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Updated: 18.12.2012 15:51
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Gegengipfel zur EU-Migrationspolitik in Paris und Montreuil am 17./18. Oktober: Wichtige Signale gegen die "Festung Europa"

Ibrahima hat das Abschiebezentrum von Mesnil-Amelot, in der Nähe des Flughafens von Paris-Roissy (Charles de Gaulle), die mit Abstand größte Abschiebehaftanstalt im Raum Paris, von innen gesehen. Er erzählt: "Man kann sich das Leben dort nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst von innen erlebt hat. Denn jenseits der technischen Dimensionen und der Tatsache, dass man zwecks Durchführung der Abschiebung - und ohne dass man irgendein Verbrechen begangen hätte - gefangen gehalten wird, gibt es einen starken psychologischen Faktor. Le Mesnil-Amelot hat etwas Einmaliges: Da es direkt in der Einflugschneise des Großflughafens liegt, sieht und hört man den ganzen Tag Flugzeuge abheben. Das hat eine ungeheuer zerstörende, zermürbende Auswirkung auf die Stimmung: Die individuelle Moral wird untergraben, man fühlt sich ganz so, als sei man bereits abgeschoben und sitze schon in seinem Herkunftsland. Es ist ganz so, als man ob man ein Krankenhaus direkt neben einem Friedhof errichten würde!"

Obwohl zwei Drittel der in der Abschiebehaftanstalt nicht real ausgeflogen werden, sondern nach Ablauf der zulässigen Höchstdauer des Abschiebegewahrsams freigelassen werden müssen. Diese Höchstdauer beträgt derzeit in Frankreich 32 Tage, in Deutschland sind es bis zu 18 Monate. Zudem wird in vielen deutschen Bundesländern der Abschiebegewahrsam zwingend in einem "richtigen" Gefängnis verbracht, während in Frankreich die ,Centres de rétention administrative' ("Zentrum der Verwaltung zum Zurückhalten" bestimmter Personen) von Haftanstalten juristisch unterschieden werden. Daraus resultieren auch gewisse Unterschiede im Umgang mit den "Zurückzuhaltenden": Abschiebehäftlinge in Frankreich dürfen etwa in der Anstalt Besuch empfangen und ihre Telefone behalten. Außer, wenn man damit fotographieren kann, denn Bilder aus dem Inneren dürfen, so der Staat, denn doch nicht nach draußen dringen.

Dramatische Verschlechterungen und Zuspitzungen kündigen sich unterdessen an: Eine EU-Richtlinie, die am 18. Juni 2008 verabschiedet wurde, erlaubt den Mitgliedsstaaten, "Abschiebekandidaten" bis zu 18 Monate zwangsweise festzuhalten - im Sinne der bislang in Deutschland zulässigen Höchstdauer. Und zwar ist die Abschiebehaftanstalt von Vincennes, bei Paris, am 22. Juni dieses Jahres infolge einer Revolte der Insassen bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Aber neue Anstalten sind derzeit im Bau, so soll der Abschiebeknast von Le Mesnil-Amelot um 17.000 Quadratmeter vergrößert werden. Frankreichweit existierten im Jahr 2003 insgesamt knapp 700 Plätze in den Abschiebeknästen, heute sind es 1.700 Quadratmeter - auf gleich bleibendem Raum. Entsprechend zusammengedrängt leben die Insassen im Moment. Sechs neue Abschiebezentren, zusätzlich zu den 24 bestehenden, sind unterdessen im Bau.

Diese Zustände sind nur die objektive Konsequenz aus einer allgemeinen Tendenz, die derzeit überall in der Europäischen Union sichtbar wird: dem Ausbau zur "Festung Europa". Ähnlich wie das offizielle Frankreich, möchten die meisten Mitgliedsländer der EU zunehmend unerwünschte Zuwanderung verhindern und die Betreffenden "loswerden", und gleichzeitig die ökonomisch "nützlichen" Einwanderer stärker sortieren und Hochqualifizierte anziehen. Am besten soll die Auswahl, also die Sortierung in "Nützliche" und "Überflüssige", schon in den Herkunftsländern vorgenommen werden. Oder in Transitländern wie Marokko, Mauretanien oder Libyen, deren Regime sich in wachsendem Ausmaß in die EU-Politik der militarisierten Flüchtlings- und Migranten-Abwehr einbinden lassen. Oft unter krassester Missachtung elementarer Menschenrechte. Praktisch, dass in solchen Ländern unabhängige Beobachter kaum oder nur schwer über die Einhaltung fundamentaler Grundrechte wachen können. In Libyen beispielsweise existiert nur eine einzige Menschenrechtsorganisation, die unter dem Vorsitz eines der Söhne von Staats- und "Revolutions"führer Muammar Kaddafi steht. Nichtsdestotrotz ist Libyen etwa für Italien, den nördlichen Nachbarn und früheren Kolonialherrn, inzwischen zu einem der wichtigsten "Partner"länder bei der Abwehr unerwünschter Migration geworden. Der Trend ist unterdessen in allen führenden EU-Staaten derselbe.

Um ihn zu kritisieren und öffentlich Zeugnis von den Konsequenzen und Auswirkungen dieser Politik abzulegen, waren am Freitag und Samstag mehrere hundert RepräsentantInnen der Zivilgesellschaften und von Nicht-Regierungs-Organisationen(NGOs) aus Europa und Afrika in Paris zusammengekommen. In Montreuil, einem Pariser Vorort, der gleichzeitig eine der Hochburgen der Immigration aus dem westafrikanischen Staat Mali ist, trafen die Delegierten von insgesamt 300 unterstützenden Initiativen und NGOs sowie zahlreiche Einzelpersonen am Freitag zu einem "alternativen Gipfel" zusammen. Am Samstag war der "Euro-afrikanische Bürgerrechtsgipfel zu Migration", so lautete der offizielle Titel, von einer internationalen Demonstration und einem Konzert auf der Pariser Place de la République gefolgt. An ihnen nahmen rund 3.000 Menschen teil.

Konzipiert war die Veranstaltung ursprünglich als "Gegengipfel" zur für Anfang vergangener Woche geplanten EU-Ministerkonferenz zum Thema Migrationspolitik in Paris. Aufgrund der anhaltenden Finanzkrise, und weil die Regierungsspitzen mit dem Auflegen von Rettungsplänen für das jeweilige Bankensystem beschäftigt waren, wurde der Ministergipfel jedoch auf den 15. und 16. November verschoben.

Jedoch wurde bereits am vergangenen Donnerstag in Brüssel die Vorlage für einen gemeinsamen "Europäischen Pakt zu Migration und Asyl", den der französische Minister "für Einwanderung und nationale Identität" Brice Hortefeux im Frühsommer präsentiert hatte, durch die zuständigen Minister angenommen. Die Konferenz im November soll nur noch die Hand heben, um ihn offiziell zu verabschieden. Der neue "Pakt" sieht u.a. vor, dass EU-Mitgliedsstaaten auf eine "kollektive Legalisierung" bislang "illegal" auf ihrem Boden lebender Einwanderer - wie Italien und Spanien sie in diesem Jahrzehnten praktiziert haben - verzichten sollen. Frankreich opponierte schon vor drei Jahren gegen die damalige spanische Regelung zur "Legalisierung" von rund 700.000 Menschen. Während die spanischen Behörden sich darüber freuten, dass diese Lohnabhängigen künftig mit Lohnsteuerkarte - statt "schwarz" - arbeiten und dadurch die Not leidenden Sozialversicherungskassen auffüllen werden. Paris, aber auch Berlin möchten hingegen nur noch "Legalisierungen" nach Einzelfallprüfungen durchgehen lassen, und haben sich damit im Prinzip auch durchsetzen könne obwohl zu diesem Thema ein etwas vager Formelkompromiss beschlossen wurde. Näheres wird die konkrete Ausführung des "Pakts" zeigen.

Noch vor dem nunmehr verschobenen Ministergipfel zur Einwanderungspolitik, nämlich am 3. und 4. November, soll eine europäische Justizministerkonferenz stattfinden. Frankreich, das im Augenblick die EU-Ratspräsidentschaft innehat, bewies mit der Ortswahl dafür einen Sinn für geschmackvolle Symbolik: Die Ministertagung wird nämlich in Vichy zusammentreten. Dort soll es dann u.a. um Richtlinien zur künftigen Abschiebepraxis gehen. Nach der Verabschiedung der neuen EU-Richtlinie zum Thema vom 18. Juni dieses Jahres (s.o.), die in Frankreich durch die Solidaritätsinitiativen und NGOs nur als ,Directive de la honte' (Richtlinie der Schande) bezeichnet wird, dürfte jedoch klar sein, wohin der Hase läuft. Repressivere Bestimmungen, längere Verweildauer in Abschiebegewahrsam, und nunmehr sollen auch Kinder und Jugendliche "mit klarer Rechtsgrundlage" ganz offiziell in Abschiebehaft gehalten werden können.

Alassane, einer der Sprecher der "Association des Maliens expulsés" (AME, "Vereinigung der abgeschobenen Malier") in Bamako, schildert in Montreuil - und am Vorabend auf Infoveranstaltung in Paris - über die Auswirkungen der verschärften Ausweisungspolitik in seinem Land. "Mali ist lange Jahre als <Müllkippe> von Staaten wie Frankreich, Italien und Spanien für ihre unerwünschten Zuwanderer behandelt worden. Da die malischen Konsularbehörden im Ausland oft komplizenhaft so genannte Passierscheine (Laissez-passer) ausstellen - die eine Person, die über keinen Reisepass verfügt, zur Grenzübertretung benötigt -, kommen Staatsbürger aus allen möglichen Ländern bei uns an. Angeblich sind sie Malier, aber in Wirklichkeit hat man sie nur in dieses Land abgeschoben, weil es so leicht war. Wir haben am Flughafen von Bamako sogar einen Nepalesen, aus Südasien, als Abschübling ankommen sehen. Das alles ist kein Wunder: Das malische Konsulat in Paris erhält vom französischen Staat Geld für jedes <Laissez-passer>, das es ausstellt. Der Konsul erhält 320 Euro pro Abschiebekandidaten."

Die AME betreut die aus den europäischen Ländern, aber auch aus anderen afrikanischen Staaten wie etwa Libyen oder Gabun Hinausgeworfenen, die am Flughafen ankommen. "Viele kommen ohne einen Cent Geld in der Tasche an, und oft haben sie auch keine Familie in der Hauptstadt Bamako selbst. Wir kümmern und darum, ihnen für einige Tage eine Unterkunft zu besorgen. Aber wir schlagen ihnen auch eine psychologische und psycho-soziale Betreuung vor und bieten ihnen an, dass eine Person sie zurück in ihre Familie begleitet. Das ist ungeheuer wichtig, denn wer mit leeren Händen und unfreiwillig nach Hause kommt, während andere Personen aus seinem Dorf oder seinem Stadtteil noch in Europa leben, wird durch die Gesellschaft oft als ,Versager' behandelt. In Afrika werden sie oft Exorzismus zum Austreiben böser Geister unterworfen. Insgesamt sind die Abgeschobenen oft traumatisiert und demoralisiert."

Die AME kümmert sich zusammen wie französischen Solidaritätsinitiativen, wie "Droits devant!" und "Survie", aber auch um mögliche juristischen Antworten auf den staatlichen Umgang mit "unerwünschten" Einwanderern. So wird geprüft, Musterprozesse gegen den "Diebstahl" von entgangenen bzw. "verlorenen" Bankguthaben oder Sozialleistungen zu führen. Es geht um Einwanderer, die lange Jahre in Frankreich in die Sozialkassen einbezahlt haben und die all ihr Hab und Gut zurücklassen mussten.

Diese Zusammenarbeit ist quasi ein Musterbeispiel für die Kooperation der "Zivilgesellschaften in Nord und Süd", die auch auf dem Gegengipfel am Freitag und Sonnabend beschworen wurde. Allerdings mit etwas mehr bürokratischen Schwerfälligkeiten, etwa bei der Einschreibung - die sich u.U. als nicht so leicht erwies - und bei der Verabschiedung eines Resolutionstexts, der in weiten Strecken durch die "mächtigsten" NGOs im Vorfeld bereits ausformuliert worden war. Ein Grundkonflikt zwischen Solidaritätsinitiativen, die eine radikalere Kritik an der europäischen Politik üben, und stärker institutionalisierten NGOs sowie eher karitativen Organisationen (wie der christlichen Emmaüs-Community oder ATD-Quart Monde) ließ sich im Verlauf der Konferenz durchaus ablesen.

Dennoch ging von dem Gegengipfel ein wichtiges Signal aus. Die Abschlusserklärung fordert eine verstärke Einmischung "der Zivilgesellschaften in Nord und Süd" in die Praxis der Staaten. Er fordert eine Neudefinition von Zuwanderungs- und Entwicklungspolitik, die solidarisch ausgerichtet sein müssten, und warnt vor der Gefahr einer zunehmend Abschottung "im Zuge der Finanzkrise, die die Armut auch im Norden noch zu verschärfen droht". Zudem wurde ein Forderungskatalog in den insgesamt sechs Workshops ausgearbeitet. Er beinhaltet beispielsweise im Bereich des Asylrechts die freie Wahl des Aufnahmelands, die Ablehnung jeglicher Externalisierung der Migrationspolitik (von der EU hin zu "peripheren" Staaten) sowie den Zugang zu Arbeit und Sozialleistungen. Huamnistische Forderungen, die im diametralen Gegensatz zur aktuellen Grundtendenz der Politik in fast allen EU-Ländern stehen.

Artikel von Bernard Schmid vom 20.10.2008


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