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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Weitere Kollateralschäden der Gesundheitsreform Existenzminimumsenkung bei der Sozialhilfe Von Helga Spindler* / Teil II Während Helga Spindler in Teil I die Streichungen für Sozialhilfebezieher und die Änderung der Regelsatzverordnung beschrieben hat, schildert sie in Teil II nun die Folgen dieser Maßnahmen – nicht nur für Sozialhilfebezieher, sondern auch und besonders für Bezieher niedriger Einkommen. Folgen der fehlenden Anpassung Wenn der Regelsatz jetzt auch diese neu gestaltete Bedarfsposition erstmalig umfassen soll, dann müssten bei seiner Festsetzung folgende Beträge berücksichtigt werden: 1. Die erstmals 2004 eingeführte Zuzahlung für
Sozialhilfebezieher von maximal zwei Prozent (chronisch Kranke: ein Prozent)
des Regelsatzes eines Haushaltsvorstands. Diese macht in West-deutschland
zumeist 5,92 Euro (chronisch Kranke: 2,96 Euro) pro Monat aus und resultiert
aus der Änderung des SGB V (siehe
Teil I). 2. Dazu gehören aber auch die seit 1983 erheblich gestiegenen Ausgaben für nicht verschreibungs- und rezeptpflichtige Arzneimittel, die inzwischen schon Kinder ab zwölf Jahren von der Kasse nicht mehr ersetzt bekommen. Außerdem kommen noch viele weitere Bedarfspositionen dazu, die die Kasse nicht mehr übernimmt: Etwa Fahrtkosten zum Arzt, Ausgaben für Brillen oder Eigenanteile bei kieferorthopädischer Behandlung. In diesem Bereich treffen zwei Bedarfsteile zusammen:
Zu beiden Teilgruppen wurden bisher noch keine ausreichenden Bedarfs-Daten geliefert und das macht die Belastung armutspolitisch gefährlich, weil ihre Höhe – im Gegensatz zu den ausgewiese-nen Zuzahlungen – unkalkulierbar ist .[1] Weil genaue Zahlen fehlen, kann hier der zusätzlich aufzubringende Betrag für Gesundheitspflege vorerst nur geschätzt werden. Die nicht (mehr) von der Krankenkasse und Krankenhilfe übernom-menen Ausgaben dürften im Schnitt zwischen vier und zehn Euro pro Monat liegen. Zusammen mit den 5,92 Euro für die neuen Zuzahlungen (in Höhe von zwei Prozent) dürfte der Gesamtumfang der neuen Belastung damit durchschnittlich zwischen zehn und 16 Euro liegen. Diese geschätzten zusätzlichen Belastungen pro Monat allein für den Haushaltsvorstand erscheinen für Bezieher von mittleren und höheren Einkommen harmlos. In der Sozialhilfe geht es aber an die Substanz. Weil zwar die Regelsatzverordnung geändert, aber die Anpassung der Regelsätze unterlassen worden ist, müssen die Sozialhilfeempfänger ab dem 1. Januar 2004 neue Bedarfe vom Regelsatz finanzieren, die bei der Festsetzung des Regelsatzes eindeutig nicht berücksichtigt wurden. Mit jeder Zuzahlung wird ihnen das Existenzminimum um diesen Betrag gekürzt. Sie müssen deshalb entweder auf andere notwendige Ausgaben, die sie bisher abdecken konnten, verzichten und sich bei ihren persönlichen Bedürfnissen, der Ernährung oder der Hauswirtschaft über den (lebens-)notwendigen Bedarf hinaus noch weiter einschränken. Oder sie müssen bei Krankheit auf notwendige Therapien, Medikamente, Heil- oder Hilfsmittel verzichten. Seit 2004 sind ja für nahezu alle Leistungen der Krankenkassen Zuzahlungen fällig. Irreführend ist in diesem Zusammenhang, wenn die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende die neuen Zuzahlungen für Sozialhilfeempfänger als »gerechte Lösung« rechtfertigt, weil Sozialhilfe-bezieher ja auch steigende Preise aus dem Regelsatz finanzieren müssten. [2] Als Ausgleich für steigende Preise dient bisher die Regelsatzanpassung. Hier wurde der Regelsatz aber nicht ange-passt. Vielmehr wurde durch die Änderung der Regelsatzverordnung – nach Abschaffung von zwei gewichtigen Freistellungs- und Hilfevorschriften – einfach eine neue, erweiterte Bedarfsgruppe dem Regelsatz zugeordnet. Hilfebezieher können deshalb nicht einfach durch Substitution anderer Produkte »besser wirtschaften«. Sie können nur zu Lasten ihrer Gesundheit auf verschreibungsfreie Medikamente verzichten. Und den Zuzahlungspflichten beim Arzt, im Krankenhaus oder in der Apotheke können sie nur entkommen, wenn sie trotz Krankheit dort erst gar nicht hingehen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen (BAG – SHI) spricht in diesem Zusammenhang von einem »Kollateralschaden« bei der Gesundheitsreform. Verwaltungsgerichte sind mit dieser widersprüchlichen Rechtsänderung bisher überfordert. Wäh-rend das VG Braunschweig noch eine Nachbesserung bei den Regelsätzen erwartet (siehe: »Erste Gerichtsentscheidungen«), interpretieren andere Gerichte in ersten Entscheidungen die Änderung der Regelsatzverordnung ohne Anpassung der Regelsätze eher als bewusste Entscheidung des Ge-setzgebers, das Existenzminimum zu senken. Folgen für Bezieher niedriger Einkommen Auch wenn es in diesem Beitrag schwerpunktmäßig um die Auswirkungen auf das durch die Sozi-alhilfe festgelegte Existenzminimum geht, gibt doch eine Gruppe, die durch die ausgewiesene Zwei-Prozent-Belastungsgrenze noch weit schärfer getroffen wird als Sozialhilfeempfänger: Das sind die Bezieher niedriger Einkommen. Man stelle sich einen der neuen Zeitarbeitnehmer vor, der tariflich 6,85 Euro brutto pro Stunde bei 35 Wochenstunden verdient (aber wegen langer Fahrtzeiten durchaus 45 Stunden und mehr außer Haus sein kann). Er erhält dann brutto etwa 1030 Euro im Monat. Das entspricht netto etwa 730 Euro. Da er davon aber einschließlich seiner Warmmiete alle Ausgaben finanzieren muss, bleibt ihm für den reinen Lebensunterhalt unter Umständen weniger zur Verfügung als einem Sozialhilfe-bezieher mit dem Regelsatz von 296 Euro. Der Sozialhilfebezieher muss für Zuzahlungen im Monat maximal 5,92 Euro (zwei Prozent vom Regelsatz) aufbringen. Der Arbeitnehmer muss pro Monat zwei Prozent seines Bruttoeinkommens zahlen. In diesem Beispiel wären das 20,60 Euro – und damit gegenüber einem Sozialhilfeempfänger mehr als das Dreifache. Oder ein zweites Beispiel: Ein ältere Frau ist auf Grundsicherung angewiesen, weil sie in ihrem Leben kaum Beiträge in die Rentenkasse eingezahlt hat. Sie erhält: 296 Euro Regelbedarf, eine Pauschale von 44,40 Euro für einmalige Beihilfen, 59,20 Euro für Mehrbedarf und 320,40 Euro für ihre Warmmiete. Unter dem Strich sind das 720 Euro. Sie muss davon 5,92 Euro pro Monat für ausgewiesene Zuzahlungen aufbringen. Vergleichen wir sie mit einer Rentnerin, die zwar etliche Jahre Beiträge zur Rentenversicherung eingezahlt hat, aber nur eine Rente von ebenfalls 720 Euro pro Monat bekommt. Bis Ende 2003 war sie wegen ihres geringen Einkommens nach §61 SGB V von Zuzahlungen befreit (siehe Teil I). Jetzt muss sie pro Monat 14,40 Euro – und damit mehr als das Zweifache der Bezieherin von Grundleistung – für Zuzahlungen zur Krankenversicherung aufbringen. Diese Beispiele machen deutlich, dass die Einschnitte durch die Gesundheitsreform einkommens-schwache Betroffenengruppen durchaus unterschiedlich treffen. Das Problem der Einkommens-grenze bei Niedrigverdienern war zuvor schon unzulänglich gelöst. Jetzt ist die unterschiedliche Heranziehung von Beziehern niedriger Einkommen und Sozialhilfe noch verschärft worden. Anrei-ze, um im Niedriglohnbereich Arbeit aufzunehmen, werden durch diese Gesundheitsreform konter-kariert. Die Verwaltungsgerichte Münster und Neustadt haben in ihren Beschlüssen (siehe »Erste Gerichts-entscheidungen«) in einem Punkt in beklemmender Weise Recht: Die Senkung des Existenzmini-mums bei Sozialhilfebeziehern grenzt sie gegenüber den Niedrigeinkommensbeziehern nicht aus. Deren Existenzminimum wird noch viel stärker beschnitten wird, weil sie ihren Zwei-Prozent-Anteil auch von Mieten, einmaligen Beihilfen, Werbungskosten, Verwandtenunterhalt, ja sogar Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen leisten müssen. Verkannt wird in den Entscheidungen nur das noch geltende Bedarfsdeckungsprinzip, das eigentlich erfordert, alle diese Gruppen mit ergänzenden Leistungen zu unterstützen, damit sie alle noch menschenwürdig leben können. Kumulierung der Belastung zu Beginn des Jahres Bei Heimbewohnern hat sich bisher am deutlichsten gezeigt, dass sich die unverhältnismäßig hohe Belastung durch die neuen Zuzahlungen schon gleich am Anfang des Jahres kumulieren kann. Die meisten Heimbewohner benötigen eine Vielzahl von Medikamenten und Hilfsmitteln. So standen die vielen Bewohner, die von der Sozialhilfe abhängig sind, schon im Januar 2004 vor dem Prob-lem: Von nur etwa 89 Euro Taschengeld sollten sie schon im ersten Monat ihre volle Jahreseigen-beteiligung von 71 Euro (zwei Prozent, konsequent vom Gesamtregelsatz und nicht nur vom Ta-schengeld berechnet) leisten. Außerdem müssen sie jetzt auch noch ergänzende Arzneimittel, die die Kassen nicht mehr bezahlen, selbst beschaffen. Die Folge: Das gesamte Taschengeld im Januar wäre für Zuzahlungen benötigt worden. Für ihre persönliche Bedürfnisse (Friseur, Körperpflege, Telefon etc.) wäre nichts mehr übrig geblieben. Nachdem dieses Problem für Schlagzeilen in der Presse sorgte, haben Vertreter der Spitzenverbän-de der Krankenkassen und der Trägerverbände der Sozialhilfe auf Bitte des Bundesgesundheitsmi-nisteriums ihre Bereitschaft zu einem vereinfachten Zahlungsverfahren auf Raten erklärt. Danach sollen die Sozialhilfeträger einmal im Jahr (zum 1. Juli) die Zuzahlungen bis zur jährlichen Über-forderungsgrenze an die jeweiligen Krankenkassen überweisen. Sie sollen den Betrag dann in glei-chen Raten mit dem monatlichen Taschengeld verrechnen. Das Taschengeld der Heimbewohner wird dann also je Monat um etwa sechs Euro – oder bei chronisch Kranken: drei Euro – niedriger sein. Eine Steuerungswirkung kann sich bei einem solchen Abzug von gleich bleibenden Raten natürlich nicht entfalten. Und: ob der volle Betrag gleich zu Beginn des Jahres entsteht oder sich über das Jahr verteilt, es bleibt der Tatbestand der Kürzung des notwendigen Lebensunterhalts – lediglich der Vollzug ist etwas humaner. Weniger human trifft die Kumulierung aber die andern Sozialhilfebezieher und viele Bezieher von niedrigen Einkommen. Sie haben für ihre persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens nicht mehr als Heimbewohner zur Verfügung. Wer schon am Jahresanfang seine Belastungsgrenze bei den Zuzahlungen erreichte, sah sich noch mit einem anderen Problem konfrontiert: Die Kassen waren im ersten Monat oft noch nicht bereit, Anträge zur Freistellung anzunehmen, teilweise auch mit der Begründung, das Jahresgesamteinkommen könne doch erst am Ende des Jahres zweifelsfrei ermittelt werden. Wie sich die Krankenkassen hier künftig verhalten werden, wie lange Anspruchs-berechtigte auf ihre Freistellungsbescheinigungen warten müssen, ist noch nicht klar. Jede Voraus-leistung mindert aber bei Armen das Existenzminimum zusätzlich – bis endlich eine Rückerstattung erfolgt. Ungeklärtes Verfahren bei Tagessätzen Wenn Menschen besondere Schwierigkeiten in ihrer Lebensführung haben, z.B. auf der Straße le-ben oder suchtabhängig sind, wird häufig aus guten Gründen der Regelsatz nicht monatlich, son-dern tageweise in Tagessätzen (zu 9,86 Euro) oder nur für einige Tage ausgezahlt. Damit soll Ver-lust, Zweckentfremdung oder Missbrauch vorgebeugt werden. Keiner weiß, wie mit den Zuzahlun-gen bei diesen Personen verfahren werden soll. Kommunen stehen hilflos kranken Obdachlosen gegenüber, die sie mit den Mitteln der Krankenhilfe nicht mehr voll versorgen dürfen. Ärzte, Apo-theken und Krankenhäuser müssen aber auf Zuzahlungen bestehen. Ein Teufelskreis beginnt. Buchführung für viele problematisch Auch Sozialhilfeempfänger und Niedrigverdiener müssen nachweisen, wenn sie ihre Belastungs-grenze durch Zuzahlungen erreicht haben. Dazu müssen sie darauf achten, dass alle Zuzahlungs-Belege korrekt (mit Name, Art der Leistung, Zuzahlungsbetrag, Datum und Stempel) ausgefüllt sind und sie müssen sämtliche Belege sammeln und dann Befreiungsanträge stellen. Vielen Betrof-fenen (und erst recht Obdachlosen) fällt dieser bürokratische Aufwand aber schwer oder ist ihnen in ihrer Lebenslage auch nicht zuzumuten. Jeder Verlust, jede Nachlässigkeit mindert aber das Existenzminimum noch mehr. Weitere Einschnitte in das Existenzminimum Die jetzt erfolgte Kürzung des Existenzminimums durch die Gesundheitsreform geht einher mit weiteren Einschnitten, die unmittelbar bevorstehen. Das bereits verabschiedete SGB II[3], das im nächsten Jahr in Kraft tritt, sieht vor, dass die Haushaltsvorstands-Regelsätze bis 2005 auf dem Stand von 2003 »eingefroren« werden. Die Regelsätze für Jugendliche von 7 bis 18 Jahren sollen ab 2005 sogar um fünf bis zehn Prozent sinken. Die Pauschalierung der einmaligen Beihilfen wird vor allem bei den Haushaltsangehörigen das Existenzminimum senken und die geplante Pauscha-lierung der Unterkunftskosten wird zu erheblichen, noch nicht kalkulierbaren Absenkungen der verfügbaren (Lebens-)Mittel führen. Die gestiegenen Kosten für Energie und Verkehrsmittel und die Kosten für die verstärkt geforderten Bewerbungsbemühungen sind im bisherigen Regelsatz ohnehin nicht angemessen berücksichtigt. Im Zusammenhang mit Erkrankungen besonders problematisch ist die Entwicklung der Verwal-tungspraxis bei den Mehrbedarfs-Zuschlägen für kostenaufwändige Ernährung. Sie sind bisher nach dem BSHG – und auch noch nach 2004 – »in angemessener Höhe« (§23 BSHG, §21 SGB II) vorgesehen. Mit diesem Mehrbedarf konnten viele kranke Menschen in der Vergangenheit ihren Ernährungsanteil im Regelsatz erhöhen und sich so notwendige teurere (Diät-)Lebensmittel leisten. Die Höhe dieses Mehrbedarfs wurde früher nach sorgfältig ausgearbeiteten Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge bestimmt.[4] Inzwischen haben Sozialhilfeträger aber medizinische Gutachter ohne Erfahrung mit der Sozialhilfe beauftragt, die Höhe des erforderlichen Mehrbedarfs einzuschätzen. Sie vertreten häufig die Ansicht, dass bestimmte Diäten nicht teurer sein müssen als eine ausgewogene und vollwertige Ernährung. Dann reduzieren die Behörden die Mehrbedarfe. Die Aussage der Gutachten mag ja stimmen. Wenn sie aber nicht ausweisen, wie viel eine ausgewogene, vollwertige Ernährung pro Monat kostet und ob Sozialhilfebezieher das aus ihrem zugestandenen Bedarf für Ernährung finanzieren können, nutzt so ein Gutachten wenig. Die Kombination aus Mehrbedarfskürzungen und zusätzlichen Belastungen durch die Gesundheitsreform ist deshalb für diese Kranken besonders gefährlich. Fazit Die Initiatoren der Gesundheitsreform wollten Kostenbewusstsein, Eigenverantwortung und öko-nomische Steuerungselemente in das System bringen. Sie erhofften sich dadurch eine zurückge-hende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Erste Zahlen über rückläufige Besuche in Arztpraxen deuten darauf hin, dass sie damit Erfolg haben könnten. Wenn aber arme Menschen ihre Gesundheit nur noch zu Lasten anderer notwendiger Lebensbedarfe finanzieren können oder wenn sie aus Armut auf Gesundheitsleistungen verzichten, dann ist das ein höchst zweifelhafter Spareffekt. Er beruht nicht auf einer kostenbewussteren Verhaltensänderung, sondern auf existenzieller Nötigung. Es gibt gute Gründe, auf diese Art von sozialpolitischer Reform zu verzichten.
* Dr. Helga Spindler ist Professorin für
öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Sozial- und Ar-beitsrecht
an der Universität Duisburg-Essen. Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/04 Anmerkungen 1) Darauf hingewiesen hat bereits frühzeitig
P. Niemann: Gesundheitsreform und Sozialhilfe, in: Sozialrecht aktuell
2003, Heft 10, S. 195- 197 |