Opposition besonders, dass nach dem Referendum die Repression gegen Regimegegner/innen zunehmen werde. Die Verfassung wurde mit 98,5 % „Ja“-Stimmen angenommen, bei einer Wahlbeteiligung von offiziell 72,5 %, an welch letzterer Oppositionelle jedoch Zweifel anmeldeten. Am 03. Juli fanden erneut große Demonstrationen der außerparlamentarischen Opposition statt, etwa in der Hafenstadt Tanger, in Rabat, Mohammedia oder Casablanca. Auch wenn die Angaben der Opposition („200.000 Teilnehmer/innen in Tanger“, „50.000 in Rabat“) übertrieben sein könnten – die Behörden gaben keinerlei offizielle Zahlen heraus -, so waren doch mindestens Zehntausende von Menschen unterwegs. Erneute Demonstrationen waren für den 09. und 10. Juli 2011 geplant. Ein besonderes politisches Problem stellt in Marokko die (seit 1975) anhaltende Besetzung und Besiedlung der früheren spanischen Kolonie Westsahara dar. Aus Platzgründen wird auf diese Frage, die eigenständige längere Abhandlungen erfordern würde, an dieser Stelle nicht eingegangen. Das mit Abstand größte Land des Maghreb mit rund 36 Millionen Einwohner/inne/n blieb im Laufe des „Arabischen Frühlings“ 2011 an der Oberfläche weitgehend ruhig - verglichen mit seinen Nachbarn Tunesien, Libyen und auch Marokko. Viele Beobachter betrachteten dies zunächst als kurios. Die scheinbare Ruhe täuscht zwar, da zahllose soziale Proteste sich immer wieder auf unkoordinierte, und mitunter unartikulierte, Weise Ausdruck verschaffen und sich spontan Bahn brechen. Doch kam es insgesamt - parallel zu den Ereignissen in Tunesien oder (in anderer Form) Marokko - zu keinem zentralen, sichtbaren, verschiedene Segmente der Gesellschaft übergreifenden Protest. Jedenfalls wiesen Demonstrationen für explizite Forderungen nach politischer Veränderung nur geringe Teilnehmerzahlen auf. Als Tunesien zu Anfang des Jahres 2011 auf den Sturz von Präsident Ben ’Ali zusteuerte, kam es auch in Algerien zu Versuchen, die Solidarität zu organisieren. So rief die unabhängige Gewerkschaft der Staatsbediensteten SNAPAP für den 06. Januar zu Solidaritätskundgebungen für Tunesien auf. Diese Initiative ging jedoch quasi unter, denn sie wurde spontan durch die Wucht einer Rebellion der algerischen Jugend überrollt. Seit dem 04. Januar 2011 brannte es zunächst in einem ärmeren Stadtteil der Hauptstadt Algier – Bab el-Oued -, dann auch in der westalgerischen Metropole Oran und in mehreren Städten im Nordosten des Landes. In den Tagen vom 06. bis 09. Januar waren fünf Todesopfer infolge von Zusammenstößen mit der Polizei zu beklagen, in den Städten Msila, Annaba, Boumerdès und Tipaza. Darüber hinaus gab es rund 800 Verletzte. 1.100 Personen wurden infolge von „Randalierens“ und Plünderungen festgenommen. Vielerorts wurden Symbole des Staates, darunter auch insgesamt 40 Schulen, angegriffen und zum Teil beschädigt oder verwüstet. Den auslösenden Funken in Algerien bildete die starke Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel, besonders Speiseöl und Zucker. Sie war u.a. auf internationale Preisschwankungen infolge von Spekulationen und auf die starke Importabhängigkeit Algeriens bei fast allen Gütern – mit Ausnahme seiner beiden Devisenbringer Erdöl und Gas – zurückzuführen. Aufgrund der Proteste beschloss die algerische Regierung am 09. Januar 2011, die Importsteuern und Abgabe auf die betroffenen Grundbedarfsgüter um 41 Prozent zu senken, in der Hoffnung, so zur Senkung der Preise zu führen. Daraufhin flaute die Revolte tatsächlich ab. In Algerien schafft sich sozialer Protest seit Jahren, genauer seit über einem Jahrzehnt, überwiegend durch ständige örtliche émeutes (Unruhen, Riots) Luft. Im Jahr 2010 wurden ihrer, je nach Angaben, 9.000 respektive 11.500 im ganzen Land gezählt; das bedeutet: annähernd dreißig respektive über dreißig pro Tag. Diese meist lokalen Revolten haben mal die Verteilung von Zugangsberechtigungen zu Sozialwohnungen in einer Kommune - infolge derer die Nichtberücksichtigten Vorwürfe von „Vetternwirtschaft“ erheben -, mal Engpässe bei der Trinkwasserversorgung, mal die Misere von Arbeitslosen zum Auslöser. Jedoch bleiben die Ausbrüche, denen als Reaktion der staatlichen Behörden meist eine Mixtur von Zugeständnissen und Verhaftungen folgt, meist ohne politische Perspektive und ohne längerfristige Auswirkungen. Sie erlauben, neben einer punktuellen Verbesserung der materiellen Versorgungslage, auch eine „Entladung“ aufgestauter Frustrationen und Energien. Insofern besitzt das bestehende politische System jedoch in gewisser Weise auch ein „Ventil“, im Unterschied zur politisch „keimfreien“ Diktatur in Tunesien, wo der aufgestaute Protest sich deswegen am Ende umso energievoller entlud und extrem breite Kreise zog. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft in Algerien durch den blutigen Bürgerkrieg der 1990er Jahre zwischen Staatsmacht und radikalen Islamisten - und die bittere Enttäuschung in Teilen der Unterklasse gegenüber diesen früheren, vermeintlichen Hoffnungsträgern - vorläufig eher skeptisch, resigniert und pessimistisch geworden ist. Nur wenige Menschen glauben an politische, kollektive Lösungsversprechen. Und ferner hat ein Teil der früheren Aktivistenbasis der Islamischen Rettungsfront FIS (Front islamique du salut, oder al-djabha al-islamiya lil-inqad) inzwischen ein Auskommen dank dem informellen Sektor, also der Schmuggel- und Bazarökonomie, außerhalb des „regulären Arbeitsmarkts“ gefunden. Dieser parasitäre Wirtschaftssektor, der im Kern davon lebt, die Warenüberschüsse aus Europa oder Ostasien (zu Lasten der heimischen Produktion) auf den Absatzmärkten in Nordafrika zu verteilen, verschaffte vielen früher gegen den „atheistischen und sozialistischen Staat“ kämpfenden Islamisten ein wirtschaftliches Auskommen. Dabei handelt es sich allerdings um eine spezifisch algerische Konstellation, während etwa die ägyptischen Islamisten eine starke Verankerung in traditionellen Eliteschichten aufweisen. Ferner hat die algerische Staatsmacht, die seit dem vorübergehend sehr hohen Weltmarktpreis für Rohöl in den Jahren 2007/08 auf prall gefüllten Devisenreserven sitzt - über 150 Milliarden Dollar (Stand: September 2010) -, durch Ausschütten von finanziellen Mitteln den „sozialen Frieden“ zu erkaufen versucht. Anfang Mai 2011 wurde ein zusätzliches Haushaltsgesetz für das laufende Jahr verabschiedet, das eine Erhöhung der ursprünglich vorgesehenen um 25 Prozent - oder um 1.657 Milliarden Dinar (23,8 Milliarden Dollar) - vorsieht, um die seit Jahresanfang durch Präsident ’Abdel’aziz Boutefliqa (Bouteflika) abgegebenen Versprechungen und Ankündigungen finanzieren zu können. Dazu zählen etwa 897 Milliarden Dinar zusätzlich für den Bau von - dringend benötigten - Wohnungen, 67 Milliarden Dinar für Infrastrukturarbeiten (besonders im Schienennetz), 178 Milliarden für Subventionen auf Grundbedarfs-Nahrungsmittel... Als Reaktion auf die Umbrüche im Nachbarland Tunesien regten sich auch in Algerien Versuche, politischen Protest „von unten“ zu formulieren. Als erste politische Kraft sprang die vor allem durch Angehörige der berbersprachigen Minderheit und französischsprachige - den modernisierten, gut ausgebildeten Mittelklassen angehörende - getragene Partei RCD („Sammlung für Kultur und Demokratie“, mit dem mittleren Wort sind die Kultur und Spreche der Berberbevölkerung angesprochen) auf den Zug auf. Am 22. Januar 2011 versuchte die Partei, von ihrem Sitz im Zentrum von Algier aus eine Demonstration zu organisieren, doch selbiger wurde von in riesiger Überzahl befindlichen Polizeikräften umstellt. Der Versuch, zu demonstrieren, wurde im Keim erstickt. An mehreren darauffolgenden Samstagen - am 12. Februar, 19. Februar und am 26. Februar, sowie erneut am 19. März und am 02. April 2011 - sammelten sich jeweils mehrere hundert bis zu (auf dem Höhepunkt der Mobilisierung im Februar) maximal 2.000 Personen im Zentrum von Algier. Mehrfach wurden Versuche, zu demonstrieren, durch eine deutliche Überzahl von Polizisten unterbunden. Im ersten Anlauf war es in der Nähe der Place des Martyrs noch gelungen, für einen kurzen Augenblick die Polizeiketten zu durchbrechen und für wenige Minuten einen kleinen Protestzug zu bilden. Spätere Demonstrationszüge konnten jedoch nicht mehr stattfinden. Parallel dazu ließ Präsident Boutefliqa jedoch gleichzeitig, um seinen „Reformwillen“ unter Beweis zu stellen, den seit dem Ausbruch des damaligen Bürgerkriegs 1992 ununterbrochen geltenden Ausnahmezustand aufheben. Er wurde am 24. Februar 2011 beendet. Bis dahin hatte die Fortgeltung des Ausnahmezustands weit über das Ende des Bürgerkriegs (1999) hinaus dazu gedient, Demonstrationen in der Hauptstadt zu untersagen. Die Demonstrationsversuche wurden durch eine Coordination nationale pour le changement et la démocratie (CNCD, „Nationale Koalition für Veränderung und Demokratie“) getragen, die jedoch schon bei ihrer dritten Demonstration am 26. Februar in zwei politisch widerstrebende Hälften gespalten war. Auf der einen Seite standen eher liberale und nach politischer „Modernisierung“ strebende Kräfte wie das RCD, die o.g. Partei von Said Saadi, denen auf der anderen Seite stärker soziale Forderungen in den Vordergrund stellende Akteure - wie eine Koordination von Arbeitslosen mit Hochschulabschluss - gegenüber standen. Die (auch in wirtschaftlichen Belangen) liberale Ausrichtung des RCD, der der bestehenden Staatsmacht im Ökonomiebereich eher „zu viel Einmischung“ vorwirft und tendenziell eine „Öffnung“ der Märkte befürworten würde, führt bei anderen Akteuren zu Befürchtungen vor katastrophalen sozialen Konsequenzen. Eine unkontrollierte wirtschaftliche „Öffnung“ in einem Land mit relativ geringer Industrieproduktivität, das weitgehend vom Exporte zweier Rohstoffe (Erdöl und -gas) abhängig ist, müsste tatsächlich zu weitreichenden ökonomischen Zerstörungen führen. Die algerische Elite hat, seitdem der Rohölpreis auf den Weltmärkten 2007/08 hoch war und dem Staat neue finanzielle Spielräume verschaffte, eine gewisse Abkehr von der zuvor proklamierten totalen „Öffnungspolitik“ zugunsten eines wirtschaftlichen Protektionismus vollzogen. Eine politisch liberale und zugleich auf sozio-ökonomischer Ebene eher „antisoziale“ Politik, wie die Oppositionspartei RCD sie zu propagieren schien, dürfte kaum zur Einigung und Bündelung aller gesellschaftlichen Oppositionskräfte geeignet gewesen sein. Das französisch-panafrikanische Wochenmagazin Jeune Afrique titelte am 03. Juli 2011, zwei Tage vor dem 49. Jahrestag der Unabhängigkeit Algeriens: „Die algerische Ausnahme.“ Damit spielte es auf das weitgehende Ausbleiben strukturierten politischen Protests - bei permanentem Fortdauern lokaler Riots - in Algerien sowie die nach wie vor relativ starke Popularität von Präsident Boutefliqa an. Letzterer zehrt noch heute in der öffentlichen Meinung davon, dass seine inzwischen drei Amtsperioden (seit seiner ersten Wahl am 15. April 1999) objektiv mit dem Ende des Bürgerkriegs - für welches er jedoch kaum persönlich verantwortlich war - und dem mehrjährigen Ansteigen der Erdölpreise zusammenfielen. Auch die Demonstranten in den ersten Jahreswochen 2011 riefen vor diesem Hintergrund in der Regel nicht „Boutefliqa, hau ab!“ - wie es seinem tunesischen Amtskollegen Ben ’Ali widerfuhr -, sondern eher den abstrakteren Slogan „System, hau’ ab!“ Doch wie lange es bei der „algerischen Ausnahme“ in diesem Sinne bleibt, muss für die nähere Zukunft abgewartet werden… Mauretanien ist ein wüstenhaftes und ziemlich bevölkerungsarmes Land in Nordwestafrika. Der Staat mit rund drei Millionen Einwohner/inne/n ist in einen arabisch geprägten Norden und einen Süden, der von offiziell so genannten Négro-Mauritaniens – Schwarzen, die mit den Bewohnern des Nachbarlands Senegal verwandt sind – geteilt. Diese Spaltung prägt die Innenpolitik in hohem Maße. De facto existiert vor allem im südlichen Teil des Staatsgebiets zum Teil noch die, 1981 rechtlich abgeschaffte, Sklaverei. Seit einem Militärputsch am 06. August 2008 regierte die Armee unter General Mohamed Ould ’Abdel’aziz das Land. Am 18. Juli 2009 wurde das bis dahin als Übergangspräsident regierende Staatsoberhaupt, Mohamed Ould ’Abeld’aziz, durch eine Präsidentschaftswahl im Amt bestätigt. Ihre Ergebnisse sind im Einzelnen sehr umstritten, doch der Wahlausgang wurde durch die so genannten „internationale Gemeinschaft“ bestätigt. Vor allem die Ex-Kolonialmacht Frankreich unter Nicolas hatte sich zuvor für eine Anerkennung der Regierung stark gemacht. Unter dem Eindruck der Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ kam auch in Mauretanien ein Teil der Gesellschaft und vor allem der Jugend vorübergehend in Bewegung. Am 17. Januar 2011 steckte sich ein 43jähriger Geschäftsmann, Yacoub Ould Dahoud, in der Nähe des Präsidentenpalasts in der Hauptstadt Nouakchott selbst in Brand. Seine Handlung, die mutmaßlich von der Selbstverbrennung des jungen Tunesiers Mohammed Bou’azizi inspiriert war, hatte er wenige Minuten zuvor gegenüber Journalisten angekündigt. Dabei sprach er von seiner „Unzufriedenheit über die politische Situation im Land“ und seiner „Wut auf das amtierende Regime“. Der Schwerverletzte wurde in ein Krankenhaus im Nachbarstaat Marokko transportiert und starb dort, in Casablanca, am 22. Januar. Ungefähr zeitgleich veröffentlichten die drei Gewerkschaftsverbände CGTM, CLTM und CNTM am 19. Januar 2011 eine gemeinsame Erklärung, in welcher sie sich „zutiefst beunruhigt“ über den Verfall der Kaufkraft der Lohnabhängigen sowie der explodierenden Lebensmittelkosten erklären. Sie „warnen“ die Behörden und fordern die abhängig Beschäftigten dazu auf, „wachsam und mobilisiert“ zu bleiben. Am 19. Februar kam es in der Stadt Wassala, in der Nähe der Grenze zu Mali, zu Unruhen gegen zu hohe Nahrungsmittelpreise sowie mangelndes Trinkwasser. Die Demonstration wurde polizeilich unterbunden. Am 25. Februar 2011 war die Jugend über Internet und Facebook zu einer Demonstration in der Hauptstadt Nouakchott aufgerufen worden. Einige hundert junge Demonstranten versammelten sich im Zentrum und riefen „Das Volk will den Abgang des Regimes“, „Ja zu tiefgreifenden Reformen“, „Nein zu Ungerechtigkeit und Vetternwirtschaft“ oder „Wir wollen in Würde leben“. Daraus entstand eine lockere außerparlamentarische Oppositionsbewegung unter dem Namen mouvement de la jeunesse du 25 février (Bewegung der Jugend des 25. Februar)), die erneut am 02. März und am 08. März in Nouakchott demonstrierte. An letzterem Datum kam es dabei zu Unruhen in der Hauptstadt. Seit Tagen hatte die Anti-Aufstands-Polizei die Zugänge zum zentral gelegenen „Platz der roten Blöcke“ abgeriegelt. Die jungen Demonstranten wurden unter Einsatz von Knüppeln und Tränengas zerstreut, und antworteten mittels Steinwürfen. Am 25. März kam es am selben Ort zu einem weiteren Versuch, eine Demonstration zu organisieren, zu welcher in den 48 Stunden zuvor aufgerufen worden war. Die Teilnehmer wurden jedoch durch die Polizei erneut mit Knüppelschlägen und Tränengas verjagt. Dabei wurden mehrere Demonstranten und auch Journalisten verletzt. Am Montag, den 25. April 2011 rief die außerparlamentarische Bewegung zu einem „Tag des Zorns“ auf. Mehrere hundert Demonstranten versammelten sich auf der Avenue Gamal Abdul Nasser in der Hauptstadt Nouakchott, wurden jedoch im Laufe des Nachmittags durch die staatlichen Ordnungskräfte mit Tränengas vertrieben. (Vgl. YouTube ) Mindestens zwanzig Aktivist/inn/en, unter ihnen drei Frauen, sowie einer der Sprecher der „Bewegung des 25. Februar“ – Rabii Ould Idoumou – wurden festgenommen. Ungefähr zeitgleich wurde die Universität von Nouakchott für die Tage vom 23. April bis zum 02. Mai für den Vorlesungsbetrieb geschlossen, doch dies hatte andere Gründe: Am 20. April war es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Studierendengewerkschaften gekommen. Dabei standen sich arabische, eher islamistische Studierende der Union nationale des étudiants mauritaniens (UNEM) und überwiegend schwarze Anhänger des Syndicat national des étudiants de Mauritanie (SNEM) gegenüber. Dabei mussten mehrere Verletzte ins Krankenhaus transportiert werden, und der Sitz der UNEM wurde durch ihr feindselige Studierende angezündet. Ausgelöst worden waren die Zusammenstöße durch Gerüchte über Manipulationen bei einer Studierendenparlamentswahl, an denen die beiden o.g. Verbände sowie die regierungsnahe Studenten„gewerkschaft“ Alliance pour l’unité teilgenommen hatten. Die Behörden beriefen sich darauf, „ethnisierte Konflikte wie in den Jahren 1989/1990 verhindern“ zu wollen, als die Hochschule vorübergehend schlossen. Am 26. April 2011 kam es in der Bergwerkstadt Zouerate, ungefähr 600 Kilometer nördlich von Nouakchott, zu Zusammenstößen zwischen protestierenden Tagelöhnern und der Polizei. Die Protestierenden forderten u.a. ihre Einstellung durch die Bergwerksgesellschaft Société nationale industrielle et minière (SNIM) mit festen Arbeitsverträgen, Lohnerhöhungen und die Einführung einer Sozialversicherung. Von ihrer Seite her wurde den Polizeibehörden vorgeworfen, mit scharfer Munition geschossen zu haben. Die Polizei behauptete, die „Aufrührer“ hätten Plünderungen verübt. Unmittelbar ausgelöst wurde die tunesische demokratische Revolution durch die Selbstverbrennung eines jungen Prekären, Mohammed Bou’azizi, am 17. Dezember 2010 in Sidi Bouzid. Der 26jährige hatte als „illegaler“ Gemüseverkäufer, als Prekärer im „informellen Sektor“ gearbeitet, wie so viele seiner Altersgenossen. Durch seine Verzweiflungstat protestierte er gegen wiederholte polizeiliche Schikanen. Ihr folgte am 23. Dezember 2010 in derselben Stadt der öffentlichen Selbstmord eines weiteren, 24 Jahre jungen Arbeitslosen. Sidi Bouzid (eine Stadt, die theoretisch über einen prosperierenden Landwirtschaftssektor verfügen könnte, doch vier Fünftel des Bodens hatte sich der Ben ’Ali-Clan angeeignet) gehört zu jenen vernachlässigten Zonen des tunesischen Landesinneren, welche das Regime systematisch für die Entwicklung der Küstenstädte „geopfert“ hatte. Die Arbeitslosenquote dort beträgt 46 Prozent, in der jungen Generation wird sie jedoch mit 60 Prozent angegeben. Auf die spektakuläre Verzweiflungstat der beiden jungen Männer folgten – bereits ab dem Wochenende des 18./19. Dezember 2010 – heftige Zusammenstöße zwischen Angehörige des „informellen“ Subproletariats und den staatlichen „Sicherheitskräften“. Die Revolte breitete sich daraufhin auf andere vernachlässigte und strukturell unterentwickelt gehaltene Regionen im Süden und Westens Tunesiens aus. Zu den meisten Toten durch polizeilichen Schusswaffeneinsatz kam es etwa zwischen dem 05. und dem 10. Januar 2011 in Kasserine – einer Stadt in Westtunesien, die noch wesentlich ärmer ist als Sidi Bouzid, da es aufgrund des trockenen Klimas dort nicht einmal die Aussicht auf eine prosperierende Landwirtschaft gibt. Am Wochenende des 25. und 26. Dezember 2010 fanden erstmals Demonstrationen in Tunis statt. Aber zur Massenbewegung wurde die Revolte mit der Wiederaufnahme des Unterrichts an Schulen und Universitäten ab dem 03. Januar 2011, auf die alsbald ein Streik der Schüler/innen und Studierenden folgte. Ab dem 10. Januar wurden Schulen und Hochschulen deswegen auf Anordnung des Regimes hin geschlossen, doch es war zu spät, um die Bewegung noch aufzuhalten. Auf den Freitag, den 14. Januar 2011 war ein Generalstreik angesetzt worden, zu dem der Gewerkschaftsdachverband UGTT aufrief. Es wurde der Tag, an dem Präsident Ben ’Ali floh. Die Revolte des jungen (Sub)proleratiats in Zentraltunesien hatte erstmals in aller Öffentlichkeit en Blick auf die Schattenseiten des tunesischen „Modells“ gelenkt. Zwar wurden breiteste Kreise zum Konsum, zum Kauf von Auto oder Wohnung animiert – mittels günstiger Kredite und kinderleicht zu erhaltender Kreditkarten. Die Kehrseite der Medaille war jedoch, dass zahlreiche Familien hochverschuldet waren und an jenem Monatsende die eiserne Hand der Schuldenzahlungen an der Kehle spürten. Dies war auch eine Art und Weise, sich die Abhängigkeit dieser Milieus zu versichern, deren Zukunft auf Kredit gekauft war. Durch die krisenhafte Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation in Tunesien (Stichworte: Auslaufen des Multifaser-Abkommens im Jahr 2005, mit einer Verschärfung der internationalen Konkurrenz für die Textilindustrie – 200.000 Arbeitsplätze in Tunesien hängen von ihr ab -, und Auswirkungen der Krise in Europa ab 2008 auf die in Tunesien angesiedelten Automobil-Zulieferer) verschlechterte sich die allgemeine Lage noch erheblich. Zwar gibt es daneben auch eine tunesische Bourgeoisie, der eine Reihe von (oft „mittelständischen“) Unternehmen gehören. Und tatsächlich freut sich auch diese heute mehrheitlich über den Abgang Ben ’Alis, da sie musste bislang der mafiösen Überwucherung der Ökonomie des Landes durch die Familienclans von Ben ’Ali und seiner Gattin – Leila Trabelzi – einen beträchtlichen Tribut zollen. Die beiden Clans, die in direktem Kontakt mit Importeuren und ausländischen Investoren standen und Monopolstellungen einnahmen, verlangten von einheimischen Unternehmern oft eine Beteiligung an ihren Firmen. Zu diesen trugen die mafiösen Seilschaften jedoch nichts bei, sondern kassierten nur ab. Der Wirtschaftswissenschaftler El-Mouhoub Mouhoud glaubte deswegen im Januar 2011, dass durch das Ende der aufgezwungenen Racketpraktiken auch unter kapitalistischen Bedingungen nunmehr bessere Wachstumsperspektiven herrschen. Wesentlich weniger erfreut als Teile der einheimischen Bourgeoisie war unterdessen das internationale Kapital, das seine Geschäfte und Investitionen bislang in direktem Kontakt mit der regierenden Quasi-Mafia tätigte. Orange (alias die französische Telekom) etwa unterhielt ein Tochterunternehmen in Tunesien, Orange Tunisie. Dieses gehörte zu 49 % der französischen Firma, und zu 51 % einem führenden Mitglied der Mafia: Marwan Mabrouk, einem Schwiegersohn von Präsident Ben ’Ali. – Sechs Monate darauf ist allerdings Mouhoud positive Erwartung bislang so nicht eingetroffen. Durch den Abzug von Investitionen aus Tunesien etwa in Richtung Marokko oder die Investitionszurückhaltung auch von Teilen der einheimischen Bourgeoisie, die über „das Chaos“ empört ist, befindet sich die tunesische Ökonomie am Ende des ersten Halbjahres 2011 auf einer Talfahrt. Das Wirtschaftswachstum in diesem Zeitraum betrug -7,4 % und fiel dadurch negativ aus. Teile der Bourgeoisie sind offenkundig entschlossen, die tunesische Bevölkerung für die Revolution, vor allem für die danach vielfach ausgebrochenen, örtlichen sozialen Kämpfe „bezahlen“ zu lassen. Die weitaus geringer gewordenen Besucherzahlen im Tourismus während des ersten Halbjahrs trugen dazu ebenfalls bei. Auf politischer Ebene hatten die provisorischen Regierungen Tunesiens, die am 17. Januar und dann (nach Trennung von zahlreichen alten Ministern Ben ’Alis) neu am 27. Januar 2011 formiert worden waren, zunächst erhebliche Mühe, sich zu stabilisieren. So waren sie mit massiven Proteste, konfrontiert, etwa der Hunderttausende Menschen umfassenden Demonstrationen vom 20. Februar 2011 für den Rauswurf der früheren Kader des Ben ’Ali-Regimes aus der Übergangsregierung. Zu ihnen zählte nicht zuletzt auch der nach wie vor amtierende Premierminister, Mohamed Ghannouchi, der diese Funktion bereits seit November 1999 ununterbrochen bekleidete. Am 27. Februar konnte sich der „Druck der Straße“ jedoch durchsetzen, und der allzu „belastetete“ Premierminister Ghannouchi wurde durch den 84jährigen Béji Caïd Essebsi („BJE“) ausgetauscht. Auch Essebsi war zwar früher in repressiven Staatsfunktionen – etwa als Innenminister (1965 bis 69) – tätig und damals in Menschenrechtsverletzungen verwickelt gewesen, allerdings nicht unter Präsident Ben’Ali sondern unter dessen historischem Amtsvorgänger Habib Bourguiba (Präsident von der Unabhängigkeit 1956 bis 1987). Bourguiba regierte zwar unbestreitbar autoritär, genießt jedoch als „Vater der Unabhängigkeit“ – und vor allem als derjenige, der in den Augen vieler Tunesier „den Staat und moderne öffentliche Dienstleistungen aufbaute, während Ben ’Ali nur davon zehrte und sie zerstörte“ – heute im Nachhinein ein vergleichsweise positives Image. Ursprünglich sollte die Übergangsregierung bis zu Wahlen für eine Verfassungsgebende Versammlung, die gleichzeitig als Parlament arbeiten und einen neuen politisch-juristischen Grundlagentext annehmen soll, am 24. Juli im Amt bleiben. Mit Unterstützung vieler politischer Kräfte, die für solche Wahlen noch ungenügend vorbereitet waren, wurden sie jedoch nun auf den 23. Oktober 2011 verschoben. Unterdessen finden auf örtlicher Ebene zahlreiche soziale Auseinandersetzungen (vor allem für die Entmachtung unter dem alten Regime diskreditierter, als korrupt geltender Direktoren) statt, während die tunesische Bevölkerung sich jedoch zunehmend über die Verdüsterung der wirtschaftlichen Lage besorgt zeigt. Libyen, mit nur rund sechs Millionen Staatsbürger/inne/n ein ebenso bevölkerungsarmer wie rohstoffreicher Erdölstaat, schien bis dahin unverrückbar durch einen einzigen Mann politisch repräsentiert zu werden: den seit dem 01. September 1969 pausenlos das Land „führenden“ Oberst Mu’ammar al-Qadhafi (eingedeutscht „Gaddafi“, auf französisch wiederum „Kadhafi“ transkribiert). Vor nunmehr 42 Jahren hatte der damals 27jährige Offizier an einem Putsch junger Militärs gegen den alternden König Idriss, der sich auf einer Auslandsreise befand, teilgenommen. Qadhafi hatte daraufhin ein Regime errichtet, das sich unter dem Deckmantel wechselnder ideologischer Moden (zunächst arabischer Nationalismus, später dann Panafrikanismus, „Suche nach islamischer Reinheit“ in den neunziger Jahren und schlussendliches Auftreten als pro-westlich „geläuterter“ Staatschef ab Ende 2003) am ehesten als familiäre und stammesbezogene Clanherrschaft charakterisieren lässt. Seit Anfang dieses Jahres kam Qadhafis Herrschaft nun zum allerersten Mal ins Wanken Am 21. Februar 2011 flog die libysche Luftwaffe Angriffe auf Stadtteile der Hauptstadt Tripolis, nachdem die Protestwelle am Vorabend auch Viertel von Tripolis erreicht hatte. Kurz darauf traten mehrere libysche Botschaften und Vertretungen im Ausland, darunter jene bei den UN, in Opposition zum Gaddafi-Regime und seinen mörderischen Maßnahmen gegen die Opposition und gegen ganze Bevölkerungsteile. Das libysche Botschaftspersonal in Malaysia etwa erklärte am 22. Februar, es solidarisiere sich mit den Protesten und verurteile die Repression: „Wir stehen nicht mehr loyal zu Gaddafi, wir sind loyal zum libyschen Volk.“ Schon am Vortag war als erster der bisherige Botschafter Libyens in Indien, Ali Essaoui, zurückgetreten und hatte erklärt, „sich der Revolution anzuschließen“. Ihm folgten auch die Botschafter des Landes in Tunesien, Polen, China, in den USA und bei der Arabischen Liga. Gleichzeitig trat in Tripolis der bisherige Justizminister, Mustapha ’Abdeljalil mit den Worten zurück, er kritisiere die „überzogene Gewaltanwendung“ seitens des Regimes. Der Clan Gaddafis und das engere Machtzentrum hatten sich also nicht nur international, sondern auch auf innenpolitischer Ebene zu isolieren begonnen. Dies hielt Muammar al-Qadhafis Sohn und designierten Nachfolger, Saif el-Islam („Schwert des Islam“) Qadhafi, nicht davon ab, ihren Widersachern zu drohen. Am Abend des 20. Februar stellte er in einer Fernsehansprache die Bevölkerung vor die Alternative: Entweder „ist es aus mit dem Öl, mit dem Gas, und es wird das Chaos einkehren“ - oder aber sie akzeptiere „das neue Libyen“, das die Herrschenden vorbereiteten, unter anderem durch eine Reform des Strafrechts. Vater Qadhafi und die Seinen aber würden „Libyen auf keinen Fall aufgeben“, sondern „bis zum letzten Mann, zur letzten Frau, zur letzten Kugel kämpfen“. Für diesen Fall kündigte Qadhafi junior „Ströme von Blut“ an. So endete also die Behauptung der libyschen Diktatur, sie stelle eine „Volksmassenherrschaft“ dar - so lautet übersetzt die offizielle Staatsbezeichnung, Jammahirriya, eine neue Wortschöpfung Gaddafis. Diese spezifische Staatsform zeichnete sich laut offizieller Darstellung dadurch aus, dass es keine politischen Parteien gebe, welche die Gesellschaft spalteten, sondern „das Volk direkt und unmittelbar die Herrschaft ausübt“. Da es „das Volk“ als homogenen Körper aber hier wie anderswo nicht gibt, verbarg dieser offizielle Anspruch lediglich das Verbot von politischen Parteien und Gewerkschaften. An ihrer Stelle organisierte sich die politische Basis der Regierung in so genannten „Volkskomitees“. Angeblich gab es in Libyen deswegen auch keinen Staatsapparat. In Wirklichkeit aber existierte sehr wohl der Apparat einer staatlichen Diktatur, in den aber im libyschen Falle traditionelle tribale und patriarchalische Strukturen der örtlichen Gesellschaften integriert wurden. Das bedeutet, dass traditionelle Autoritären wie Stammesfiguren oder „Älteste“ - neben Günstlingen von Qadhafis Clan - bei der Ämtervergabe berücksichtigt wurden.
Im Osten Libyens konnten die Protestierenden auch schneller greifbare Erfolge erzielen. In der zweitgrößten Stadt des Landes, Benghazi (eingedeutsch Bengasi), konnten am 20. und 21. Februar abtrünnige und meuternde Truppenteile zusammen mit Protestlern die Kontrolle übernehmen. Aus ihren Reihen wurde ein 31köpfiger „Nationaler Übergangsrat“ geformt, an dessen Spitze Ex-Justizminister ’Abdeljalil gestellt wurde. In Benghazi und benachbarten Städten wehte daraufhin alsbald das von vielen Einwohnern als „echte“ libysche Fahne betrachtete Emblem in den Farben rot, schwarz und grün mit einem hellen Halbmond. Diese alte Nationalflagge hatte Gaddafi nach dem Sturz der Monarchie abgeschafft und durch eine grüne Flagge ersetzt. Die Benutzung dieser Flagge bedeutet allerdings keine Forderung nach Wiederherstellung der Monarchie, vielmehr steht sie auch noch für das Symbol des antikolonialen Widerstands gegen das faschistische Italien, welcher ebenfalls bereits diese Farben benutzt hatte („Rot für das Blut der Märtyrer, schwarz mit einem Halbmond für die Brüderschaft der Senussi, grün für den Islam“). Erheblich stärker als in den bevölkerungsreichen und von verbreiteter Armut geprägten Staaten der Region wie Ägypten spielten politische Faktoren eine wesentlich bedeutendere Rolle in den libyschen Protesten als materielle. Es ging bedeutenden Teilen der Bevölkerung darum, nicht länger Behördenwillkür, Schikanen und eine seit über 41 Jahren währende Herrschaft- zu erdulden. In sozialer Hinsicht profitierten viele Libyer zumindest in relativer Weise davon, dass ihr Land erdölreich und bevölkerungsarm ist, beides im Gegensatz etwa zu Ägypten. Die fünf bis sechs Millionen Libyer hatten jedenfalls geringere materielle als ihre ägyptischen und algerischen Nachbarn, denn das Proletariat und Subproletariat bestand vor allem aus den ein bis zwei Millionen „legal“ und „illegal“ im Lande lebenden Schwarzafrikanern. Arbeiter- und kleinere Handwerkstätigkeiten werden zudem zum Teil durch mehrere Zehntausend Tunesier ausgeübt. Da gleichzeitig schwarzafrikanische Söldner - etwa aus dem von chronischen Bürgerkriegszuständen geschüttelten Nachbarland Tschad - Repressionsaufgaben im Dienste des Gaddafi-Regimes ausüben, kehrte sich der Zorn von Teilen der Bevölkerung im Übrigen auch gegen diese Gruppen. Es kam in einigen Städten zu Ausschreitungen gegen Einwohner aus dem subsaharischen Afrika oder aus Tunesien. Delegationsreisen der Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und FIDH (Brüssel) haben inzwischen bestätigt, dass es in den Rebellenzonen in Ostlibyen wiederholt zu pogromartigen Ausschreitungen, zu ungerechtfertigten Entlassungen, Tötungen oder Misshandlungen von Schwarzen kam, wie diese unter (ungerechtfertigten) „Söldner“verdacht gesetellt worden waren. Seit dem Beginn der militärischen Intervention durch die Luftwaffe Frankreichs, Großbritannien und der NATO-Streitkräfte, welche am Nachtmittag 19. März 2011 begann (und durch „Nationalen Übergangsrat“ unterstützt wird), dominiert ein rein militärisch ausgetragener Konflikt: der Kampf zwischen Rebellen und Regierungstruppen einerseits, die äußere Intervention andererseots. Das innenpolitische Geschehen in Libyen tritt hinter diese fast vollständig zurück. (Die Fragen rund um diese militärische Intervention werden an dieser Stelle nicht näher ausgeführt, sondern sind in Bälde Gegenstand eines längeren Buchbeitrags.) Den Auslöser für die Umwälzung in Ägypten setzten die Ereignisse in Tunesien: Sie bewiesen den jungen ägyptischen Oppositionellen, „dass es möglich ist“. Über Internet und Facebook riefen sie für den 25. Januar 2011 zu einer ersten Demonstration in Kairo auf, die zeitlich mit dem „Tag der Polizei“ – einem Jahre zuvor durch ägyptische Innenministerium eingeführten Feiertag – zusammenfiel. Die subversive Absicht wurde zunächst vor allem von jungen Intellektuellen getragen. Rund 15.000 Menschen nahmen an der Demonstration teil, was für Kairoer Verhältnis – die Stadt weist rund 15 Millionen Einwohner auf – zwar noch nicht riesig, aber gemessen an allen früheren Oppositionsdemonstrationen ein bedeutender Erfolg war. Die Protestierenden lieferten sich zwar stundenlange Auseinandersetzungen mit den Polizeikräften, doch sie konnten nicht auseinandergeprügelt werden: Die Demonstration konnte stattfinden. Dies ermutigte Millionen von Menschen und gab das Startsignal für gewaltige Mobilisieren, die ab da in halb- bis einwöchigem Rhythmus stattfanden. Am 28. Januar fand bereits die nächste Demonstration in Kairo statt, dieses Mal mit einer nach Millionen Menschen zählenden Beteiligung – und auch die Polizei konnte dieses Mal durch die Teilnehmer mitsamt ihren Wasserwerfen zurückgedrängt werden. (Vgl. YouTube ) Jeder Freitag wurde von nun ab mit einem fantasievollen Namen belegt: „Tag des Zorns“, „Tag des Abgangs“... Auf dem Höhepunkt demonstrierten mehrere Millionen Menschen gleichzeitig in vier Örtlichkeiten: Kairo, Alexandria, Suez und im Nildelta, wo Textilarbeiterstädte wie Mahalla al-Kubra liegen. Oppositionelle sprechen von Teilnehmerzahlen von insgesamt bis zu acht Millionen, die jedoch in diesen Größenordnungen nicht mehr überprüfbare sein dürften. Zum Kristallisationspunkt wurde alsbald der „Platz der Befreiung“ (maydan at-Tahrir) in der Innenstadt von Kairo, auf dem Zehn- und mitunter Hunderttausende Menschen Tag & Nacht lagerten, campierten, protestieren, aßen, schliefen, beteten, diskutierten... Es war die Stärke und die vorläufige Schwäche der Bewegung zugleich. Denn einerseits verschaffte ein solcher riesiger Kristallisationskern der Bewegung einen Anlaufpunkt, zu dem auch zahlreiche Menschen von außerhalb – etwa aus Provinzstädten, wo Demonstrieren noch riskanter war als im Schutz der Millionenmetropole Kairo – hinzustoßen konnten. Andererseits sorgte die Fixierung auf einen einheitlichen Ort jedoch auch dafür, dass der Massenprotest von anderen Ebenen (wie dem Alltagsleben an den Arbeitsstätten) in einer ersten Phase vorläufig abgeschnitten blieb. Zudem war die Menge der Protestierenden durch die Sammlung an einem leicht auszumachenden Kristallisationskern relativ leicht attackierbar. Am 02. Februar 2011 kam es so zu dem berühmt gewordenen Angriff von bewaffneten Schlägerbanden des Regimes, der so genannten „Axtträger“ (baltagiya), und eines bezahlten Mobs in Zivil – unter ihnen Tagelöhner, die sonst die Touristen zu den Pyramiden in Gize führen und mit ihren Dromedaren in die Menge hineinritten. (Vgl. YouTube ) Die Attacke konnte jedoch abgewehrt werden. Ab dem 08. Februar fanden jedoch, neben den zentralen Ereignissen des politischen Protests auf dem Tahrir-Platz, auch (zunächst lokale) Streiks statt. Ihnen lagen zunächst gar keine unmittelbar „politischen“ Forderungen zugrunde, sondern soziale Anliegen, zu deren Gunsten die Lohnabhängigen das entstandene gesamtgesellschaftliche Kräfteverhältnis auszunutzen versuchten. Innerhalb von drei Tagen verdichteten sich die Streiks jedoch, bis zu einer Ausrufung eines Generalstreiks für den 11. Februar 2011. Dem Regime drohte die Situation außer Kontrolle zu geraten. Am 11. Februar verließ der seit Oktober 1981 amtierende Präsident und frühere General Hosni Mubarak mitsamt seiner Familie die Hauptstadt Kairo. Zunächst mit unbekanntem Reiseziel - am Nachmittag wurde jedoch sein Eintreffen im ägyptischen Badeort Scharm el-Scheikh, am Südzipfel der Sinai-Halbinsel, vermeldet. Mubarak verfügt dort über eine Residenz. Am Vorabend, dem 10. Februar, hatte das 82jährige Staatsoberhaupt in einer Ansprache im ägyptischen Fernsehen verkündet, dass er seine Vollmachten an Vizepräsident ’Omar Suleiman übertrage. Letzterer war, ebenso wie Premierminister Ahmed Schafiq, erst am 29. Januar 2011 und unter dem Druck bereits massiver Proteste auf seinen Posten ernannt worden. In breiten Kreisen war vor der letzten Fernsehrede Mubaraks erwartet worden, dass er bei ihr seinen Rücktritt verkünden werde. Dies hatten Premierminister Schafiq, aber auch - durch die internationalen Nachrichtenagenturen zitiert - „die CIA“ tagsüber noch in Aussicht gestellt. Dass Mubarak daraufhin am Abend des 10. Februar dann doch verkündete, er wolle weitermachen, wurde durch Millionen von Ägypter/innen als Affront gewertet. Über eine Million Menschen demonstrierten am 11. Februar erneut allein in Kairo; erstmals fanden sich dabei auch Tausende zum Protest unmittelbar vor dem Präsidentenpalast im Stadtteil Héliopolis ein. Mubaraks Situation schien, nach dem Zick-Zack der Ankündigungen in den Stunden zuvor, kaum noch haltbar: Die Wut wuchs nochmals an und schien zunehmend unkontrollierbar zu werden. Der starke Mann des Regimes war zu dem Zeitpunkt bereits ’Omar Suleiman und nicht länger Honsi Mubarak, der durch den auf ihn gelenkten Zorn von Millionen politisch schwer angeschlagen war. Dennoch stand bei der Frage eines kurzfristigen Rücktritts oder Nichtrücktritts von Präsident Mubarak für das Regime sehr viel auf dem Spiel. Denn einen sofortigen Abgang Mubaraks zu verlangen, war die Kernforderung der ägyptischen Massenbewegung, die seit dem 25. Januar 2011 entstanden war: Irhal! (Hau ab!), barra (Raus!) oder auf Französisch: Dégage (Zieh Leine!) - diesen französischsprachigen Ausdruck hatten die Protestierenden direkt aus Tunesien übernommen, von wo aus der Funke übergesprungen war. Dieser absolut zentralen Forderung jedoch unmittelbar nachzugeben, bedeutete aus Sicht des harten Kern des Regimes, „die Büchse der Pandora zu öffnen“: Danach würde es mit sozialen und demokratischen Forderungen kein Halten mehr geben. Daneben ging es dem Mubarak-Clan auch darum, durch einen ausgehandelten Abgang zu garantieren, dass sein durch Korruption und Vetternwirtschaft angehäufter Reichtum (das persönliche Vermögen des Präsidenten wurde auf 45 Milliarden, das seiner Familie auf 70 Milliarden Euro geschätzt) dabei nicht flöten geht. Am 01. Februar 2011 hatte Mubarak in einer Fernsehansprache in Aussicht gestellt, bei der nächsten Präsidentenwahl im September dieses Jahres nicht erneut als Kandidat anzutreten. Und kurz darauf gab sein Vizepräsident ferner auch bekannt, dass Hosni Mubaraks Sohn Gamal - der bis dahin als Anwärter auf seine Nachfolge gehandelt wurde - ebenfalls nicht kandidieren werden. Dieses Zugeständnis, nebst einigen Verhandlungen mit der parteiförmig strukturieren Opposition (die elitären Liberalen der Wafd-Partei, die linksnationalistische Tagammu-Partei und die Muslimbrüder) über Einzelpunkte betreffend die Liberalisierung der Presse und fairere Wahlen, mussten aus Sicht des Regimes genügen. Jenseits davon fing die „rote Linie“ an. Besser als ein sofortiger Präsidentenwechsel sei so, so sinnierten die Hauptstützen der bisherigen Diktatur, einen „geordneten Übergang“ - wie ihn auch Europäische Union und USA explizit befürworteten, wobei Barack Obama jedoch seit Anfang Februar 2011 erstmals auf einen baldigen Abgang Mubaraks zu drängen begann - zu bewerkstelligen. Dieser stand unter den Fittichen des Militärs und „Sicherheits“apparats, der in Gestalt des Vizepräsidenten und neuen „starken Mann“ ’Omar Suleiman nun auch unmittelbarer in zentraler Position an der Macht war: Suleiman hatte zuvor den berüchtigten Inlandsgeheimdienst geleitet. Nach dem Abgang von Präsident Mubarak – dem ab dem 03. August 2011 nunmehr der Prozess gemacht werden soll – übernahm ein „Hoher Rat der Streitkräfte“ unter Marchell Mohammed Hussein Tantawi die politische Macht; ihm wurde ein ziviler Premierminister (Assam Scharif) zur Seite gestellt. Er kündigte an, Reformen an der Verfassung durchführen zu wollen, um daraufhin im September 2011 Parlaments- und mutmaßlich zwei Monate später Präsidentschaftswahlen abhalten zu können. Am 19. März 2011 wurde ein oberflächlich überarbeiteter Verfassungstext – der das Grundgerüst des bisherigen Textes beibehielt, jedoch die Zahl der Amtszeiten des Präsidenten begrenzt und Wahlmanipulationen durch Justizkontrolle unterbinden soll – dem Wahlvolk zur Abstimmung vorgelegt. Die Regierenden führten eine kurze, völlig einseitige Abstimmungskampagne durch, bei welcher das Publikum zwar erfuhr, was im Falle einer Annahme des Textes passiere (Wahlen innerhalb eines angegebenen Zeitraums), jedoch nicht, was im Falle einer Ablehnung los wäre. Eine Mehrheit der Abstimmenden wollte dann doch nicht „ins Unbekannte springen“. Ferner hatte eine gesellschaftlich gut verankerte Oppositionskraft, die Muslimbrüder, die die Demonstrationen bis dahin – mit einigen Widersprüchlichkeiten – unterstützt hatten, dieses Mal den Regierungsentwurf mitgetragen. Und dies im Unterschied zu anderen organisierten Oppositionskräften. Ihr Hintergedanke dabei dürfte gewesen sein, dass sie an relativ schnellen Neuwahlen interessiert waren, um ihren Vorsprung (als faktisch seit 83 Jahren existierende, und gut organisierte Oppositionsstruktur) vor anderen, noch unvorbereiteten Kräften nutzen zu können. Die Vorlage wurde durch 77 Prozent der Abstimmenden angenommen. Infolge des Frontenwechsels der Muslimbrüder, aber wohl vor allem auch infolge allgemeiner Ermüdungserscheinungen nach wochenlangem Dauerprotest gingen die Teilnehmerzahlen an den oppositionellen Demonstrationen ab Anfang März markant zurück. Statt Millionen nahmen nun noch maximal Zehntausende an Protestzügen teil, während die Militärs – die sich während der Proteste im Januar/Februar 2011 noch ihre Beliebtheit erhalten konnten, indem sie mit den Demonstranten zu fraternisieren schienen – zunehmend ins Visier von Kritik gerieten, so dass ein bisher scheinbar bestehender „nationaler Konsens“ zerbrochen wurde. Auch die Muslimbrüder erklärten nun ihren Anhänger, dass man nicht zu den Demonstrationen gehen soll. Doch der Zorn der Opposition staute sich, infolge von brutalen Übergriffen durch das Militär, üblen Praktiken – wie die „Jungfräulichkeitstest“ bei verhafteten Demonstrantinnen – und einer ausbleibenden Verbesserung der sozialen Lebensverhältnisse erneut. Die Konsequenz war, dass bei Demonstrationen am 27. Mai „für eine zweite Revolution“ bereits wieder eine Teilnehmerzahl in mutmaßlicher Millionenhöhe erreicht wurde. In der Nacht vom 28. auf den 29. Juni 2011 kam es auf dem Tahrir-Platz in Kairo zu heftigen Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften. Zuvor hatte es am Rande einer Gedenkfeiern für die insgesamt 840 „Märtyrer“, die im Januar/Februar 2005 durch die Repression getötet worden waren, Auseinandersetzungen gegeben: Manchen Familien war durch die Saalwächter nicht Einlass gegeben worden. Zudem war eine Truppe bewaffneter Zivilisten, mutmaßlich Pro-Mubarak-Schläger, auf Lastwagen aufgetaucht und hatte Konflikte angeheizt. Die früheren Mubarak-Anhänger waren zu dem Zeitpunkt höchst nervös, weil am selben Tag die Justiz die Auflösung der Kommunalparlamente – die, unter starkem Einsatz von Wahlmanipulationen, zuvor mit Parteigängern der „National-demokratischen Partei“ Mubaraks besetzt worden war – beschlossen hatte. Aus den Zusammenstößen erwuchs flammender Protest, der die ganze Nacht über andauerte. 1.036 Personen wurden, laut Zahlen des Gesundheitsministeriums, durch die Sicherheitskräfte verletzt. Über 50 wurden verhaftet und sollten der Militärgerichtsbarkeit vorgeführt werden. Drei Tage zuvor hatte, am 26. Juni, erstmal ein General (’Abdelfattah al-Sisi, Chef des militärischen Nachrichtendiensts) gegenüber Amnesty international offen die „Jungfräulichkeitstest“ an festgenommenen Demonstrantinnen eingeräumt. Er hatte sie mit der Notwendigkeit, „falschen Vergewaltigungsvorwürfen gegen die Armee entgegen zu treten“, begründet. Am 08. Juli 2011 demonstrierten erneut Oppositionelle, um ein Ende der Prozesse gegen zivile Oppositionelle vor Militärgerichten, und eine schnellere Strafverfolgung für die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen unter der alten Diktatur zu fordern. Ersten Berichten zufolge überstieg die Teilnehmer/innen/zahl erneut die 100.000, und erstmals richtete sich der Ruf „Hau ab“ (irhal) auch direkt gegen Marschall Tantawi als Chef des derzeit regierenden „Obersten Rats der Streitkräfte“. Im Anschluss daran blieben Protestierende auf dem Platz, um dort zu campieren. Die Republik Sudan, mit 1,67 Millionen Quadratkilometern eines der flächenmäßig größten arabischsprachigen Länder, war von den Revolten des „Arabischen Frühlings“ nur in geringem Ausmaß betroffen. Am 30. Januar 2011 fanden allerdings in der Hauptstadt Khartum Zusammenstöße zwischen Studierenden der Universität von Omdurman – in der Nähe von Khartum – und zahlreichen Polizisten von Anti-Aufstands-Einheiten zusammen. Rund 1.000 Studierende demonstrierten unter Rufen wie „Wir wollen Veränderung“, „Nieder mit den hohen Preisen“ und „Revolution gegen die Diktatur!“ Ihr Protest, zu dem zuvor über Facebook aufgerufen worden war, stand sichtlich unter Einfluss der Ereignisse im nördlichen Nachbarstaat Ägypten. Sie wurden jedoch auseinander gejagt, und es kam zu rund 40 Festnahmen. Voraus gingen in den Wochen zuvor sporadische Proteste von Einwohnern gegen soziale Lebensbedingungen, etwa gegen teure Lebensmittelpreise. Sie blieben jedoch voneinander isoliert. Die Polizeikräfte des autoritären Regimes, das auf einem Bündnis von Militärs und nationalistisch-islamistischen Kräften basiert, behielten insgesamt die Kontrolle über die Situation. Die Tatsache, dass der Sudan mit seinen 40 Millionen Einwohner/inne/n bislang kaum weitergehend durch die Welle des „Arabischen Frühlings“ erfasst wurde, hängt unter anderem mit den innenpolitischen Problemen zusammen. Die innenpolitische Situation im Sudan wird durch eine Nord-Süd-Polarisierung geprägt. Vom 09. bis 15. Januar 2011 fand im christlich und animistisch dominierten, von Schwarzen bewohnten Südsudan die Abstimmung über eine staatliche Unabhängigkeit vom arabisch-muslimisch dominierten Norden statt. Dabei stimmten 98,83 % der Teilnehmenden für die staatliche Loslösung. Die Abtrennung trat am 09. Juli 2011 in Kraft. Im Vorfeld des Datums kam es zu militärischen Konflikten, zum Teil zwischen militärischen Einheiten des Nordens und des Südens in der umstrittenen Provinz Abyei (im Mai 2011), aber auch zwischen „ethnischen“ Gruppen im Süden. Die zahlreichen Spannungen konzentrierten die Aufmerksamkeit der sudanesischen Gesellschaft. Jordanien, ein mittelgroßes Land mit 6,5 Millionen Einwohner/inne/n – unter ihnen fast zwei Millionen palästinensischstämmige Flüchtlinge und ihre Nachfahren -, wird durch eine eng mit den USA liierte, konservative Monarchie geführt. Die Regierungsform ist formell eine konstitutionelle Monarchie, doch der Einfluss der bürgerlichen Parteien (die seit 1992 zugelassen wurden) ist begrenzt, da der Großteil der Parlamentssitze von dem Thron nahe stehenden „Unabhängigen“ ohne Parteizugehörigkeit besetzt werden. Letztere werden durch das Wahlrecht, ein Personenwahlrecht nach dem reinen Mehrheitswahlsystem (The winner takes it all), begünstigt und repräsentieren vor allem traditionelle tribale Strukturen. Bei den letzten Wahlen am 09. November 2010 erhielten die herrschernahen „unabhängigen“ Abgeordneten eine überwältigende Mehrheit: Ihnen fielen 90 von insgesamt 120 Sitzen zu. 17 Mandate fielen an Vertreter von politischen Parteien, und 13 Sitze waren für Frauen reserviert. Waren frühere Wahlen von Manipulationsvorwürfen überschattet, so hatte die jordanische Monarchie dieses Mal erstmals internationale Wahlbeobachter/innen zugelassen. Sie hatte jedoch eine durch Oppositionsparteien geforderte Änderung des Wahlrechts abgelehnt, weshalb die „Islamische Aktionsfront“ die Parlamentswahl boykottierte. Die Opposition in Jordanien besteht aus den Islamisten – die mehrheitlich den internationalen Muslimbrüdern nahe stehen –den Kräften der Linken und Gewerkschaften. Ihre stärkste Kraft bilden jedoch die „Islamische Aktionsfront“ und die Muslimbrüderschaft. Seit Jahresbeginn 2011 kam es zu wöchentlichen Demonstrationen gegen die schlechten sozialen Lebensbedingungen. Am 16. Januar nahmen 3.000 Anhänger der Opposition – Islamisten, Anhänger von Linksparteien und Gewerkschaftsmitglieder – an einem Sit-In vor dem Parlamentsgebäude in Amman teil. Sie grüßten, anderthalb Tage nach der Flucht des tunesischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben ’Ali, die Revolution in Tunesien und protestierten gegen „die Inflation und die Wirtschaftspolitik der Regierung“. Am Freitag, den 21. Januar demonstrierten 4.000 Menschen durch Amman. In der darauffolgenden Woche publizierte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch einen Bericht, in welchem sie den jordanischen Behörden vorwarf, „Protest zu ersticken“ und die Meinungsfreiheit zu knebeln. Das jordanische Regime dementierte und erklärte, es stünde allen Einwohnern frei, zu protestieren. Am 28. Januar kam es erneut zu größeren Demonstrationen. Daraufhin entließ der Monarch (’Abdallah II.) den unpopulär gewordenen Regierungschef Samir Rifai am 01. Februar und wechselte den Regierungschef aus. Am 02. Februar ernannte er Ma’arouf Bakhit in dieses Amt. Dieser richtete an die „Islamische Aktionsfront“ das Angebot, in die Regierung einzutreten; die Partei traf mit König ’Abdallah II. zusammen, lehnte jedoch ab. Möglicherweise infolge der vom Regime signalisierten „Öffnung“, ging die Teilnehmerzahl an den Demonstrationen in der Hauptstadt Amman jedoch am darauffolgenden Freitag zunächst auf rund 1.000 zurück. Am 18. Februar wurde erstmals eine Demonstration in Amman massiv angegriffen. Rund 2.000 Teilnehmer/innen – Islamisten, Linke, Studierende – hatten sich zum siebten Demonstrationstag in Folge versammelt, um stärkere Freiheitsrechte und eine Senkung der Lebensmittelpreise zu fordern. Sie wurden von Anhängern des Regimes in Zivil attackiert, acht Personen wurden dabei verletzt. Eine Woche später standen sich bei einer erneuten Demonstration am „Freitag des Zorns“ (25. Februar) zwischen 6.000 und 10.000 Teilnehmer/innen auf der einen, 3.000 Polizisten und Regimeanhänger in Zivilkleidung auf der anderen gegenüber. Dieses Mal unterblieben jedoch Zusammenstöße, und die Protestierenden forderten nunmehr auch Verfassungsreformen zugunsten einer parlamentarischen Monarchie, in welcher die Vollmachten des Königs stark beschnitten wären. Ferner riefen sie Slogans gegen die verbreitete Korruption. Am folgenden Tag kritisierte die Opposition in schärferem Tonfall direkt die Regierung, die „keine ernsthaften Bemühungen um Reformen“ unternehme, und die „Islamische Aktionsfront“ setzte ihr ein Ultimatum von einem Monat, um „politische Reformen“ anzupacken. Nunmehr forderten sie auch eine Auflösung des bestehenden Parlaments, ein neues Wahlgesetz und die Wahl – statt Einsetzung durch den Monarchen – des Premierministers. Am 03. März lehnte der Regierungschef diese Forderungen im Parlament explizit ab. Auch in den darauffolgenden Wochen kam es zu Demonstrationen, etwa am 05. März in Amman (mit 5.000 bis 10.000 Teilnehmern, je nach Angaben, vorwiegend auf Aufruf der „Islamischen Aktionsfront“) oder am 11. März in der Stadt Zarqa, und zu Zusammenstöxxen mit Anhängern oder zivilen Schlägern des Regimes. Am Abend des 24. März installierten mehrere hundert junge Menschen Zelte auf dem Platz Gamal Abdul Nasser in Amman und verbrachten dort die Nacht. Doch zu nächtlicher Stunde wurde die neu ausgerufene Bewegung der „Jugend des 24. März“ durch 50 „Loyalisten“ mit Steinen angegriffen, ohne dass die Sicherheitskräfte eingriffen. Mehrere Verletzte mussten in Krankenhäusern behandelt werden. Ansonsten riefen die Jugendlichen auf dem Platz Parolen wie „Das Volk will Reformen am Regime“, „Um uns herum bricht die Revolution aus – Jordanien, auch Du wirst an der Reihe sein“ oder „Wir wollen, dass die Symbolfiguren der Korruption verurteilt werden“. Daraufhin stürmte jedoch die Anti-Aufruhr-Polizei mit Wasserwerfern und hunderten von Mann den Platz, knüppelte Demonstranten zusammen und trieb die Menge auseinander. Am Ende des Tages waren ein Toter und 100 bis 130 Verletzte zu beklagen. Zeitgleich dazu unterhielt US-Verteidigungsminister Robert Gates sich in Amman mit König ’Abdallah II. Infolge der ernsthaften Zwischenfälle forderten „Islamische Aktionsfront“, Linke und „Jugend des 24. März“ den Rücktritt des Premierministers, des Chefs der Nachrichtendienste und dessen der Gendarmerie. Am 07. April 2011 zündete ein 45jähriger Mann, Mohammed Abdul-Karim, sich aus Protest vor den Büros des Premierministers an und wurde dabei schwer verletzt. Er starb am 20. April. Unterdessen demonstrierten am 15. April 2011 erneut über 1.000 Menschen in Amman für einen Rücktritt des Premierministers und die Auflösung des bestehenden Parlaments, um Neuwahlen herbeizuführen. Salafisten (Anhänger einer extremen Richtung innerhalb des politischen Islam, vgl. unser Kapitel zum Islamismus) verletzten am selben Tag in Zarqa 40 Polizisten, darunter sechs schwer mittels Messerstichen, als die Ordnungskräfte eine von ihnen veranstaltete Kundgebung auflösten. In den folgenden Wochen dauerten die Demonstrationen fort, auch wenn die zeitlichen Abstände zwischen ihnen ein wenig wuchsen. Unterdessen vereinigten heterogene Oppositionskräfte („Islamische Aktionsfront“, Linke, Gewerkschaften) sich ab Mitte Mai 2011 in einer „Nationalen Front für die Reform“ als gemeinsamem Dachverband. Am Freitag, den 10. Juni demonstrierten in der Provinzstadt Tafileh – rund 180 Kilometer südlich von Amman – rund 3.000 Menschen, auch in anderen Städten Südjordaniens wurde demonstriert. König Abdallah II. kündigte kurz darauf, in vage bleibender Form, „politische Reformen“ an, doch die Opposition blieb skeptisch. Sein Sondergesandter in die verschiedenen Provinzen des Landes, Ibrahim Seif, erklärte zeitgleich infolge seiner Rückkehr nach Amman: „Die Jordanier sind wirklich frustriert. Sie wollen Reformen. Sie verlangen nach Taten.“ Am Montag, den 13. Juni 2011 reiste der Monarch nach Tafileh, um dort millionenschwere Infrastrukturprojekte für die vernachlässigte Region vorzustellen. Vor Ort wurde sein Konvoi durch einen Steinhagel und Würfe von leeren Flaschen empfangen. Die Behörden gaben an, daran seien „rund 60 Personen“, „Männer zwischen 20 und 30 Jahren“, beteiligt gewesen. 25 Polizisten seien verletzt worden. Doch das Regime dementierte kurz darauf. Die Büros der französischen Presseagentur AFP, welche die Information veröffentlicht hatte, in Amman wurden daraufhin am 15. Juni durch zehn Unbekannte mit Stöcken attackiert und verwüstet. Kurz zuvor hatte die Leiterin des Büros, Randa Habib, einen Anruf erhalten. Der anonyme Anruf hatte ihr vorgeworfen, „die Sicherheit des Jordaniens zu beeinträchtigen“, und hinzugefügt: „Wir werden Euch teuer bezahlen lassen.“ Am Vortag, dem 14. Juni, hatten 300 Menschen vor dem Büro für seine Schließung demonstriert. Die libanesische Situation passt kaum in den Kontext des „Arabischen Frühlings“ von 2011 hinein. Der Hauptgrund dafür liegt darin, dass die Gesellschaft des Landes am östlichen Mittelmeerufer einer extremen konfessionellen Zersplitterung unterliegt: Es gibt kaum eine landesweite, einheitliche öffentliche Meinung. Seit 1943 (und dem Ende der französischen Protektoratsherrschaft über den Libanon und Syrien im Rahmen des damaligen Völkerbunds) ist ein Proporzsystem, d.h. eine Verteilung von Regierungsämtern und anderen hohen Posten im Staat nach einem festen Verteilungsschlüssel unter den Religionsgruppen, gesetzlich festgeschrieben. Ferner durchquert eine geopolitische Frontlinie den konfessionell und politisch zersplitterten Libanon: Auf der einen Seite stehen die lokalen Bündnispartner der westlichen Großmächte Frankreich (und USA), unter ihnen die christliche Rechte und die - auch mit Saudi-Arabien verknüpfte - sunnitische Großbourgeoisie, auf der anderen Seite finden wir die Alliierten der regionalen Großmächte Syrien und Iran (wie die schiitische Bewegung und Miliz Hizballah, „Partei Gottes“). Zwischen beiden Blöcken werden andere politische und gesellschaftliche Alternativen in der Regel zerrieben. Die wichtigste überkonfessionelle Partei, welche Anhänger und Mitglieder aus allen Religionsgruppen aufnimmt, ist die Libanesische Kommunistische Partei (PCL), die ihrerseits eng mit dem wichtigsten Gewerkschaftsverband CGTL verbündet ist. Bei Massendemonstrationen gegen soziale Einschnitte sind diese Kräfte allerdings vor allem dann mobilisierungsfähig, wenn die - sozial und ökonomisch gegenüber anderen Gruppen stärker benachteiligte - schiitische Bevölkerung mit auf die Straße geht. Unter dieser ist jedoch wiederum die Hizballah (mit der die libanesische KP während des israelischen Angriffskrieges im Juli/August 2006 ein vorübergehendes Bündnis einging) stark verankert. Ohne deren zumindest stillschweigende Unterstützung können durch PCL und Gewerkschaften initiierte Sozialproteste Zehntausende, mit ihr jedoch aus bestimmten Anlässen Hunderttausende auf die Straße bringen. Die Hizballah nimmt jedoch ihrerseits stets Rücksicht auf die Interessen der Regionalmächte Syrien und Iran, und ist zudem seit Juni 2011 - in dominierender Stellung - in ein Regierungsbündnis eingebunden, so dass sie gegenüber Sozialprotest eher die Sichtweise des libanesischen bürgerlichen Staats einnimmt. Auch wenn ihre gesellschaftliche Massenbasis tendenziell eher zu den benachteiligten Schichten gehört. Demokratiebewegungen oder emanzipatorische Proteste haben in diesem innenpolitischen Gesamtkontext schwer, da sie leicht durch die regionalen Konfliktfronten - die im Libanon aufeinanderstoßen - überlagert werden. Im Frühjahr 2005 entstand im Libanon, nach der Ermordung des früheren sunnitischen Premierministers Rafiq Hariri am 14. Februar 2005 (der bislang ungeklärt blieb, für denen jedoch in der Folgezeit jedoch meist dem syrischen Regime und/oder der mit ihm alliierten Hizballah die Schuld gegeben wurden), eine massenhafte Protestbewegung. Sie richtete sich gegen die syrische Dominanz, die zu Recht angeprangert wurde - und führte in den darauffolgenden Monaten zu einer Beendigung der militärischen Präsens im Land und einer Zurückdrängung des syrischen Einflusses (aber z.T. auch zu Pogromen gegen aus Syrien stammende Bauarbeiter). In dieser „Front des 14. März“ tummelten sich jedoch alsbald auch Parteigänger etwa der christlichen Rechten, die kaum demokratische Züge aufweist - ihre historischen Vorläufer in Gestalt der Falange-Partei bezogen sich auf den europäischen Faschismus -, jedoch ihre Bündnispartner in den Frankreich, den USA und in Israel sucht und den Einfluss regionaler Mächte beschneiden möchte. Auf diese Weise wurde die Demokratieforderung einem regelrechten „Hijacking“ unterzogen. Im Gegenzug formierte sich die „Front des 08. Mârz“ (2005), die ihrerseits eher die Interessen der Regionalmächte, besonders Syriens, und der Hizballah verteidigte. Im Zuge des „Arabischen Frühlings“ fand auch im Libanon ein zaghafter Demokratieprotest statt, dessen Akteure versuchten, sich dem Zangengriff dieser vermeintlich antagonistischen, in Wirklichkeit jedoch allesamt reaktionären Kräfte zu entziehen. Am 27. Februar 2011 fand in Beirut eine Demonstration gegen das konfessionelle Proporzsystem statt, zu der zuvor im Internet und auf Facebook aufgerufen worden war. Zu ihr hatten in diesen Kommunikationsmedien 2.600 Personen ihr Kommen angekündigt. Real kamen jedoch, wohl auch aufgrund miserabler Wetterbedingungen, einige hundert Menschen. Sie forderten unter dem strömenden Regen ein „Ende des Konfessionalismus“ und riefen den aus Ägypten übernommenen Slogan: „Das Volk will den Sturz des Regimes!“ Auch war zu hören: „Die Revolution ist überall (Anm.: in der Region), Libanon, Du bist an der Reihe!“ In den folgenden Monaten gewann jedoch die regionale Konfliktdynamik zwischen den im Libanon beteiligten Mächten wieder die Überhand. Zudem wird ein Überschwappen des in Syrien seit Mitte März 2011 begonnen Kräftemessens - zwischen der dortigen Massenrevolte und den Repressionskräften des Regimes - in den Libanon in Form neuer bürgerkriegsähnlicher Zusammenstöße befürchtet. Der konfessionalisierte Bürgerkrieg in den Jahren 1975 bis 1990 (unter aktiver Einmischung Israels und Syriens) bleibt für viele Libanesen ein finsteres Schreckbild. Seit Ende Juni 2011 wurde ferner bekannt, dass die Hizballah ihr Waffenarsenal aus Syrien abzuziehen beginnt, um sich auf die Perspektive eines möglichen Sturzes des dortigen Regimes und/oder eines innersyrischen Bürgerkriegs einzustellen, und in den Libanon verlagert. Syrien dürfte, nach dem Verschwinden des früheren Regimes unter Saddam Hussein im ’Iraq, eines der brutalsten Regime in einem der arabischsprachigen Länder aufweisen. Seit dem 15. März 2011 ist es nun pausenlos einer, aus zahlreichen örtlichen Revolten – die bislang keine stärkere zentrale Koordinierungs- oder Verbindungsstruktur aufweisen – bestehenden Aufstandsbewegung in vielen Landesteilen ausgesetzt. Menschenrechtsvereinigungen sprachen Ende Juni 2011 von bis dahin über 1.600 Toten (die gesicherten Fälle betreffend) der Repression. Die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty international sprach am 05. Juli 2011 von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Am Beispiel der Repression in der Stadt Tall Kalakh, die im Laufe des Mai 2011 durch Truppen des Regimes angegriffen wurde, berichtete Amnesty international von Morden in Gefängnissen, Folterfällen und willkürlichen Verhaftungen. Das syrische Regime dürfte bei Abschluss dieser Darstellung (Anfang Juli 2011) zwar noch nicht kurz vor seinem Sturz stehen. Dennoch ist es offenkundig gegen eine wachsende Opposition aus der Gesellschaft in die Defensive geraten und wird seine extrem beschädigte Legitimität – die auch zuvor in weiten Teilen auf der Angst vor Repression, Folter und Haft beruht hatte – nie wieder herstellen können. Mittelfristig dürfte ein Regimewechsel wohl eher eine Frage der Zeit als des „Ob“ sein, ohne dass zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Buches genau gesagt werden könnte, wie lange sich dies hinziehen dürfte. Unterdessen versucht sich das Regime durch einen Zick-Zack-Kurs, eine zuweilen kurios anmutende Mischung aus theoretisch weitreichenden Zugeständnissen, „Reform“ankündigungen und brachialer Unterdrückung an der Macht zu halten. So hob das Regime am 27. März 2011 den seit 1962/63 ununterbrochen geltenden Ausnahmezustand auf, um dies aber sogleich durch eine „Anti-Terrorismus-Gesetzgebung“ zu konterkarieren; und ohne ernsthafte Änderungen an der brachialen Repressionspraxis vorzunehmen. Während die Repression hart zuschlug, verkündete das Regime am 31. Mai 2011 plötzlich eine „Generalamnestie“ für alle in Haft sitzenden politischen Dissidenten, die durch die gleichzeitig im türkischen Antalya jedoch „ausgeschlagen“ – da als Farce betrachtet - wurde. Es lässt sich von seiner politischen Natur einerseits als nationalistisch-militaristisch beschreiben, wobei die Macht der seit 1963 regierenden Ba’ath-Partei sich neben der Armee auch stark auf die insgesamt 14 miteinander konkurrierenden Nachrichtendienste (mukhabarat) stützt. Der permanente innenpolitische Spannungszustand wird formell durch die Nachbarschaft zum Staat Israel gerechtfertigt. Diese ist zwar theoretisch konfliktreich, doch hatte seit dem letzten Krieg im Oktober 1973 an der Grenze zwischen Syrien und den durch Israel besetzten (ursprünglich zum syrischen Territorium gehörenden) Golanhöhen kein Zwischenfall stattgefunden. Erst im Mai und im Juni 2011 änderte sich dies, aus offensichtlichem Kalkül des Regimes in Damaskus heraus. (Vgl. unsere Stichwort „Israel/Palästina“, unten.) Zu der nationalistisch-militaristischen Dimension kam historisch auch eine Übernahme mancher stalinistischer Strukturmerkmale hinzu. Das Regime war bis zum Ende der Blockkonfrontation 1989/90 außenpolitisch mit der Sowjetunion verbündet, hat sich jedoch danach der veränderten Weltordnung zunächst erfolgreich angepasst. So entsandte das syrische Regime 1991 einige Truppen, von eher symbolischem Umfang, in den damaligen ersten Krieg der USA gegen den ’Iraq. Ab Anfang der neunziger Jahre führte es ferner umfangreiche Privatisierungen durch. Auch wenn diese oft dem regierenden Familienclan zugute kamen, besonders dem unermesslichen reichen Präsidenten des aktuellen Präsidenten Bascher Al-Assad – Rami Makhlouf -, der rund 60 % der Wirtschaft des Landes kontrolliert haben soll, aber jüngst durch seinen regierenden Cousin unter dem Druck der Proteste heftig zur Ordnung gerufen wurde. Mitte Juni 2011 kündigte er jedenfalls öffentlich an, einen Teil seiner Reichtümer „wohltätigen Stiftungen zu spenden“ und „nicht länger eine Last für Syrien, sein Land und seinen Präsidenten zu sein“.... Hinzu tritt zu diesen politischen Dimension jedoch eine zweite, in der syrischen Öffentlichkeit allgemein bekannte: Das Regime befindet sich zum Großteil in den Händen von Angehörigen einer religiösen Minderheit, der Alawiten. Diese Gruppe (in der Türkei heißt sie Aleviten) bildet einen Seitenzweig des schiitischen Islam, und in Syrien gehören ihr rund 10 Prozent der Bevölkerung an, während 80 Prozent dem sunnitischen Islam zugehören; der Rest verteilt sich auf Drusen, Christen und Juden. Zu früheren Zeiten, etwa unter dem Osmanischen Reich, war diese Religionsgruppe im heutigen Syrien erheblichen Diskriminierungen ausgesetzt und durfte – von einigen Händlern abgesehen – beispielsweise nicht in den Städten leben. Heute fürchten ihre Mitglieder, perspektivisch Alles zu verlieren und in die völlige Bedeutungslosigkeit zurückzufallen, falls der regierende Familienclan der Al-Assad die politische Macht verliert. (Vater Hafez al-Assad war ab 1970 und bis zu seinem Tod Präsident, sein Sohn Bascher al-Assad – zuvor Augenarzt in London – amtiert seit 2000 als sein Nachfolger.) Viele Angehörige der Sicherheitskräfte sind derzeit Alawiten, und in den alawitischen Gebieten wurden in den letzten Monaten Oppositionelle oft nicht durch die Polizei, sondern durch Angehörige der Zivilbevölkerung in ihren Häusern angegriffen. Im Gegenzug ist zu befürchten, dass sich die Revolte oder der Massenprotest zum Teil konfessionell aufladen könnte. Örtliche Berichte – deren Zuverlässigkeit jedoch vorerst anzuzweifeln ist, da sie eine erkennbare Pro-Regime-Färbung aufweisen – behaupten, auf Demonstrationen seit mitunter „Die Alawiten ins Grab, die Christen nach Beirut!“ gerufen worden. Auch internationale Medien, etwa die französische Presse, berichteten wiederholt über Befürchtungen bei den syrischen Christen. Die Opposition versucht diesen jedoch zu begegnen, so unterstrich sie bei den Demonstrationen am diesjährigen Karfreitag (22. April 2011) in besonderem Maße positiv die Anwesenheit christlicher Demonstranten. Ausgelöst worden war der Massenprotest Mitte März 2011 in der südsyrischen Stadt Deraa, in fünf Kilometern Entfernung von der jordanischen Grenze. Beinahe zeitgleich hatte es am 15. März in der Hauptstadt Damaskus einen Versuch gegeben, vor der berühmten Omayyaden-Moschee zu demonstrieren, welcher jedoch (wie bereits ein vorheriger Versuch im Januar 2011) angesichts geringer Teilnehmerzahlen und starker Polizeipräsens im Keim erstickt wurde. Doch in der grenznahen Stadt auf dem trockenen Hochplateau des Hauran wurde die Wut der Bevölkerung entfesselt. Voraus ging die Verhaftung von 15 Kindern und Jugendlichen, die sich amüsiert hatten, indem sie an die Wände örtlicher Häuser und Gebäude den Slogan der ägyptischen Revolution pinselten: Asch-Scha’ab jurid’inqat al-nizham („Das Volk will den Sturz des Regimes“). Die Minderjährigen wurden nach einigen Tagen freigelassen, doch trugen Spuren von Folterungen – Schläge, ausgerissene Fingernägel... Dass diese Anzeichen offen sichtbar waren, war durchaus besichtigt, um einschüchternde Wirkung zu erzielen. Doch weil Kinder betroffen waren, erzielte es einen gegenteiligen Effekt: eine unermessliche Wut. Am 18. März sammelte sich eine größerre Menschenmenge nach dem Freitagsgebet zu einer Demonstration, am folgenden Tag ging sie erneut auf die Straße. Trotz eines Schusswaffeneinsatzes durch die Polizei und regimetreuen Milizen, der wahrscheinlich 100 Tote kostete, ging die Mobilisierung alsbald weiter. Nunmehr formierten sich die Protestzüge angesichts der Beerdigungsprozessionen für die Getöteten. Örtliche Funktionäre der Ba’ath-Partei traten von ihren Funktionen zurück, ebenso der regionale Mufti (religiöses Oberhaupt). Schließlich erklärten sogar landesweit in einem einmaligen Akt 230 Ba’ath-Mitglieder ihren Austritt, um gegen die Repression zu protestieren, die „gegen die Werte der Partei verstoße“. Als Antwort auf die Massenrevolte ließ das Regime ab dem 25. April 2011 die gesamte Stadt mit Panzern umstellen und von 3.000 Elitesoldaten umzingeln. Scharfschützen wurden auf den Dächern postiert, um die Einwohner/innen an jeglichem Verlassen ihres Hauses zu verhindern. Strom- und Wasserversorgung wurden abgestellt, und ein ganzes innerstädtisches Wohnviertel wurde komplett von Lebensmittel-, Wasser- und Milchzufuhr abgeschnitten. Zehn Tage lang fegte die Repression mit eisernem Besen über die Stadt. Am 29. April versuchten Bewohner/innen einen Ausbruch und demonstrierten zwischen fünf und zehn Kilomter au b erhalb ihrer Stadt. Doch die Armee eröffnete das Feuer und tötete mutmaßlich 200 Menschen. Am selben Tag (29. April) wurde am Rande dieser Demonstration der erst 13jährige Hamza al-Khatib verhaftet, dessen kindliches Gesicht bald darauf zum Sinnbild für die „Märtyrer“ der Revolte werden sollte: Vier Wochen später wurde sein von Folter gekennzeichneter Leichnam, mit gebrochenem Genick und abgeschnittenem Geschlechtsteil, der Familie übergeben. Auch diese Geste sollte einschüchtern, bewirkte jedoch das Gegenteil, denn in Kürze waren halb Syrien und die internationale Öffentlichkeit unterrichtet. Nach zehn Tagen zogen die Panzertruppen rund um Deraa ab. Doch in der Folgezeit wiederholte sich ein ähnliches Szenario in anderen Städten, wie in Tall Kalakh oder Banias (an der Mittelmeerküste) im Mai oder in Dschisr al-Schugur im Juni 2011. Oppositionelle setzten unterdessen darauf, dass das Regime zwar mit seinen Panzerfahrzeugen und Elitetruppen – denen die Protestierenden nichts entgegenzusetzen haben, auch wenn das Regime permanent behauptet, bei den Demonstranten handele es sich um „schwerbewaffnete Banden“ – Proteste niederwalzen könne, diese aber nicht an „zu vielen“ Punkten des Staatsgebiets gleichzeitig einsetzbar sein könnten. Ferner hat die Opposition die Strategie entwickelt, bevorzugt nächtens zu demonstrieren, was nicht nur die Identifizierung erschweren, sondern vor allem die Soldaten der Truppe durch wiederholten Schlafmangel ermüden soll. Innerhalb der Truppe scheint es erhebliche Widerstände zu geben, doch wurde wiederholt über Hinrichtungen von Soldaten, die einen Befehl zum Schießen auf die Menge verweigerten, berichtet. Zu den Kennzeichen der Repression gehört es unterdessen offenbar, dass versucht wird, eine „ethnische (respektive konfessionelle) Säuberung“ der alawetischen Siedlungsgebiete in Syriens Nordwestregion – im Hinterland der Mittelmeerküste und der türkischen Grenze – durchzuführen. Diese soll es der Minderheit, falls ihre Angehörigen die Macht in Damaskus je verlieren sollten, erlauben, über eine „sichere Rückzugsregion“ zu verfügen. Am 01. Juli 2011 fand die bis dahin gewaltigste Demonstration der Oppositionskräfte statt: Je nach Angaben zogen zwischen 200.000 und 500.000 Menschen durch die zentralsyrische Stadt Hama, die insgesamt 530.000 Einwohner/innen aufweist; viele Teilnehmer an dem Protestzug waren wohl auch aus dem Umland gekommen. In den folgenden Tagen wurde die Stadt durch die Armee umstellt, 25 Zivilisten wurden getötet. Hama ist „das“ Symbol für die Untaten der syrischen Diktatur, da in allen Köpfen in Erinnerung bleibt, wie das Regime unter Präsidentenvater Hafez Al-Assad im Jahr 1982 die Stadt (infolge der lokalen Revolte einer durch die Muslimbrüder angeführten Aufstandsbewegung) bombardieren ließ und dabei rund 20.000 Menschen auf einen Schlag tötete. Am 08. Juli 2011 demonstrierten erneut unzählige Menschen in Hama; zwei syrische Menschenrechtsorganisationen sprachen zunächst von 150.000 respektive 450.000 Teilnehmer/innen/n, später sprachen internationale Presseorgane in ihrer Bilanz von 500.000. (In diesen Größenordnungen dürften nähere Schätzungen, die realistisch ausfallen sollen, tatsächlich schwer möglich sein.) Auch der US-amerikanische und der französische Botschafter in Damaskus, Robert Ford und Eric Chevallier, reisten aus diesem Anlass nach Hama; „ohne Genehmigung“, wie ihnen durch das Regime vorgeworfen wurde, dessen Außenministerium sie kurz darauf vorlud. Das Prestige der Muslimbrüder sowie die eventuell drohende Konfessionalisierung der Proteste könnten darauf hindeuten, dass es auf längere Perspektive hin zu einer islamistischen Politisierung der Proteste kommen könnte. Dies ist jedoch völlig ungesichert. Zwar finden die Demonstrationen regelmäßig nach dem Freitagsgebet statt, doch syrische Bürger/innen berichten, viele gingen überhaupt nur in die Moscheen, um danach von dort aus demonstrieren zu können (da es sich bei den Gotteshäusern um die einzigen legalen Versammlungsmöglichkeiten handelt). Allerdings hat es in Deraa Predigten von Imamen gegeben, die gegen die „losen Sitten der druzischen Frauen“ – das „Drusengebirge“ im Südwestens Syriens liegt in der Nähe, und Menschen dieser Konfession leben auch im Süden – wetterten. Am 31. Mai, 1. und 2. Juni 2011 versammelten sich 300 bis 400 Oppositionsvertreter im türkischen Antalya, um sich (außerhalb Syriensà erstmals untereinander koordinieren zu können. An dem Treffen nahmen sowohl Muslimbrüder als auch Repräsentanten traditioneller Stammesverbände, Kurden, Schriftsteller wie auch Linke (etwa von der „Kommunistischen Union“) teil. Sie lehnten die am 31. Mai durch Präsident al-Assad verkündete plötzliche „Generalamnestie“ für in Haft sitzende Oppositionelle – wenn „ihre Verbrechen vor dem 31. Mai begangen wurden“ – als Täuschungsmanöver ab. Einige der Teilnehmer kehrten im Anschluss an das Treffen, trotz der im Land wütenden Repression, unmittelbar nach Syrien zurück. Als Gegenmaßnahme ließ die Regierung am 27. Juni 2011 rund 100 Oppositionelle im Sheraton-Hotel in Damaskus sich versammeln, um für eine „dritte Kraft“ zwischen dem Regime und den Revolten zu werben. Andere Oppositionelle und internationale Presseorgane sprachen hingegen von einer Maskerade Die Kurden im Nordosten Syriens sind seit langem einer spezifischen Unterdrückung ausgesetzt. Auch in ihrer Region kam es zu Protesten, jedoch nicht so stark wie im Jahr 2004, als diese Provinz sich allein erhob und – heftiger Repression ausgesetzt – isoliert blieb. Im März 2011 hatte Präsident Bascher al-Assad 300.000 syrischen Kurden, die bis dahin als „Staatenlos“ im eigenen Land behandelt wurden, Pässe in Aussicht gestellt. In den folgenden Abschnitten kann es nicht darum gehen, die gesamte Situation in dem mittelöstlichen Staat im Jahr 2011 darzustellen. Dabei würden notwendig wichtige Faktoren wie die Entwicklung der militärischen Lage im ’Iraq - nachdem das Land am 20. März 2003 durch eine Koalition unter US-amerikanischer und britischer Führung angegriffen und später besetzt wurde, jedoch in jüngerer Zeit die Besatzungstruppen reduziert (bzw. im Falle der Briten seit dem 22. Mai 2011 vollständig abgezogen) worden sind – und die Aktivitäten der bewaffneten Gruppen eine zentrale Rolle spielen. Eine solche Darstellung würde ausführliche Schilderungen und Analysen erfordern, die uns vom Thema „Arabischer Frühling“ entfernen würden. Deswegen können im Folgenden Dinge wie die noch im ’Iraq verbleibenden Truppen (rund 50.000 US-Soldaten), schiitische Milizen, Al-Qaida u.ä. keine nähere Berücksichtigung finden. Vielmehr werden wir uns an dieser Stelle auf „zivile“, soziale oder politische Widerstände und Proteste in zeitlichem Zusammenhang mit den Umwälzungen in Tunesien, Ägypten und anderswo konzentrieren. Dennoch besteht ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Ebenen. Denn die Jahrzehnte hindurch durch die irakische Gesellschaft erlebte, fast permanente Kriegssituation (1980-88: Krieg gegen den Iran; 1990/91: Besetzung des Kuwait und im Anschluss daran Bombenkrieg der USA, Frankreichs und Großbritanniens gegen den ’Iraq im Rahmen der Operation Desert Storm; dann zwölf Jahre Embargo; ab 2003 Besatzung durch die US-geführte Koalition und gleichzeitig ausbrechender konfessioneller Bürgerkrieg mit Höhepunkt im Zeitraum 2005-2007) haben tiefe Spuren hinterlassen. Die Art und Weise, wie islamistische und mit der früher diktatorisch regierenden Ba’ath-Partei verbundene Gruppen oder Milizen – parallel zueinander – ihren militärischen „Widerstand“ gegen die Besatzungstruppen organisierten, konnte auf kollektive Mobilisierungen in der ’iraqischen Bevölkerung nur negative Auswirkungen haben. Statt zivilen, solidarischen Protests zählte in jenen Jahren eben vorwiegend die Macht aus den Gewehrläufen, zumal die oben angesprochenen Gruppierungen selbst ausgesprochen autoritären Konzeptionen und Gesellschaftsmodellen anhängen. Vor allem aber der extreme Terror, welcher von den mit Al-Qaida verbundenen Gruppen (die nicht mit dem gesamten „Widerstand“ verwechselt werden dürfen) ausging, hat nachhaltige Konsequenzen hinterlassen. Er richtete sich, stärker als gegen die Besatzungsgruppen, vor allem gegen verfeindete konfessionelle Gruppen (Schiiten) und rief durch seine Ziele wie seine Methoden – etwa Bombenanschläge auf öffentlichen Plätzen – Panik in der Gesellschaft hervor. Diese Erfahrung musste wie ein Stahlbad auf die Gesellschaft wirken: Wer solche Perioden überlebt und hinter sich hat, denkt oft nur noch an das Überleben und ist froh darüber, dass „endlich Ruhe herrscht“. Statt gegen die Herrschenden aufzustehen, wird die Bevölkerung im Anschluss an solche Phasen eher ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis artikulieren. Dennoch konnte sich auch im ’Iraq sozialer Widerstand artikulieren, nachdem die Nachrichten von den Umwälzungen in Tunesien und Ägypten das Land erreicht hatten. Die in diesen Ländern vollzogenen Umwälzungen wurden zum Anlass, um auch im eigenen Land endlich dem Unmut über ständige Stromausfälle – infolge von maroder Infrastruktur und ausbleibenden Maßnahmen zu ihrer Instandhaltung -, Engpässe bei der Lebensmittelversorgung und über den Lebensstil der vor allem als Selbstversorger erscheinenden Politiker Ausdruck zu verleihen. Schon im Vorfeld der Proteste hatte die Regierung unter Premierminister Nuri al-Maliki Maßnahmen ergriffen, um ihnen das Wasser abzugraben. So hatte al-Maliki angekündigt, er lasse sein eigenes Gehalt als Premierminister, in Höhe von stolzen 30.000 Dollar, halbieren. Daneben brachte die Regierung ein Gesetz auf den Weg, das auch die Ministergehälter und die Bezüge der Abgeordneten um 50 % reduzierte. Da das World Food Programm der UN, das nach wie vor einen Teil der iraqischen Bevölkerung ernährt, Versorgungsengpässe aufwies, ließ die Regierung ferner Lebensmittel für 900 Millionen Dollar sowie 200.000 Tonnen Zucker aufkaufen. Um über die nötigen Mittel zu verfügen, wurde der ursprünglich geplante Kauf von Militärflugzeugen (Abfangjägern der US-amerikanischen Marke F-16) auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Und aufgrund der leidigen Stromausfälle kündigte die Regierung an, jedem Haushalt monatlich 1.000 Kilowattstunden Elektrizität kostenlos zuzuteilen. Doch den Ausbruch der Proteste konnten diese Ankündigungen nicht verhindern. Am 17. Februar 2011 kam es vor allem im kurdischen Teil des Nord’iraq (welcher seit der Einrichtung einer UN-„Schutzzone“ für die vor dem Regime Saddam Husseins fliehenden Kurden, ab April 1991 der Herrschaft des alten Regimes entzogen war und eine eigene Entwicklung nahm), aber auch in der Stadt Kirkuk mit gemischter kurdisch/arabischer Bevölkerung sowie in den süd’iraqischen Städten Basra und Nassir zu Protestdemonstrationen. In der zweitgrößten Stadt der Autonomen Region Kurdistan, Suleymaniah (Sulaimaniyya), waren bei Zusammenstößen mit den regionalen Ordnungskräften ein Toter und 33 Verletzte zu verzeichnen. Am 25. Februar wurde die Bevölkerung durch Aufrufe im Internet und bei Facebook zu erneuten Demonstrationen eingeladen. In der Hauptstadt Baghdad riefen dazu etwa eine Gruppe unter dem Titel Baghdad Facebook, mit rund 3.000 virtuellen Mitgliedern, und eine andere (ähnlich große) unter dem programmatischen Titel „Baghdad ohne Schlaglöcher“ dazu auf. Dort hieß es etwa: „Der 25. Februar wird ein Tag des Zorns werden, um Veränderungen zu erzielen, das Ende der Korruption und des Sektarismus (d.h. der Gewalt zwischen Religionsgruppen).“ An jenem Freitag demonstrierten Tausende von Menschen in Kirkuk, in kurdischen Städten, in Basra und in der Hauptstadt Baghdad. In Baghhad, wo große Armeejeeps in den Seitenstraßen stationiert waren, schritten die Sicherheitskräfte zunächst nicht ein, doch am Ende wurden die Demonstranten vom örtlichen Meidan Tahrir (Befreiungsplatz) mit Tränengas und Wasserwerfern vertrieben. Andernorts kam es an dem Tag zu insgesamt – je nach Angaben - 15 oder 19 Toten und zu 134 Verletzten, unter ihnen 21 Polizisten oder Soldaten. Zu tödlichen Schusswaffeneinsätzen gegen Demonstranten, die öffentliche Gebäude umzingelten oder in einigen Fällen auch stürmten, kam es in Mossul (5 Tote), in Hawija in der Nähe von Kirkuk (2), in Tikrit (5), in Samarra (2) und in Fallujah sowie in Calar in der Provinz Diyala. Ende Februar 2011 gab Premierminister Nuri al-Maliki daraufhin seinen Ministern „einhundert Tage, um Ergebnisse zu erzielen“. Infolge der Proteste wurden die Gouverneure der süd’iraqischen Städte Basra und Babylon und der Bürgermeister der Hauptstadt Baghdad zum Rücktritt gezwungen, und der Gouverneur der Provinz Wassit im Süd’iraq wurde abgesetzt. Am 07. März 2011 gingen unterdessen mehrere hundert Menschen im Zentrum von Baghdad auf die Straße, um zu bekunden, sie hätten ein Jahr zuvor – bei der Parlamentswahl vom 07. März 2010 – ihre Stimme abgegeben, aber bedauerten dies heute: „Es tut uns leid, an einer Wahl teilgenommen zu haben, die nichts gebracht hat. Die Regierenden haben nichts für uns getan.“ Demonstranten riefen: „Al-Maliki, korrigiere (die Ergebnisse), sonst ergeht es Dir wie Mubarak!“ - Am 18. März 2011 kam es in Fallujah, westlich von Baghdad, zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Armee, die ihre Versammlung aufzulösen versuchte. Dies kostete 15 Verletzte. Mehrere hundert Demonstranten hatten im Stadtzentrum gegen das Ausbleibender elementarer öffentlicher Dienstleistungen protestiert. Die Stadt Fallujah hatte in jüngerer Vergangenheit mehrfach besonders gelitten: Während des Krieges 2003 war sie Opfer besonders schwerer Bombardierungen, und Le Monde (vom 10. Juni 2011) wirft aufgrund aktuell sich häufender Missgeburten in der Stadt erneut die seit längerem schwelende Frage auf, ob die US-Armee dort uranhaltige radioaktive Munition einsetzte. Spätern 2004/05, hatten sich unter dem Label von Al-Qaida kämpfende djihadistische Gruppen dort verschanzt und einen Teil der Einwohner terrorisiert. In schweren Kämpfen, bei denen die Stadt erhebliche Schäden erlitt, wurden sie durch die US-Truppen und die ’iraqische Armee besiegt. Im April 2011 flammten es in der nord’iraqischen Autonomen Region Kurdistan erneut heftige Proteste auf. Dort warfen Demonstrierende den beiden dominierenden Regionalpartei Patriotische Union Kurdistans (unter dem jetzigen Republikpräsidenten Jalal Talabani) und Kurdische Demokratische Partei (unter dem Chef der Autonomen Region, Massud Barzani) vor, seit Jahrzehnten die Macht unter sich aufzuteilen. Die beiden politischen Hauptkräfte im ’iraqischen Kurdistan sind real weniger durch ihre politischen Programme voneinander unterscheidbare Organisationen mit fest strukturierten Vorstellungen, sondern Clanparteien. So demonstrierten am 01. April in Suleymaniah rund 4.000 Menschen, dabei wurden ein Demonstrant, ein Journalist sowie 16 Polizisten verletzt. In dieser Stadt fanden beinahe täglich Versammlungen statt, auf denen ein Ende der Korruption, der mafiösen Einflussnahme der beiden kurdischen Hauptparteien und die Bestrafung der Verantwortlichen für den Tod dreier junger Demonstranten im Februar gefordert wurden. Am 17. und 18. April 2011 kam es in der kurdischen Regionalhauptstadt Arbil und in Suleymaniah wiederum zu massiven Zusammenstößen mit den Truppen der Polizei respektive den Peshmarga (frühere kurdische Guerillakämpfer, die heute Dienst als Sicherheitskräfte tun) und Parteimilizen der KDP. Am ersten Tag wurden in Suleymaniah 35 Personen verletzt, am darauffolgenden Tag erneut 21 Demonstranten, aber auch 61 Polizisten. Letztere wurden durch Steine und Wurfgeschosse attackiert. Am 20. April kam es im kurdischen Regionalparlament zu einem Handgemenge, als Abgeordnete der oppositionellen Liste Goran (Veränderung) den kurdischen Innenminister Karim Sinjari über die Demonstrationen befragen wollten. Ihnen wurde das Fragerecht verweigert, woraufhin sie wütend protestierten und mit den Fäusten auf die Möbel trommelten. Im Anschluss flogen zwei Wasserflaschen auf den Parlamentspräsidenten. In Mossul wurden am 25. April, als dort rund 3.000 Menschen demonstrierten, zehn Personen (unter ihnen auch Polizisten) verletzt. Um die Proteste auf landesweiter Ebene in den Griff zu bekommen, kündigte die Regierung unter Premierminister Nuri al-Maliki am 26. April 2011 an, ein ambitioniertes Programm für Kosten in Höhe von 37 Milliarden Dollar aufzulegen, um die marode Infrastruktur des (von drei Jahrzehnten Krieg und Bürgerkrieg zerrütteten) Landes zu sanieren. Fünf Milliarden Dollar sollen etwa in die Verbesserung der Trinkwasserversorgung investiert werden, drei Milliarden in das Gesundheitswesen, sieben Milliarden in das Bildungswesen und zehn Milliarden in die Verbesserung der Transportmittel. Die Ende Februar 2011 durch al-Maliki gesetzte 100-Tage-Frist, vor deren Ablauf seine Regierung „Erfolge“ zeigen sollte, lief am 10. Juni aus. An diesem Tag lieferten sich in Baghdad Gegner und Anhänger des Premierministers Zusammenstöße. Neun Tage später, am 19. Juni 2011, wurde ein Demonstrant im süd’iraqischen Basra getötet. Dort hatten mehreren tausend Menschen gegen den Strommangel – bei fünfzig Grad Außentemperatur, die Kühlung erforderlich machen – demonstriert und den Rücktritt von Energieminister Rahim Wahid sowie des Gouverneurs der Provinz Basra gefordert. Die Mehrzahl der Scheiben der Regionalregierung wurden durch Demonstranten kaputtgeschlagen, bevor die Polizei Schüsse in die Luft abzufeuern begann. Das Königreich mit seinen rund 28,5 Millionen Einwohner/inne/n dürfte unter allen arabischen Staaten die rigideste Sozialstruktur und eines der mit Abstand übelsten Regime aufweisen. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Art von Doppelherrschaft: Die regierende Dynastie der Ibn Saud behält sich die weltliche Macht vor, tritt jedoch die Oberaufsicht über die religiösen Angelegenheiten - und die Inquisition - an die Sekte der Wahhabiten ab. Die Tugendwächter ihrer „Sittenpolizei“ terrorisieren die Bevölkerung und sorgen dafür, dass das Totalverbot jeglichen abweichenden Glaubens auf dem Boden Saudi-Arabiens eingehalten wird. Gleichzeitig ist das Königreich jedoch, dank seiner immensen Bodenschätze (v.a. Erdöl und Erdgas), fast unermesslich reich. Die weltliche Elite des Reichs ist fest in den modernen Finanzsektor des internationalisierten Kapitalismus integriert und hat rund 600 Milliarden Dollar in den USA angelegt. Als eine Form von „Ablasshandel“ für ihr „sündiges“ Treiben - um sich zu amüsieren, fahren reiche Saudis ins westliche Ausland, oder treiben es mitunter auch am Wochenende in einem der benachbarten Golfstaaten reichlich toll - duldet diese Elite im „eigenen“ Land die Inquisitorenherrschaft der Wahhabiten. Und sie finanziert, um sich das Schweigen für ihre privaten Umtriebe zu erkaufen, reichlich rechtgläubige“ Schulen, NGOs oder Aktivitäten mit fließendem Übergang in den Islamismus (inklusive seiner extremistischer oder terroristischen Varianten). Die einheimische, saudische Bevölkerung lebt dabei in ihrer Mehrheit zumindest materiell - mehrheitlich - noch immer auf einem ziemlich komfortablen Niveau. Die „Schmutzarbeit“, für die sich die allermeisten saudische Staatsbürger definitiv zu fein sind, verrichtet ein Millionheer ausländischer Arbeitskräfte. Dieses umfasst einerseits Ägypter, Jemeniten, Palästinenser und andere Angehörige ärmerer arabischer Länder, andererseits (vor allem als Domestiken, Hausmädchen, Dienstboten aller Art und oft unter sklavenähnlichen Umständen beschäftigte „private“ Lohnabhängige) Bürger von Ländern wie Pakistan, Sri Lanka, Thailand oder den Philippinen. Den Saudis sind hingegen Bürojobs und Stellen im öffentlichen Dienst reserviert. Dennoch ist auch ein wachsender Teil der nachwachsenden „einheimischen“ Generation teilweise vom Arbeitsmarkt abgeschnitten oder wird jedenfalls damit konfrontiert, im eigenen Leben Abstriche am Wohlstandsniveau der Elterngeneration machen zu müssen. Zugleich wächst sie in einer kulturellen Wüste auf, über welche die Frustration in teilen der Jugend oder der jungen Erwachsenengenerationen wächst. Ferner lebt im Osten des Staatsgebiets - in der Nähe zum Golf - eine rund zehnprozentige schiitische Minderheit, die konfessionell motivierten gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt ist. Wie bereits in der Vergangenheit, geriet sie unter dem Eindruck des „Arabischen Frühlings“ zeitweise in Bewegung. Am 27. Februar 2011 verhafteten die saudischen Behörden einen schiitischen Prediger im Osten Saudi-Arabiens, Toufic al-Aamer. In den darauffolgenden Tagen kam es zu weiteren Verhaftungen unter der schiitischen Minderheiten. Am 03. und 04. März fanden in den schiitisch geprägten Städten al-Qatif und al-Houfouf kleinere Demonstrationen (einige hundert Teilnehmer) statt, bei denen am 03. März in al-Qatif 22 Personen festgenommen wurden. Und für den 04. März wurde über Facebook zu einem „Tag des Zorns“ - nach Vorbild des ersten Demonstrationstags in Kairo, Ende Januar - 2011 - in Ost-Saudi-Arabien aufgerufen. Zwei Tage später wurde Toufic al-Aamer durch die Behörden freigelassen, ebenso wie insgesamt 26 verhaftete Protestierer. Am 10. März fand in al-Qatif erneut eine Demonstration von 600 bis 800 Personen (Männer und Frauen) statt, bei der drei Protestierende durch Schüsse verletzt wurden. Die Teilnehmer forderten die Wahl eines Parlaments, Rede- und Versammlungsfreiheit in dem Königreich sowie die Freilassung in Haft verbliebener, neun schiitischer Würdenträger. In der Hauptstadt Ar-Ryad wurde für den 11. März erstmals - über Facebook - zu einer Demonstration im Anschluss an das Freitagsgebet aufgerufen, um „Reformen“ zu fordern. Starke Polizeikräfte wurden dagegen zusammengezogen. König ’Abdallah hielt am 18. März 2011 eine Ansprache. Darin kündigte er an, in Saudi-Arabien würden keine Demonstrationen toleriert. In derselben Woche wurden rund 100 Schiiten festgenommen, die in den Städten Safwa, al-Qatif und al-Hassa aus Solidarität mit ihren Glaubensbrüdern in Bahrain (vgl. unseren Eintrag über die Golfstaaten) und gegen die dortige saudische Intervention demonstriert hatten. Das saudi-arabische Menschenrechtszentrum Human Rights First forderte ihre sofortige Freilassung. Am 20. April sprach die internationale Menschenrechtsvereinigung Human Rights Watch (HRW) von insgesamt 160 aus politischen Gründen Inhaftierten seit Ausbruch der Proteste, unter ihnen der intellektuelle „Dissident“ und Schriftsteller Nadhir al-Majid. Neben der repressiven Antwort auf die Proteste schüttete das Regime jedoch auch viel Geld aus, um sich sozusagen „den sozialen Frieden zu erkaufen“. Am 23. Februar, dem Tag, an dem er aus ärztlicher Behandlung in Marokko zurückkehrte, kündigte der 87jährige König ’Abdallah eine Serie sozio-ökonomischer Maßnahmen für Gesamtkosten in Höhe von 37 Milliarden Dollar an. Dazu zählten um 15 % erhöhte Subventionen für den Wohnungsbau, finanzielle Zuwendungen für Sportvereine und Kulturzentren, eine allgemeine Amnestie für zuvor begangene Finanzdelikte wie das Ausstellen ungedeckter Schecks, und die Einführung einer Arbeitslosenunterstützung mit zwölfmonatiger Dauer. In seiner Ansprache vom 18. März erhöhte der König das dafür zur Verfügung gestellte Budget von 37 auf 67 Milliarden Dollar. So sollten rund fünf Milliarden zusätzlich für Krankenhäuser und medizinische Forschungszentren zur Verfügung stehen. Die Löhne sollten zwecks Ausgleich der Preissteigerungen um 15 % erhöht werden, ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 3.000 Riyal (800 Dollar) solle eingeführt und das Arbeitslosengeld auf 2.000 Royal (rund 550 Dollar) monatlich angesetzt werden. Zu seinen Ankündigungen in derselben Rede zählten ferner der Erlass eines Dekrets für den Bau von 500.000 Wohnungen, aber auch die Schaffung von zusätzlichen 60.000 Stellen bei Armee und Polizei an. Auch verkündete er die Erhöhung der Mittel für die Sittenpolizei, um Angriffe aller „Feinde des Islam“ abzuwehren. Und er bezeichnete Armee und Polizei als „das Schutzschild des Königreichs“, denen er sein ausdrückliches Vertrauen ausspreche. In den darauffolgenden Wochen war von Protesten in Saudi-Arabien kaum noch die Rede, oder aber die Nachrichten darüber konnten nicht mehr draußen dringen. Im Laufe des Mai und Juni 2011 sorgten allerdings manche Frauen Saudi-Arabiens mit einem punktuellen Kampf gegen ihre extreme Diskriminierung für Aufmerksamkeit. Es handelte sich um den öffentlichen Protest gegen das absolute Autofahrverbot, das in Saudi-Arabien gilt. Am 22. und 23. Mai wurde zwei mal hintereinander die 32jährige Informatikerin Manan al-Sharif festgenommen, die sich - mit Unterstützung ihres Ehemanns - in der Stadt Khobar hinter das Steuer eines Autos gesetzt und einen kleinen Videofilm davon im Internet veröffentlicht hatte. Rund 300 Personen unterzeichneten innerhalb von 24 Stunden eine Petition für ihre Freilassung. Über Internet und Facebook riefen Manan al-Sharif, die nach fünf Tagen freigelassen worden war, und andere Frauen für den 17. Juni 2011 zu einer öffentlichen Autofahr-Aktion auf. Sie forderte solche Geschlechtsgenossinnen, die einen ausländischen Führerschein besitzen - da sie in Saudi-Arabien selbst keine Fahrprüfung ablegen konnten, also sonst als fahruntauglich gelten mussten -, zur Beteiligung auf. Als Reaktion darauf forderten reaktionäre Kreise im Rahmen einer „Kampagne des Iqal“ (al-Iqal ist die harte Schnur der landesüblichen Kopfbedeckung von Männern) alle männlichen Saudis dazu auf, Frauen, die sich zu einer Teilnahme erdreisteten, zu schlagen. Am 17. Juni machten rund sechzig Frauen ihre Ankündigung zum Protest wahr, fünf von ihnen wurden in Djidda am Roten Meer festgenommen. Anfang Juli 2011 wurden Pläne der deutschen Bundesregierung bekannt, 200 Panzer vom Typ Leopard an Saudi-Arabien zu verkaufen. Kritiker/innen befürchten, diese könnten gegen Revolten im arabischen Raum zum Einsatz kommen. Ähnlich wie in Saudi-Arabien wurde die Mehrzahl der Golfländer nur kurzfristig durch die Proteste des „Arabischen Frühlings“ berührt. Die soziale und politische Situation in diesen – oft kleinen – Staaten kennzeichnet sich weitgehend durch eine starke Konzentration von Reichtümern (infolge der Lagerstätten von Erdöl und Erdgas) und die Konservierung überkommener, feudaler Gesellschaftsstrukturen. Armut und Ausbeutung existieren, betreffen aber oft nicht die Staatsbürger der jeweiligen Länder, sondern ein Millionen Köpfe zählendes Proletariat und Subproletariat, das im Ausland rekrutiert worden ist. (Vgl. unsere Ausführungen im Eintrag zu Saudi-Arabien) In der Mehrzahl der Golfstaaten kam es im ersten Halbjahr 2011 nur zu kurzen Protesten. In der kleinen, aber schwerreichen Erdölmonarchie Kuwait etwa kam es am 08. März zur Demonstration von einigen Hundert Menschen vor dem zentralen Regierungsgebäude. Sie forderten „Reformen“ und mehr Freiheitsrechte. Dazu war über Twitter aufgerufen worden. Die Gruppe Kafi (Es reicht) rief zu „permanenten Sit-ins“ auf. Zuvor war es am 18. Februar in der Ortschaft Jahra zu Zusammenstößen zwischen Polizeikräften und nicht-kuwaitischen Arabern, die die Staatsbürgerschaft des Emirats forderten, gekommen. Letztere kosteten mindestens 30 Verletzte und 50 Festnahmen. (Nur ein Drittel der 3,5 Millionen Einwohner besitzt die kuwaitische Staatsangehörigkeit, die sehr restriktiv verliehen wird. 1,15 Millionen Kuwaitern stehen 2,4 Millionen „Ausländern“ gegenüber.) Nachdem jedoch am 08. März 2011 auch junge kuwaitische Staatsbürger – unterstützt durch zehn Gruppierungen: Islamisten, Liberale und Linksnationalisten – protestiert hatten, ging die Regierung darauf ein und versprach zusätzliche Ausgaben für eine bessere Versorgung. Das Emirat hat in den letzten fünf Jahren insgesamt 330 Milliarden Dollar ausgegeben (die jedoch oft an den Bedürfnissen von Teilen der Bevölkerung vorbei versickerten) und verfügt über 300 Milliarden an Reserven. Am 30. März trat die Regierung des bisherigen Premierministers Nasser Mohammed al-Ahmad as-Sabah, gegen den seit fünf Jahren Korruptionsvorwürfe erhoben worden war, zurück. Hochinteressante Bewegungen gab es jedoch während des „Arabischen Frühlings“ 2011 in den – relativ – ärmeren Golfstaaten, dem Sultanat ’Oman und insbesondere dem Königreich Bahrain als der mit Abstand ärmsten Golfmonarchie. In dem knapp drei Millionen Einwohner zählenden Sultanat ’Oman, das seit 1971 durch Sultan Qabus Ibn Said (er öffnete das Land erstmals seit längerem zur Außenwelt) regiert wird, kam es seit Anfang 2011 unter Protesten unter Beteiligung vor allem von jüngeren Arbeitslosen, von Erdöl- und Hafenarbeitern. Allerdings waren daran aktiv oft nur einige Hundert Personen beteiligt, da das Land eher bevölkerungsarm ist und die Gesellschaft zudem an eine Mischung aus „gutmütigem“ Paternalismus und Repression gewöhnt worden ist. Am 17. Januar protestierten erstmals rund 200 Personen in Maskat, forderten Lohnerhöhungen, Maßnahmen gegen steigende Preise und politische Reformen. Im darauffolgenden Monaten verkündete Sultan Qabus daraufhin – um eine befürchtete Ausweitung von Protesten zu verhindern -, den gesetzlichen Mindestlohn in der Privatwirtschaft von zuvor 364 auf 520 Dollar pro Monat anzuheben. Doch am 18. Februar demonstrierten erneut rund 300 Männer und Frauen im Zentrum von Maskat. Am 27. Februar 2011 wurden bei einer Demonstration von rund 250 Arbeitslosen in der Hafenstadt Sohar – rund 200 Kilometer nördlich von Maskat – erstmals zwei Protestierende getötet (die Regierung sprach von einem Toten und einem Schwerverletzten). Und fünf weitere wurden durch Gummigeschosse verletzt. Auch wurden Autos angezündet. Am darauffolgenden Tag schlugen Dutzende von Protestierende in derselben Stadt Zelte auf und campierten auf dem „Platz der Erde“, den sie in „Platz der Reform“ umtauften. Alsbald forderten sie auch den Rücktritt von Sultan Qabus und Prozesse gegen Minister (für Wohnungsbau und für Justiz), die der Korruption beschuldigt wurden. In Reaktion darauf versprach der Sultan die Erweiterung der Mitspracherecht des Parlaments, die „Schaffung von 50.000 Arbeitsplätzen“ sowie die Einführung eines Arbeitslosengelds in Höhe von 390 Dollar. Ihrem Sit-in bereitete einen Monat später, am 29. März, die Armee ein Ende. Mehrere Personen wurden wegen „Eingriffs in den Straßenverkehr“ und „Angriffen auf Polizisten“ festgenommen. Am 1. April wurde bei Protesten dagegen ein Demonstrant getötet. Am 20. März protestierten unterdessen rund 200 Lohnabhängigen in zwei Erdöl-Raffinerien des Landes und forderten auf einer Demonstration Lohnerhöhungen. In den darauffolgenden Wochen wurden mehrere hundert Demonstranten im ganzen Land festgenommen. Doch am 20. April verkündete Sultan Qabus die „Begnadigung“ von 234 verhafteten Protestierern. Parallel dazu kündigte er an, 1,8 Milliarden Euro an Ausgaben bereitzustellen, „um die Forderungen zu erfüllen“. Am 08. Mai kam es bei einer Demonstration von Arbeitslosen in Jalaan Bana Bu’Ali im Osten des Landes zu „Gewalttaten“ und „Sabotagehandlungen“ bzw. „Akten des Vandalismus“. Am 14. Mai verhafteten die Sicherheitskräfte in Salalah Dutzende von Protestierenden, die Arbeitsplätze und höhere Löhne gefordert hatten. 55 der Festgenommenen vom 08. Mai wurden später, am 28. Juni 2011, zu Haftstrafen zwischen einem Monat und einem Jahr verurteilt. Das Epizentrum der Proteste in den Golfländern in der ersten Jahreshälfte 2011 war Bahrain. Die kleine Golfmonarchie mit rund 1,2 Millionen Einwohner/inne/n liegt auf einer Insel im Arabisch-persischen Golf, vor den Küsten Saudi-Arabiens und westlich der Halbinsel Qatar. Der Landesname bedeutet so viel wie „Zwei Meere“ und rührt daher, dass das länglich gestreckte Land auf beiden Seiten vom Golf umspült wird. Der Staatshaushalt von Bahrain wird zwar nach wie vor zu rund 70 % von Erdöl- und Erdgas-Exporten finanziert. Nur ein Drittel des Rohöls wird dabei durch Bahrain selbst gefördert; zu zwei Dritteln handelt es sich um Einnahmen aus der Erdölförderung auf Ölfeldern, die im gemeinsamen Eigentum Saudi-Arabiens und Bahreins stehen. Die Gelder werden durch Saudi-Arabien an den kleinen Nachbarstaat abgeführt. Doch in Bahrain ist der Erdöl-Anteil bereits abgesunken, und das Land ist sich darüber bewusst, dass die Vorräte des Rohstoffs zur Neige gehen – ein Prozess, der den anderen Ländern am Golf zum größeren Teil erst noch bevorsteht. Bahrain hat infolgedessen in den letzten Jahren stark auf eine Spezialisierung im Banken- und Finanzsektor gesetzt, genauer, in der „islamischen Finanz“. Letztgenannter Sektor beruht darauf, dass im Islam das Zinsennehmen theoretisch verboten ist, und entwickelt stattdessen ein System von „Gebühren“, um dennoch profitabel zu arbeiten. Dieser Sektor ist in jüngerer Zeit gewachsen und hat sich in die globalen Finanzmärkte integriert. Das kleine Land ist zum „Tor“ für viele, vor allem finanzkapitalistische, Investitionen in der gesamten Golfregion geworden. Gleichzeitig ist die Armut-Reichtums-Verteilung noch ungleicher als zuvor. Rund 70 % der Bevölkerung gehören der schiitischen Glaubensrichtung an und sind im eigenen Land benachteiligt und diskriminiert, denn das Herrscherhaus der bahrainischen Monarchie – seit dem Jahr 1783 christlicher Zeitrechnung an der Macht - hängt selbst der sunnitischen Konfession an. Unterdessen hat die bahrainische Politik und Wirtschaft in den letzten Jahren zunehmend qualifizierte Fachkräfte aus den sunnitisch dominierten Nachbarländern angezogen, die die besser dotierten Stellen besetzen. Dadurch wächst das Gefühl der Diskriminierung bei der Bevölkerungsmehrheit. Als Antwort auf Proteste hat die Regierung allerdings „Qualifizierungsmaßnahmen“ für bahrainische Einheimische durchgeführt, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Politische Parteien sind im Land juristisch verboten. Doch organisieren sich die politischen Strömungen in Clubs oder „Gesellschaften“ (society), die nicht formell den Parteienstatus aufweisen. Die wichtigsten waren in den letzten Jahren die schiitisch geprägten und eher reformerisch ausgerichteten Vereinigungen Al-Haq („Das Recht“) oder Al-Wifaq (auch Al-Wefaq; „Die Eintracht“). Letztere hatte bis zu den Protesten, unter dem Fraktionsnamen Al-Wefaq Islamic Society Bloc, 18 von insgesamt 40 Sitzen im bahrainischen Parlament inne. Die Proteste im ersten Halbjahr 2011 in Bahrain wurden einerseits durch Angehörige der schiitischen Bevölkerungsmehrheit getragen, darunter Anhänger und Funktionsträger der bestehenden schiitischen de facto Parteien, aber auch Angehörige des schiitischen Klerus. (Die Ausstrahlungskraft des „iranischen Modells“ – in welchem ein Teil des schiitischen Klerus unmittelbar die politische Herrschaft ausübt - dürfte jedoch, aufgrund der geographischen Nähe zum real existierenden Iran, auch in diesen Kreisen eher gering ausfallen. 1981 hatte eine pro-iranische schiitische Partei einen Staatsstreich in Bahrain versucht, aber die Realität im Iran hat seitdem die Attraktivität des „Modells“ nicht eben bekräftigt.) Andererseits befanden sich aber auch progressive Angehörige der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit, also links orientierte oder mit Demokratieforderungen sympathisierten Sunniten - etwa von der National Democratic Alliance und vor allem ihrer Mitgliedspartei Waad(National Democratic Action Society) unter Ibrahim/Ebrahim Scharif, oder dem Bahrain’s Progressive Democratic Forum -, unter den Protestierenden. Vor Ausbruch der Proteste hatte Al-Wifaq, als stärkste Oppositionsströmung, sich im Parlament mit einer liberalen sunnitischen Strömung verbündet. Am 14. Februar 2011 begann in der Hauptstadt von Bahrain, Manama, der durch die Ereignisse in Ägypten inspirierte Protest. Das Datum lag nicht nur drei Tage nach der Abdankung des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak unter dem Druck der Massenproteste, sondern bildete auch den zehnten Jahrestag der Unterzeichnung der bahrainischen National Action Charter. Also eines Reformentwurfs, der im Jahr 2001 bei einer Volksabstimmung mit 98,4 % der Stimmen angenommen, jedoch nie verwirklicht wurde - da die Monarchie im Jahr 2002 im Anschluss an eine „Reform“periode eine reaktionäre Kehrtwende vollzog und (ihrerseits am 14. Februar jenes Jahres) einseitig eine autoritäre Verfassung proklamierte. Demonstranten an verschiedenen Orten forderten zunächst politische Reformen, wie eine stärkere Partizipation der Bevölkerung einschließlich ihrer schiitischen Mehrheit. Dazu war zunächst auf Facebook aufgerufen worden. Im Laufe der Tage kamen jedoch verstärkt ökonomische Forderungen nach Arbeitsplätzen und Wohnungen hinzu. Diese Dimension ist nicht neu, bereits zwischen 1994 und 1999 war es zu einer „Intifada“ mit überwiegend sozialen Ursachen gekommen. Ihr Ausgang hatte damals einen Generationswechsel auf dem Thron beschleunigt und auch zu sozialen Reformen, wie der erstmaligen Einführung einer Arbeitslosenhilfe (von sechsmonatiger Dauer), geführt. Die Arbeitslosigkeit in Bahrain beträgt offiziell nur 3 bis 4 %, real wird sie jedoch allgemein auf 15 bis 20 % - überwiegend Angehörige der jungen Generation - geschätzt. Die Löhne in der privaten Wirtschaft, wo rund 60 % der Erwerbstätigen beschäftigt sind, bleiben oft sehr tief. Nachdem die Sicherheitskräfte am 14. und 15. Februar Demonstrationen in schiitisch geprägten kleineren Städten – wie Nouidrat im Osten Bahrains – und Orten rund um Manama gewaltsam auflösten, wobei zwei junge Schiiten zu Tode kamen (dafür entschuldigten sich Innenminister Raschid ben Abdallah Al-Khalifa und König Hamad ben Issa Al-Khalifa dieses Mal noch ausdrücklich im Fernsehen), verlagerte sich der Protest ins Zentrum der Hauptstadt. Dort strömten am 15. Februar Tausende von Protestierenden auf dem im Finanzdistrikt von Manama gelegenen „Platz der Perle“ zusammen, und besetzten ihn rund um die Uhr. Der „Perlenplatz“ – den die Tausende von Demonstranten alsbald in Maidan Tahrir („Platz der Befreiung“) nach Kairoer Vorbild oder auch in „Platz der Märtyrer“ umtauften - hieß so, weil sich dort das knapp 100 Meter hohe Monument befand, das anlässlich eines Gipfels des Gulf Cooperation Council (CCG, „Golfkooperationsrat“) in den 1990er Jahren eingeweiht worden war. Es bestand aus mehreren aufeinander zulaufenden Betonstreben, die sich an der Spitze trafen. Auf ihnen ruhte eine große Kugel, die eine Perle symbolisierte. (Das Monument ist inzwischen zerstört worden: Es wurde am 18. März d.J. auf Anordnung des Herrscherhauses mit Hilfe von Bulldozern abgerissen, da es zum Symbol der Protestbewegung schlechthin geworden war.) In der Nacht vom 16. zum 17. Februar 2011 griffen Einheiten der Anti-Aufruhr-Polizei ein und versuchten, die Tag & Nacht auf dem Platz campierenden Demonstranten (zu dem Zeitpunkt rund 3.000) gewaltsam zu zerstreuen. Dabei wurden über 50 Menschen verletzt, zehn von ihnen schwer, nachdem die Polizeikräfte ohne Vorwarnung Tränengas, Gummigeschosse und möglicherweise auch scharfe Munition mit Splittereffekt eingesetzt hatten. Die Demonstranten Mahmoud Makki Ali (22) und Ali Mansour Ahmed Khoder (52) starben dabei, zwei weitere erlagen Stunden später ihren Verletzungen. Ferner wurden 230 Personen verletzt, 60 blieben vorläufig „verschwunden“, und ein US-Journalist wurde zusammengeschlagen. Die ganze Nacht hindurch beteten Demonstranten vor dem Salmaniya-Krankenhaus in Manama, wo die Verletzten behandelt wurden. Im Laufe des 17. Februar zog die Armee Dutzende von Panzern rund um das Protestzentrum auf dem „Perlenplatz“ zusammen. Die Armee, deren Oberkommandierender Kronprinz Salman ist, besteht nur zu einem sehr geringen Teil aus Bahrainern und überwiegend aus - sunnitischen - Söldnern aus Ländern wie Jemen, Jordanien, Syrien oder dem ’Iraq. Am darauffolgenden Tag – Freitag, den 18. Februar – riegelte die Armee die Hauptstadt Manama ab. Die Regierenden fürchteten die Mobilisierung anlässlich des Trauerzugs für Mahmoud Makki Ali und Ali Mansour Ahmed Khoder. Bei ihrer Beerdigung in Sitra, einem Vorort von Manama, versammelten sich Tausende von Menschen zum Protest und riefen „Weder Schiiten noch Sunniten, nationale Einheit!“ und „Sunniten und Schiiten sind Brüder“ sowie (wie in Ägypten) „Das Volk will den Sturz des Regimes“. Zeitgleich wurde bei einem anderen Trauerzug in Sitra der 22jährige Ali Ahmed Moumen, dessen Körper Verletzungen von zahlreichen Gummigeschossen aufwies, beerdigt. Und in Kharzakhan, im Zentrum des Landes, wurde der 60jährige Issa Abdel Mohsen zu Grabe getragen. Parallel dazu zerstreute die Polizei am Nachmittag zahlreiche Demonstranten vor einem Krankenhaus in Manama. Rund 1.000 Protestierende, die sich auf dem Rückweg von der Beerdigung befanden und sich auf den „Platz der Perle“ begeben wollten, wurden durch Armee und Polizei aufgehalten. Die Soldaten eröffneten das Feuer, dabei wurden 55 Menschen verletzt, einer von ihnen starb wenig später, nachdem er einen Kopfschuss erhalten hatte. Kronprinz Salman erklärte kurz darauf, er trete für „Reformen“ und einen „Dialog“ ein, „sobald die Ruhe wiederhergestellt ist“. Die Opposition ihrerseits forderte einen Rücktritt der Regierung und einen Abzug der Armee vom „Platz der Perle“, bevor von einem „Dialog“ die Rede sein könne. Am selben Tag (18. Februar 2011) kündigten nacheinander Frankreich und Großbritannien an, die Lieferung von „Sicherheitsmaterial“ und Ausrüstung an die Sicherheitskräfte von Bahrain vorläufig einzustellen. Aus diesem Anlass erfuhr die Öffentlichkeit, dass Frankreich die „königliche Garde“, die Elite der Streitkräfte von Bahrain, ausbildete und trainierte. Ferner hatte die französische Bereitschaftspolizei (CRS) die Anti-Aufstands-Polizei von Bahrain ausgebildet, kraft eines „Abkommens zur Zusammenarbeit bei der Inneren Sicherheit“, das im November 2007 in Paris abgeschlossen worden war. London annullierte 44 Exportverträge über „Sicherheitsmaterial“ mit Bahrain. Am Vormittag des 19. Februar zog sich die Armee vom „Perlenplatz“ zurück. Alsbald strömten Tausende von Demonstranten dorthin und errichteten Zelte. Die Polizei griff nicht ein, abgesehen von einem kurzen Tränengaseinsatz, infolge dessen sechs Personen stationär behandelt werden mussten. Am selben Tag rief die Gewerkschaftsvereinigung General Federation for Bahrain Trade Unions (GFBTU, unter Salman Jaffar Al-Mahfoodh) zu einem „unbefristeten Generalstreik“ ab dem 20. Februar auf, bei dem jedoch eine Grundversorgung mit Strom und Trinkwasser gewährleistet bleiben solle. Am 20. Februar (an dem auch ein siebter Demonstrant an seinen zuvor erlittenen Verletzungen starb) hoben die Gewerkschaften im Laufe des Tages ihren Streikaufruf jedoch wieder auf, da der „Perlenplatz“ wieder zugänglich und das Demonstrationsrecht nunmehr gewährleistet sei. Parallel dazu leitete die Opposition einen vorsichtigen „Dialog“ mit den Regierenden, auf deren Seite Kronprinz Salman die Gespräche führte, ein. In den folgenden Tagen gingen die Proteste weiter, am 21. Februar etwa protestierten rund 10.000 Menschen auf dem Platz, unter ihnen 1.500 streikende Lehrer/innen. Zunehmend wurden unter ihren Forderungen nach einem Ende der Monarchie laut. Am selben Tag fand erstmals auch eine Pro-Regierungs-Demonstration von mehreren Tausend Menschen statt, welche sich rund um die sunnistische Al-Fateh-Moschee versammelten. Ebenfalls am 21. Februar kündigte die Regierung die Freilassung und Begnadigung von 23 schiitischen Oppositionellen, die seit Oktober 2010 unter „Terrorismus“anklage gestellt und inhaftiert sowie mutmaßlich gefoltert worden waren, an. Am selben Tag musste sie die Annullierung des für den 13. März in Manama geplanten „Formel 1“-Autorennens (ein Privatvergnügen der Herrscherfamilie) ankündigen. In den Protesten wurde teilweise eine konstitutionelle Monarchie gefordert, teilweise wurden aber auch immer stärker Forderungen nach einem Abgang der Herrscherfamilie laut. Am 22. Februar kam es zu noch größeren regimefeindlichen Demonstrationen in der Hauptstadt Manama; auf der Avenue, die zum „Perlenplatz“ führte, erreichte der Protestzug eine Länge von drei Kilometern und umfasste mehrere Zehntausend Menschen. Am darauf folgenden Tag wurden 308 Häftlinge freigelassen, unter ihnen die o.g. 23 schiitischen Oppositionellen und rund 100 weitere politische Häftlinge. Gleichzeitig sprach der Leiter des Bahrain Center for Humain Rights, Nabil Rajab, davon, nach wie vor seien 300 weitere politische Häftlinge hinter Gittern. Am 25. Februar reiste König Hamad ben Issa Al-Khalifa daraufhin nach Saudi-Arabien, um sich beim mächtigen Nachbarn Rückendeckung zu holen, während am selben Tag Zehntausende Demonstranten im Zentrum von Manama „Das Volk will den Sturz des Regimes!“ riefen. Die Regierungsumbildung vom selben Tag – in Gestalt des Austauschs von drei Ministern, mit Zuständigkeit für Wohnungsbau, Gesundheit sowie Strom- & Wasserversorgung – konnte die Protestierenden jedenfalls nicht zufriedenstellen. Zwei Tage später, am 27. Februar, erklärten die 18 Abgeordneten der schiitischen Opposition geschlossen ihren Rücktritt aus dem 40köpfigen Parlament. Am 1. März kam es zu weiteren Protestdemonstrationen und am folgenden Tag zu einer Pro-Regierungs-Demonstration, zu welcher dem Staatsfernsehen zufolge (das die Zahlen erheblich aufblies) angeblich „300.000“ Personen kamen. Zeitgleich zu ihr protestierten Regimegegner vor dem Innenministerium und antworteten auf die erneuerten „Dialog“-Angebote der Regierung, auf die ein Teil der Opposition eingegangen war: „Kein Dialog mit Mördern!“ Am 03. März kam es in der Stadt Hamad zu erstmaligen direkten, handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten, an denen rund 100 Personen teilnahmen. Verletzte wurden in Krankenwagen abtransportiert. Aufgrund der manipulatorischen Berichterstattung des Staatsfernsehens während der letzten Tage protestierten am 04. März Tausende von Oppositionellen vor dessen Sitz in Manama. Die Regierung gab einen Plan zum Bau von 50.000 fehlenden Wohnungen bekannt, während drei schiitische Organisationen – unter ihnen die als relativ „radikal“ geltende de facto Partei Al-Haq (Das Recht) – am 08. März die Ablösung des Herrscherhauses durch „eine Republik“ forderten. Eine Zuspitzung widerspiegelte sich darin, dass ein Teil der Opposition für den Freitag, 11. März zu einem Marsch auf den Königspalast in Riffa (seiner Stadt mit 100.000 Einwohnern im Zentrum Bahrains) aufrief. Am Vortag sagten die wichtigsten Oppositionsverbände ihn jedoch ab, „um die Spannungen zu beruhigen“. Einige Tausend Menschen – 8.000 laut dem Innenministerium – demonstrierten dennoch an jenem Tag vor dem Palast, wo sie mutmaßlich unter Einsatz von scharfer Munition und Tränengas (welchen die Regierung jedoch dementierte) auseinandergetrieben wurden. Am 13. März versuchten rund 350 Demonstranten – laut Zahlen der Regierung -, den Zugang zum Finanzdistrikt von Manama (Financial Harbour) durch eine Menschenkette zu blockieren, woran die Polizei sie jedoch hindern konnte. Acht Polizisten wurden laut Regierungsangaben dabei verletzt. Weitere Hunderte von Demonstranten befanden sich gleichzeitig auf dem Weg dorthin. Doch am 14. März blockierten Demonstranten erneut, und dieses Mal erfolgreich, den Zugang zum Zentrum von Manama und vor allem zum Finanzdistrikt. Gleichzeitig legte ein Generalstreik der Union der Gewerkschaften (GFBTU), die gegen „die Unterdrückung von Demonstrationen“ protestierten, das Leben in der bahrainischen Hauptstadt zum Großteil lahm. In Anbetracht der Ausweitung und Radikalisierung der Proteste entschied sich der König für die Flucht in die blanke Repression und rief die mächtigen Monarchien der Region zu Hilfe. Am 14. März 2011 überschritten Truppen des „Golfkooperationsrats“ (GCC) die Grenzen zu Bahrain. Über die 24 Kilometer lange Brücke, welche die Insel mit dem Festland (dem Osten Saudi-Arabiens) verbindet, rückten zunächst 1.000 saudische Soldaten in den kleinen Staat ein. Die Vereinigten Arabischen Emirate ihrerseits kündigten die Entsendung von 500 Polizisten an. Diese Kontingente bildeten die Voraustruppe für die insgesamt 3.500 Mann (inklusive einer saudischen Panzerbrigade), die der GCC Bahrain zur Verfügung stellte. Seit 1984 verfügt der „Golfkooperationsrat“ über gemeinsame Streitkräfte für Krisenfälle – besonders innere Unruhen - unter dem Titel „Schild der Halbinsel“, die aus diesem Anlass aktiviert wurden. Der Gulf Cooperation Council umfasst derzeit sechs monarchisch regierte Golfstaaten, die ausschließlich konserativ-feudal ausgerichtet sind. Nunmehr ist für die nähere Zukunft, bis 2018, eine Ausdehnung des GCC durch Aufnahme der beiden Monarchien Jordanien und Marokko – obwohl beide weit vom Golf entfernt sind – geplant. In der Praxis scheinen die saudischen Truppen kaum unmittelbar in die Repression in Bahrain eingegriffen zu haben; doch ihre Präsens erlaubte es den örtlichen Sicherheitsorganen, ihre Kräfte von vielen Plätzen abzuziehen und sich auf die Bekämpfung von Oppositionellen zu konzentrieren. Am 15. März 2011 rief der bahrainische Herrscher für drei Monate den Ausnahmezustand aus. Am selben Tag zogen Tausende von Regimegegnern vor die Botschaft in Manama und skandierten „Schiiten und Sunniten, wir sind alle vereint“, während die Opposition die ausländische Intervention heftig kritisierte. Die offene Einmischung Saudi-Arabiens wiederum diente dem iranischen Regime – das seine „Besorgnis“ erklärte - zum Anlass, um sich zum angeblichen Schirmherrn für die bahrainischen Schiiten aufzuschwingen. Bis dahin hatte die iranische Diktatur sich im Hinblick auf die inneren Belange Bahreins mit Äußerungen eher zurückgehalten, und eine staatsoffizielle „Solidarität“ aus Teheran wäre den Schiiten auf der Insel auch nicht unbedingt willkommen oder hilfreich gewesen. Nunmehr drohte die innere Opposition jedoch zwischen den regionalen Großmächten zerrieben zu werden. Noch am selben Tag (15. März) wurden in der schiitisch geprägten Stadt Sitra - südlich von Manama - bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und „bewaffneten Banden“ in Zivil, die sichtbar durch die Polizei unterstützt wurden, 200 Regimekritiker durch Schüsse mit Schrotmunition verletzt. Am frühen Morgen des 16. März begann die Anti-Aufruhr-Polizei mit Unterstützung der Armee den Sturm auf den „Platz der Perle“, wo in den vorausgegangenen Wochen pausenlos Protestierende campiert hatten. Und die Sicherheitskräfte brachen mit Hilfe von Bulldozern, Lastwagen und Panzern die Zufahrtstraßen zum blockierten Finanzdistrikt auf. Drei Demonstranten wurden getötet und unzählige verletzt; das Regime sprach seinerseits von zwei getöteten Polizisten. Auch in den schiitisch dominierten Ortschaften rund um Manama kam es zu Zusammenstößen. Der Iran berief seinen Botschafter in Manama ab. Zwölf Richter schiitischer Konfession in Bahrain legten ihre Ämter nieder. Die Monarchie verhängte eine abendliche und nächtliche Ausgangssperre. In der darauffolgenden Nacht (16./17. März) wurden sechs Oppositionsführer verhaftet, fünf Schiiten und ein progressiver Sunnit. Unter ihnen befanden sich der Generalsekretär der schiitischen Partei Al-Haq, Hassan Machaimaa, welcher erst am 26. Februar (infolge einer Begnadigung durch den König) aus dem Londoner Exil zurückgekehrt war, und der Menschenrechtsaktivist Abdeljalil al-Singace, der derselben Partei zugehört. Am 17. März eröffnete die Polizei das Feuer auf schiitische Demonstranten in der Ortschaft Deih. Am 21. des Monats erklärte der Monarch, Bahrain habe „ein ausländisches Komplott vereiteln“ können. Ohne ihn beim Namen zu nennen, stellte er dabei auf den Iran ab, dessen Regime am Vortag einen bahrainischen Diplomaten ausgewiesen hatte und einen Abzug „der ausländischen Truppen“ aus Bahrain forderte. Die folgenden Wochen waren im Lande vor allem durch die Repression geprägt, nachdem die Gesamtbilanz der Niederschlagung der Proteste bis dahin 24 Tote erreicht hatte. (Zwanzig Demonstranten und vier Polizisten starben laut offiziellen Angaben, ferner verstarben vier Festgenommene in Polizeigewahrsam oder Haft.) Gegen die schiitischen Oppositionskräfte Al-Wefaq und Al-Haq wurden Verbotsverfahren durch die Justiz eingeleitet. Abhängig Beschäftigte, die sich an den Demonstrationen oder an Streiks beteiligt hatten, wurden entlassen. Schiitische Lohnabhängige wurden durch ihre sunnitischen Arbeitskollegen mit Argwohn beobachtet. Ärztinnen und Ärzte aus den Krankenhäusern wurden festgenommen und mit Strafverfolgungen bedroht, weil sie Verletzte infolge der Demonstrationen behandelt hatten. Ihnen wird seitens des Regimes vorgeworfen, angeblich „die Anzahl der Verletzten für die internationalen Medien aufgebläht und übertrieben“ zu haben. Ärztinnen und weibliche Angehörige des medizinischen Personals haben von Folter und Vergewaltigungsdrohungen berichtet. Am 20. Juni wurde in Manama der Prozess gegen 24 Ärztinnen und Ärzte sowie 23 Krankenschwestern eröffnet. Belastungszeugen sagten aus, sie hätten den Inhalt von Blutkonserven über Verletzten ausgeschüttet, um so vor ausländischen Fernsehkameras einen dramatischen Eindruck zu erzeugen. Am 19. Mai 2011 wurden neun schiitische Oppositionelle zu je zwanzig Jahren Haft verurteilt. Am 13. Juni wurde eine zwanzigjährige junge Frau – Ayat al-Gormezi – dafür, dass sie Gedichte verfasst hatte, zu einem Haft Jahr verurteilt; ihre Poesie wurde als „beleidigend für das Königshaus“ gewertet. Amnesty international berichtete, sie sie zuvor gefoltert worden. Am 22. Juni 2011 wurden erneut mehrere Oppositionelle, die an den Demonstrationen teilgenommen hatte, abgeurteilt. Acht unter ihnen erhielten lebenslängliche Haft, dreizehn weitere Haftstrafen zwischen zwei und fünfzehn Jahren. Unterdessen hatte der Monarch zum 01. Juni 2011 den Ausnahmezustand – nach zweieinhalb Monaten – aufgehoben, im Glauben, die Situation im Lande habe sich „beruhigt“. Am selben Tag kam es zu Versuchen kleiner Gruppen von jüngeren Einwohnern, in den schiitischen Ortschaften rund um Manama Demonstrationen durchzuführen. Alle Menschenansammlungen wurden jedoch durch die Polizei mit Tränengas- und Schusswaffeneinsatz unterbunden. In den Straßen von Duraz konnten sie kurzzeitig demonstrieren und, wie schon in den Massenprotesten im Februar/März, die bahrainische Flagge zeigen (um sie für die Bevölkerungsmehrheit zu reklamieren). Am 06. Juni kam es erneut zu ähnlichen „Zwischenfällen“, und Demonstranten wurden festgenommen. Am 02. Juli 2011 wurde in der Hauptstadt Manama ein „nationaler Dialog“ in Anwesenheit von 300 Persönlichkeiten aus Politik und „Zivilgesellschaft“ eröffnet. An ihm nahmen eine Reihe schiitischer Oppositionspolitiker einschließlich Vertretern des Wefaq-Blocks teil, während US-Präsident Barack Obama die Einleitung des „Dialogs“ durch das Regime begrüßte. Kurz nach Eröffnung der Gespräche demonstrierten 500 Menschen in Manama, in der Nähe des (früheren) „Perlenplatzes“, und wurden durch die Polizei auseinandergetrieben. Der Jemen ist (neben Mauretanien) eines der mit Abstand ärmsten arabischsprachigen Länder, zählt aber auch unter den Staaten des Planten insgesamt zu den „Schlusslichtern“, was den materiellen Lebensstandard betrifft. Das Bruttosozialprodukt lag in den letzten Jahren bei rund 1.000 Dollar pro Kopf und pro Jahr, womit das Land im Jahr 2010 den 188. Platz unter 213 Ländern belegte. Die Hälfte der Einwohner lebt mit weniger als zwei Dollar pro Tag. Einen Löwenanteil der Ökonomie des Jemen macht noch immer die Landwirtschaft (Viehzucht eingeschlossen, besonders von Schafen, Ziegen und Rindern) aus: Auf sie entfallen zwar nur 10 Prozent des Bruttosozialprodukts, jedoch drei Viertel der erwerbstätigen Bevölkerung des Landes. Die Landwirtschaft hat mit steigendem Wassermangel zu kämpfen. Der Jemen verfügt zwar über Erdöleinnahmen, die jedoch in den vergangenen Jahren zurückgingen - einerseits aufgrund (seit 2008) sinkender Weltmarktpreise für Rohöl, andererseits aber auch, weil die Ölvorkommen im Vergleich etwa zum Nachbarland Saudi-Arabien relativ geringfügig sind und abnehmen. Ein wachsender Teil dieser Einnahmen muss für Lebensmittelimporte, von denen der Jemen für die Ernährung seiner Bevölkerung abhängt, ausgegeben werden. Die Erdöl-Exporterlöse machen rund ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts, aber 70 Prozent der Einnahmen der Regierung aus. Die „Öl-Rente“ wird überwiegend von den politischen Machthabern abgeschöpft. Als drittes Element bilden die Überweisungen jemenitischer Arbeitsmigranten, etwa aus Saudi-Arabien und den reicheren Golfstaaten, einen wichtigen Wirtschaftsfaktor. Die Proteste im Jemen wurden zunächst durch die besser ausgebildete Stadtbevölkerung getragen, und vor allem durch die jüngeren Generationen. (Die jemenitische Bevölkerung ist eine der jüngsten der Welt, die rund 24 Millionen Einwohner/innen weisen ein Durchschnittsalter von knapp 17 Jahren auf) getragen.) Im Anschluss daran sprang der Funke des Protests jedoch auch auf die traditionellen Sozialstrukturen der jemenitischen Gesellschaft, d.h. die innenpolitischen nach wie vor sehr mächtigen „Stämme“, über. Letztere sind – vor dem Hintergrund einer fehlenden Sozialversicherung – etwa für die finanzielle und soziale Versorgung von Kranken oder Alten zuständig; alle Angehörigen einer großfamiliären Struktur zahlen deswegen in gemeinsame „Töpfe“ ein, über deren Verwendung bei regelmäßigen Versammlungen entschieden wird. Bislang hatte der seit 1978 (zunächst im Nordjemen, seit der Vereinigung mit dem ex-sozialistischen Südjemen im Jahr 1990 auch im neuen Gesamtstaat) ununterbrochen amtierende Präsident ’Ali ’Abdallah Saleh es verstanden, sich mit den stärksten dieser Stammesstrukturen zu arrangieren und sich durch eine geschickt ausgeklügelte Balancepolitik an der Macht zu halten. Gleichzeitig konnte er im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ auch auf die Unterstützung der westlichen Großmächte und insbesondere der US-Administration bauen. Neben innenpolitischen Gegnern in Gestalt einer südjemenitischen Sezessionsbewegung (vor allem seit 2008) sowie aus den Reihen nördlicher Stämme schiitischer Konfession (den „Houthi-Rebellen“, die seit 2004 einen Guerillakampf führten) wurde das Regime von Präsident Saleh auch durch radikale Islamisten bekämpft. Einige von ihnen hatten dabei in den letzten Jahren des Labels Al-Qaida bedient, vor allem seitdem die Terrorsekte Anfang 2009 ihre Filiale „Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ gründete, um ihre Kämpfer in Saudi-Arabien und im Jemen in einer Struktur zusammenzufassen. Anfang Dezember 2010 wurde jedoch – durch die Publikation der WikiLeaks-Dokumente – publik, dass es hinter den Kulissen erhebliche Spannungen zwischen dem jemenitischen Regime und der US-Administration gab: Laut einer Notiz vom Februar 2005 warfen US-Diplomaten ihm vor, dass nur „25 Prozent“ der gelieferten Waffen in den Arsenalen der regulären Armee lande. Der Rest werde durch Militärs und Waffenhändler in andere Kanäle geleitet. ’Ali ’Abdallah Saleh hat, innenpolitisch wie international, einen Ruf als gewiefter machtpolitischer Taktiker. Im Jemen fanden ab dem 16. Januar 2011 erstmals zwei Demonstrationen für „politische Reformen“, insbesondere für eine Begrenzung der Amtszeiten des Präsidenten, auf dem Campus der Universität der Hauptstadt Sanaa statt. Auf Schildern stand dabei u.a. zu lesen: „Herr Präsident, treten Sie ab, bevor Sie dazu gezwungen werden!“ Am 20. Januar demonstrierten dann mehrere Tausend Einwohner der Stadt Taiz, rund 200 Kilometer südlich von Sanaa, für dieselben Ziele. In der Nacht vom 22. auf den 23. Februar verhafteten Zivilpolizisten auf einer Straße im Zentrum der Hauptstadt Sanaa die Journalistin und Aktivistin Tawakel Karman. Diese war eine der maßgeblichen Organisatorinnen der Kundgebungen an der Universität gewesen und hatte schon zuvor die jemenitische Bevölkerung zu „Solidarität mit dem tunesischen Volk“ aufgerufen. Karmane leitete u.a. die Vereinigung „Journalistinnen ohne Ketten“, kämpfte seit Jahren für Pressefreiheit und gehörte dem Vorstand der moderat-islamistisch ausgerichteten Partei Islah (Reform) an. Am 23. Januar 2011 demonstrierten daraufhin rund 200 Journalisten, vom Sitz ihrer Gewerkschaft aus, für die Freilassung ihrer inhaftierten Kollegin. (Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=kVtSg3Cg14k ) Am 24. Januar wurde sie aus dem Gefängnis entlassen. Diese Ereignisse trugen dazu bei, den Stein ins Rollen zu bringen. Am 27. Januar demonstrierten Tausende in Sanaa für den Abgang des Präsidenten und skandierten: „(Ben ’Ali in Tunesien) ging nach 20 Jahren – 30 Jahre im Jemen, das reicht!“ Gleichzeitig kam es am selben Tag zur vierten Selbstverbrennung in Folge. Am 29. Januar rief Tawakel Karman zu einem erneuten Protesttag auf, und für den 03. Februar zu einem „Tag des Zorns“ nach ägyptischem Vorbild. Bei diesem demonstrierten – je nach Angaben – zwischen 20.000 und 100.000 Personen in Sanaa, die am Nachmittag durch die Polizei zerstreut wurden, und auch in anderen jemenitischen Städten fanden Protestversammlungen statt. Am Vortag (02. Februar) hatte Präsident Saleh erklärt, im Jahr 2013 nicht für ein weiteres Mandat zu „kandidieren“, doch dieses – verbale – Zugeständnis erklärten die Demonstranten für unzureichend. Es kam aber auch zu einer Gegendemonstration von (oftmals auf tribaler Basis rekrutierten) Anhängern des Präsidenten, wie in der Folgezeit immer wieder parallel zu Mobilisierungen von Regimegegnern. Die Regierungspartei „Allgemeiner Volkskongress“ hielt ihre Kundgebung unter dem Motto „Ja zum Präsidenten. Nein zum Chaos. Ja zur Stabilität“ ab. Die regimekritischen Proteste wurden – auf der Ebene der organisierten politischen Kräfte - unterdessen durch die Oppositionsparteien Islah, arabisch-linksnationalistische Nasseristen und die „Sozialistische Partei“ (die frühere Regierungspartei im Südjemen) unterstützt. Am 20. Februar erreichten die Proteste eine landesweite Dimension. In den folgenden Wochen und Monaten kam es in allwöchentlichem Abstand zu Massenprotesten, dessen Umfang schnell in die Hunderttausende und bald in die Millionen ging. Ihnen gegenüber fanden genauso regelmäßig auch Mobilisierungen von Anhängern des Regimes statt, die zwar kleiner waren, aber ebenfalls staatliche Dimensionen erreichten. In der Hauptstadt Sanaa gingen Übergriffe auf oppositionelle Demonstranten, unter den Augen der Polizei, oftmals von diesen Pro-Regime-Demonstranten aus. Einen blutigen Höhepunkt erreichte die Repression am 18. März 2011, dem durch die Opposition ausgerufenen „Freitag der Warnung“, an dem in Sanaa ein Lynchmob von Regimeanhängern das Feuer auf eine Demonstration eröffnete. Doch schon am 20. März, anlässlich der Bestattungsfeierlichkeiten für manche der Getöteten an der Universität der Hauptstadt, kam es zu erneuten Massenmobilisierungen und Protestdemonstrationen. Unterdessen entließ Präsident Saleh seine Regierung, nachdem schon zuvor der Menschenrechts-, der Tourismusminister und der Minister für die religiösen Stiftungen, der jemenitische Botschafter bei den UN sowie der Leiter und Chefredakteur der staatlichen Nachrichtenagentur Saba aus Protest „gegen das Massaker“ zurückgetreten waren. Nunmehr forderten die religiösen Chefs des Landes die Soldaten zur Befehlsverweigerung auf und verlangten den Abzug der Präsidentengarde, der loyal zu ’Ali ’Abdallah Saleh stehenden Elitetruppe der Armee, aus der Hauptstadt. Am 21. März verließ auch einer der wichtigsten Chefs der jemenitischen Armee, General Ali Mohsen Al-Ahmar, seine Funktionen und prangerte das Staatsoberhaupt an. Er kritisierte Präsident Saleh dafür, dass er „friedliche Demonstrationen unterdrück(e)“ und „das Land in einen Bürgerkrieg treib(e)“. Al-Ahmar gehört dem mächtigsten der „Stämme“ des Jemen an und versuchte seitdem wiederholt, sich als möglichen Kandidaten für eine Übergangsführung des Landes zu profilieren. Gleichzeitig quittierten mehrere Dutzend Armeeoffiziere ihren Dienst und liefen zur Opposition über. Während der folgenden Wochen kam es zu intensiven „Vermittlungsversuchen“ unter Anleitung der Golfmonarchien – Qatar, Vereinigte Arabische Emirate, Kuwait und andere Mitgliedsländer des „Golfkooperationsrats“ -, um einen kontrollierten Übergang der politischen Macht im Jemen einzufädeln. Doch diese Versuche, die im Hintergrund auch durch die US-Administration unterstützt wurden, scheiterten an der Sturköpfigkeit des seit 32 Jahre amtierenden Präsidenten, der sich um jeden Preis auf seinem Sitz zu halten versuchte. Am 08. April lehnte er die Unterschrift unter ein durch Qatar vorgeschlagenes Abkommen ab, da dieses den sofortigen Abgang des Präsidenten vorsah. ’Ali ’Abdallah Saleh behauptete, er sei ja zu einer Übergabe der Amtsgeschäfte (innerhalb einiger Monate) bereit, nur eben nicht sofort zum jetzigen Zeitpunkt; ferner sei er der Garant für die Stabilität des Staates. Unterdessen setzte er darauf, das rote Tuch „Al-Qaida“ hervorzuholen und damit zu wedeln, um sich zum angeblichen letzten „Garanten der Sicherheit vor der Terrororganisation“ aufzuschwingen. Am 22. Mai 2011 lehnte er dann zum dritten Mal die Unterzeichnung einer Vereinbarung, die durch den „Golfkooperationsrat“ vermittelt und am Vortag durch die Opposition akzeptiert worden war, in letzter Minute rundheraus ab. Ab dem folgenden Tag kam es in der Hauptstadt Sanaa zu heftigen Kämpfen, zunächst vom 23. bis zum 26. Mai, nachdem Anhänger des „Stammes“chefs Sadek Al-Ahmar – von der Stammesstruktur der Al-Hached – die Waffen gegen die loyal zu Präsident Saleh stehenden Armeeteile aufgenommen hatten. Anfang Juni 2011 flammten diese Kämpfe wieder auf, und der Präsidentenpalast in Sanaa wurde von gegenüber liegenden Stellungen aus mit Granat- und Raketenwerfern beschossen. Am 03. Juni wurde ’Ali ’Abdallah Saleh beim Freitagsgebet in einer Moschee innerhalb des Präsidentenpalasts lebensgefährlich verletzt und mit schweren Verbrennungen zur Behandlung in die saudi-arabische Hauptstadt Ar-Riyad ausgeflogen. Dies führte zu Jubelszenen in den Straßen von Sanaa. Obwohl er schon am folgenden Tag erklären ließ, er sei wohlauf und werde alsbald in den Jemen zurückkehren, herrschten ernsthafte Zweifel über seinen tatsächlichen Zustand. In Wirklichkeit wies er Verbrennungen auf 40 % seiner Körperoberfläche und eine – von einem Granat- oder Bombensplitter rührende - sieben Zentimeter lange Schnittwunde unterhalb der Herzgegend auf. Zur Behandlung wurde er in ein künstliches Koma versetzt. Am 23. Juni erklärten westliche Diplomaten in Sanaa, in Wirklichkeit sei Saleh nicht bei einem von außen kommenden Beschuss, sondern durch eine innerhalb des Präsidentenpalast-Areals (in der Moschee) platzierte Bombe verletzt worden. Dies deutet auf eine Beteiligung von Fraktionen innerhalb des Machtapparats an dem Attentat hin. Seitdem herrscht eine gewisse Konfusion über die weitere Entwicklung der politischen Lage im Jemen. Eine explizite Ab- oder Übergabe der Macht durch ’Ali ’Abdallah Saleh hat nicht stattgefunden, vielmehr beteuerte dieser wiederholt von Saudi-Arabien aus, er wolle in sein Land und in sein Amt zurückkehren. Die Opposition ihrerseits verkündete, dies abzulehnen und verhindern zu wollen. Am 01. Juli demonstrierten zahlreiche Menschen in Sanaa (250.000 laut Angaben der Veranstalter), Taiz und anderen Städten für den Abgang der Familienangehörigen, Verwandten und Parteigänger Salehs, die nach wie vor in führenden Ämtern und Positionen sitzen. Die Opposition fordert die Einsetzung eines „Übergangsrats“, der die Regierungsgeschäfte übernommen soll. Am 04. Juli 2011 demonstrierten ferner Zehntausende, auf einen Aufruf der Opposition hin, in Sanaa ihre Solidarität für die Einwohner von Zinjibar im Süden des Jemen. Die Stadt war Ende Mai des Jahres durch die loyalen Truppen quasi kampflos einer lokalen islamistischen Miliz, die sich auf ihre Zugehörigkeit zu oder enge Verbindung mit dem Netzwerk Al-Qaida beruft, übergeben worden. Die Oppositionskräfte kritisieren, dies sei bewusstes Kalkül seitens von Präsident Saleh gewesen, um sich als vermeintlich letzten „Schutzwall gegen Al-Qaida“ aufzuspielen. Tausende von Zivilpersonen haben seitdem die Stadt (wo fünfzig Wehrpflichtige seit Kämpfen mit der Miliz von Anfang Juli „verschwunden“ sind) fluchtartig verlassen. Ihnen galt die Solidaritätsdemonstration. ’Ali ’Abdallah Saleh blieb auch im Juli 2011 noch in Saudi-Arabien in stationärer Behandlung. Am 08. Juli hielt er, von Verletzungen sichtbar gezeichnet, eine Ansprache im jemenetischen Fernsehen. Bernard Schmid, Juli 2011 |