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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Kollateralschäden der Gesundheitsreform. Existenzminimumsenkung in der Sozialhilfe Von Helga Spindler* / Teil I Die Anfang des Jahres in Kraft getretene Gesundheitsreform
brachte etliche neue und höhere Zuzahlungen für Patienten sowie
Streichungen von bisherigen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung.
[1] Vor allem dadurch stiegen
nach Ermittlung des Statistischen Bundesamtes im Januar 2004 die Verbrauchsausgaben
für Gesundheitspflege um 16,9 (17,6) Prozent gegenüber dem Vormonat
(Vorjahresmonat). Die Lebenshaltungskosten insgesamt nahmen um 1,2 Prozent
gegenüber Januar 2003 zu – ohne die Gesundheitsreform wären
sie nur um 0,6 Prozent gestiegen. [2]
Wegen der Mehrkosten im Gesundheitswesen will nach einer Emnid-Studie
jeder zweite gesetzlich Krankenversicherte seinen Konsum einschränken:
13 Prozent wollen auf Freizeitvergnügen verzichten, zehn Prozent
auf Kleidung und jeweils acht Prozent weniger Geld für Urlaub, Genussartikel
und Lebensmittel ausgeben. [3] Vorbemerkung: Zuzahlungen als Steuerungsinstrumente Zum Verständnis dieses Einschnitts ist zunächst eine Vorbemerkung nötig: Es geht bei der jüngsten Gesundheitsreform offensichtlich nicht nur um eine höhere Eigenbeteiligung der Versicherten, es geht auch um (Gesundheits-) Erziehung im Sinne einer Reduzierung der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen – und damit um eine ökonomische Steuerung im Gesundheitswesen. Ginge es nur um mehr Einnahmen, dann hätte man sich das inszenierte Chaos um die neuen Pra-xisgebühren und höhere Zuzahlungen in den ersten Wochen nach Inkrafttreten der Reform ersparen können: Alle Versicherten hätten ab dem 1. Januar 2004 einen höheren Arbeitnehmerbeitrag zur Kasse bezahlen können. Das hätte völlig unbürokratisch erfolgen können und schon jetzt deutlich gemacht, dass die paritätische Finanzierung der Krankenversicherung in Deutschland beendet ist. Aber die Versicherten sollen sich über Zuzahlungen
und Eigenbeteiligungen mit den Kosten für Krankheiten beschäftigen.
Sie sollen Jahr um Jahr Zuzahlungs-Belege sammeln, abheften, Ausla-gen
vorstrecken und bei Überschreiten ihrer Belastungsgrenze Anträge
auf Rückerstattung stellen. Was hat das mit der Existenzsicherung von Armen zu tun? Sehr viel! Denn unter der dargestellten Leitlinie konnten, ja mussten auch die bisherigen sozialen Schutzregeln und Hilfeansprüche für Sozialhilfeempfänger fallen. Denn auch sie sollen zur Steigerung der Einnahmen beitragen und zu einem sparsameren Verhalten beim Verbrauch von Leistungen des Gesundheitswesens erzogen werden. Änderungen bisheriger Schutzregeln für arme Kranke Bis Ende 2003 sorgte – trotz schon bestehender Zuzahlungen – ein ineinander greifendes System von Regeln für den Schutz von armen Menschen, wenn sie Leistungen des Gesundheitswesens be-nötigten. Erster Schritt: Sozialklausel im SGB V gestrichen Nach § 61 SGB V, der so genannten Sozialklausel, waren die Bezieher bestimmter Sozialleistungen von Zuzahlungen wegen »unzumutbarer Belastung« vollständig befreit. Dies betraf Bezieher von
Außerdem waren auch Niedrigverdiener, deren Bruttoeinnahmen unterhalb einer absoluten Ar-mutsgrenze lagen, ganz von Zuzahlungen befreit. Im Jahr 2003 lag diese Einkommensgrenze bei 952 Euro brutto für Alleinstehende und 1309 Euro für zwei Personen. Für jede weitere Person im gemeinsamen Haushalt erhöhte sich die Grenze um weitere 238 Euro. Diese Schutzregeln waren im Ergebnis zwar nicht ganz überzeugend: Für Arbeitslosenhilfeemp-fänger mit hohen Ansprüchen war die vollständige Befreiung recht großzügig. Für Niedrigverdiener hingegen waren die Einkommensgrenzen – bezogen auf Nettoeinnahmen von unter 700 Euro – zu niedrig und damit immer schon Existenz gefährdend. Damit wurden – zumindest bei der Kran-kenversicherung – Niedrigverdiener ohne Sozialleistungen im Endergebnis schlechter gestellt als Empfänger von Sozialleistungen. Aber für sozial Schwache existierte mit dem §61 SGB V zumin-dest bereits in der Krankenversicherung ein Schutz vor Überforderung. Dieser Schutz ist aber jetzt entfallen. Wegen der neuen Ausrichtung wurde durch die Gesundheits-reform nun in einem ersten Schritt die Sozialklausel in §61 SGB V ersatzlos gestrichen und die gegenüber früher höhere Belastung damit grundsätzlich für zumutbar erklärt. Zweiter Schritt: Bedarfsdeckende Krankenhilfe im BSHG gestrichen Es gab aber auch einen ergänzenden Hilfeanspruch für diesen Personenkreis im Fürsorgesystem: den Anspruch auf Krankenhilfe nach §§37, 38 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG). Dieser An-spruch bestand ungekürzt, wenn man eine bestimmte Einkommensgrenze nicht überschritt: Diese orientierte sich im letzten Jahr an
Durch diese – gegenüber dem Nettoeinkommen im §61 SGB V etwas höher angesetzte Einkom-mensgrenze – konnte auch Menschen geholfen werden, die die Freistellungsgrenze bei der Kran-kenversicherung überschritten. Nach dem BSHG konnten vor allem aber auch Kosten für notwendige Leistungen übernommen werden, die schon seit einiger Zeit aus dem Katalog der Krankenkassen gestrichen worden waren. Ohne Abstriche wurden nach dieser BSHG-Vorschrift auch
die Bedürftigen, die überhaupt nicht krankenversichert waren,
voll versorgt. In der Sozialhilfe galt nämlich nicht das Versicherungs-,
sondern das Bedarfsdeckungsprinzip, das zuletzt in §38 Abs. 2 BSHG
so formuliert wurde: »Hilfen nach diesem Unterabschnitt müssen
den im Einzelfall notwendigen Bedarf in voller Höhe befriedi-gen,
wenn finanzielle Eigenleistungen der Versicherten, insbesondere Durch Artikel 28 des GKV-Modernisierungsgesetzes wurde diese Vorschrift in einem zweiten Schritt ebenfalls aufgehoben und der Restbestand der Krankenhilfe im BSHG auf die eingeschränkten Leistungen der Krankenversicherung reduziert, die kein Bedarfsdeckungsprinzip kennt. Dritter Schritt: Änderung der Regelsatzverordnung Nachdem nun die Sozialklausel im SGB V und die bedarfsdeckende Krankenhilfe im BSHG weg waren, musste geregelt werden, wie denn die Sozialhilfeempfänger den gewünschten zusätzlichen Eigenbeitrag für Gesundheitsleistungen aufbringen sollten. Schließlich haben sie nicht mehr als den Regelsatz, der als Existenzminimum gilt. Wenn man beurteilen will, welchen Effekt es hat, wenn zusätzliche notwendige Ausgaben von die-sem Existenzminimum bestritten werden sollen, muss man zunächst die bisherige Regelsatzstruktur genauer betrachten. Das Existenzminimum ist durch die Vorgaben aus §22 BSHG und aus §1 Regelsatzverordnung bestimmt. Dort sind verschiedene notwendige Bedarfsgruppen (Ernährung, hauswirtschaftlicher Bedarf, persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens) aufgeführt, deren Erwerb der Regelsatz ab-decken soll. Die Regelsatzbemessung hat nach §22 Abs. 3 BSHG »Stand und Entwicklung von Nettoeinkommen, Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten zu berücksichtigen. Grundlagen sind die tatsächlichen statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben von Haushalten in unteren Einkommensgruppen. Datengrundlage ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe« (EVS). Der Regelsatz wird nach dem so genannten Statistikmodell ermittelt. Man hat das statistisch fest-stellbare Verbraucherverhalten der Menschen betrachtet, die etwas mehr als das Existenzminimum zur Verfügung hatten und noch frei über ihr Haushaltseinkommen entscheiden konnten. Davon hat man nur die Güter und Dienstleistungen berücksichtigt, die auch einem Sozialhilfeempfänger zu-stehen sollten und den Regelsatz nach diesen Vorgaben entwickelt. Grundlage für den heutigen Regelsatz von 296 Euro [4] für einen Haushaltsvorstand sind die Verbrauchsausgaben der EVS 1983. Diese Ausgaben wurden erfasst und bis heute nach einem mehr oder weniger überzeugenden Verfahren hochgerechnet, um den Lebenshaltungskostenanstieg zu berücksichtigen. So ist der Sozialhilfesatz in seiner bisherigen Geschichte regelmäßig erhöht worden. Umstritten war jeweils nur das Ausmaß der Erhöhung. Vor allem der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband weist mit guter Begründung beharrlich darauf hin, dass der Regelsatz – wenn man die vorgesehenen Datenquellen wirklich seriös genutzt hätte – in vielen Jahren wesentlich stärker hätte erhöht werden müssen. Die Höhe des nach dem Statistikmodell entwickelten Regelsatzes setzt sich aus drei Bedarfsgrup-pen zusammen. Im (Eck-)Regelsatz eines Haushaltsvorstands (oder Alleinstehenden) sind diese Bedarfsgruppen idealtypisch so aufgeteilt:
Bei Heimbewohnern sieht die Zusammensetzung des Regelsatzes anders aus. Weil sie im Heim versorgt werden, fallen Ausgaben für Ernährungsbedarf und hauswirtschaftlichen Bedarf weg. Übrig bleiben nur Ausgaben für persönliche Bedürfnisse. Den verbleibenden »Rest«-Regelsatz bezeichnet man auch als »Taschengeld«. Es beträgt nach §21 Abs. 3 BSHG mindestens 30 Prozent vom Regelsatz (das sind ca. 89 Euro) und steigt bis auf 45 Prozent an, wenn ein Heimbewohner ein kleines eigenes Einkommen einbringen kann. Mit seinem Taschengeld wird ein Heimbewohner üblicherweise etwas andere persönliche Bedarfe abdecken als ein zu Hause lebender Sozialhilfeempfänger. Aber auch er muss von diesem Geld Ausgaben für Körperpflege, Telefon, kulturelle Bedürfnisse, Ausflüge, ergänzende Lebens- und Genussmittel und Aufwendungen für persönliche Kontakte finanzieren. In der Bedarfsgruppe »Persönliche Bedürfnisse« wird auch eine statistische Teilposition »Verbrauchsgüter für Gesundheitspflege« mit einem Anteil von 1,61 Prozent des Regelsatzes für einen Haushaltsvorstand ausgewiesen. Im aktuellen Regelsatz in den westdeutschen Ländern macht das 4,77 Euro im Monat aus (beim Mindesttaschengeld eines Heimbewohners noch etwas weniger). Abdecken soll diese Position: Ver-brauchsgüter für Gesundheitspflege – soweit sie nicht der Krankenhilfe §37 BSHG (alte Fassung, H.S.) zuzurechnen sind – also z.B. Arzneimittel wie Borsalbe, Hustenmittel, Jod, Nähr- und Vitaminpräparate, Rezeptgebühren-Eigenanteil, Rizinusöl, Salben, Tabletten, Binden, Desinfektionsmittel, Mull, Pflaster, Watte. Solche (selbst zu zahlenden) Ausgaben für Gesundheitspflege waren auch schon 1983 feststellbar. Allerdings existierte damals das SGB V noch gar nicht, und es gab auch keine größeren Eigenbetei-ligungen zu Leistungen der Krankenversicherung. Fast alle Arzneimittel – auch heutige so genann-te Bagatellarzneimittel – sowie Hilfsmittel und Brillen wurden noch verschrieben und von der Kasse oder Krankenhilfe finanziert. Wenn die Länder bisher jedes Jahr zum 1. Juli den neuen
Regelsatz festsetzten, dann mussten sie dabei aber nur die Struktur der
im Regelsatz abgedeckten Bedarfe berücksichtigen und den Regel-satz
nach der Preis- oder Rentenentwicklung oder nach anderen gesetzlichen
Vorgaben anpassen. Vierter Schritt blieb aus: Keine Erhöhung des Regelsatzes Wäre jetzt der fachlich gebotene vierte Schritt gegangen worden, hätte man zum 1. Januar 2004 den Landesbehörden der Sozialhilfe statistische Daten über diese neuen Ausgaben vorlegen müssen – mit der Aufforderung, die Regelsätze an diese neue Bedarfsposition einschließlich der Zuzahlungen anzupassen und zu erhöhen. Nach der bisherigen Konstruktion der Regelsätze müssen den Hilfebedürftigen mindestens die im Durchschnitt zur Bedarfsdeckung notwendigen Mittel zu Verfügung stehen. Aber diesen – mit Kosten verbundenen – vierten Schritt bei der ganzen Operation hat man unterlassen! Teil II in der nächsten Ausgabe. Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3/04 * Dr. Helga Spindler ist Professorin für öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Sozial- und Ar-beitsrecht an der Universität Duisburg-Essen. Der Beitrag erschien zuerst in: Soziale Sicherheit 2/04 Anmerkungen 1) siehe dazu Hans Nakielski: Gesundheitsreform:
Die wichtigsten Änderungen von A bis Z – Die finanziellen Auswir-kungen,
in: Soziale Sicherheit 8-9/2003, S. 302ff. sowie Rolf Winkel/Hans Nakielski:
Sozialleistungen und Arbeitsmarkt: Die wichtigsten Änderungen im
Jahr 2004, in: Soziale Sicherheit 1/2004, S. 18ff. |