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Updated: 18.12.2012 15:51
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Dirk Vogelskamp

Jenseits der Menschenrechte - Der europäische Kampf gegen die undokumentierte Migration (*)

Die Ereignisse an den spanischen, in Marokko liegenden Exklaven Ceuta und Melilla im Spätsommer und Herbst des Jahres 2005 legten für einen kurzen Moment den Blick frei für die gesteigerte und entgrenzte Gewalt gegen die undokumentierte Migration an den Außengrenzen der Europäischen Union (EU). Eine bis dahin öffentlich kaum wahrgenommene Gewalt, die in den Konstitutionsbedingungen der EU selbst wurzelt, denn sie will in den kommenden Jahren den wettbewerbsfähigsten und leistungsstärksten Wirtschaftsraum (Lissabon-Strategie) weltweit schaffen. Mit diesem ehrgeizigen Ziel soll zugleich nach innen ein "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" dynamisch wachsen, wie es vollmundig und euphemistisch im "Haager Programm" der EU (2004) heißt, in dem unter anderem die Vorgaben einer gemeinsamen europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik für die kommenden Jahre zu Grunde gelegt sind. (vgl. Rat der Europäischen Union 14292/1/04 REV 1 vom 8. Dezember 2004) Es ist hier, in diesem Artikel, nicht der Ort, der täuscherischen Programmformel vom "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" den expansivkapitalistischen und militär-polizeilichen Charakter der EU gegenüberzustellen. Ich werde mich darauf beschränken, in einem ersten Schritt aufzuzeigen, wie an den Außengrenzen dieses wohlstandsprivilegierten Raums, wenn auch viele Bürgerinnen und Bürger nur noch prekär an demselben teilhaben können, das Sterben der Anderen, die Gewalt und die Rechtlosigkeit endemisch werden.

Es wird in diesem Zusammenhang zu Recht kritisiert, dass die Medien, die damals über die Ereignisse in und um Ceuta und Melilla berichteten, geradezu einen Ausnahmezustand herbeigeschrieben hätten, indem sie die undokumentierte Migration [1] mit katastrophischen Naturmetaphern wie "Stürme", "Ströme" und "Wellen" belegten, die ein entschiedenes Vorgehen der europäischen Staaten rechtfertigend nahelegten. Viele Berichte und Artikel waren von einem tiefsitzenden Schock gekennzeichnet, den die blutüberströmten, schwerverletzten und traumatisierten Migranten in den Auffanglagern der spanischen Exklaven hinterlassen hatten. Etwa zwei Wochen hatte sich die Weltöffentlichkeit mit den "neuen Verdammten dieser Erde", dem "Auswurf der Menschheit" beschäftigt, wie Hannah Arendt wohl die heutigen "illegalen Migranten" bezeichnet hätte.

Die Gewalt der Grenzen

1. Grenzgewalt - Gewaltgrenzen

Wenn wir die Ereignisse aus den vorhanden Quellen noch einmal nachzeichnen, dann aus zweierlei Gründen. Zum einen, um die vielen namenlosen Menschen, die ihr Leben verloren oder ermordet wurden, nicht dem allzu raschen Vergessen preiszugeben. Ihr Sterben bleibt eine unerhörte Klage wider die europäische Asyl- und Migrationspolitik und ihrer militarisierten Grenzsicherung, die offen in Inhumanität umgeschlagen ist. Zum zweiten, um die Funktion der Grenzen, ihre menschenrechtswidrige Gewalt, ihre selektive Durchlässigkeit als auch ihre wehrbereite Abschottung, in einem politischen Kontext genauer analysieren und verstehen zu lernen, den ich als die militarisierte Absicherung einer weltweiten Neuordnung kapitalistischer Verwertungsbedingungen begreifen möchte.

Bereits Ende August 2005 (!) versuchten Migranten kollektiv die meterhohen Zäune von Ceuta und Melilla zu überwinden. Dabei starben nach Presseberichten zwei Menschen. Bei den darauffolgenden Erstürmungen im September und Oktober sind an den Grenzen der beiden spanischen Exklaven bis heute wenigstens 14 Menschen zu Tode gekommen: Sie wurden erschossen, erschlagen oder erlagen ihren Verletzungen, die von den Gummigeschossen der Guardia Civil herrührten oder die sie sich bei der Überwindung der messerscharfen Grenzzäune zugezogen hatten. Hunderte wurden teils schwer verletzt.

Die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko, in denen vor wenigen Jahren große Auffanglager für Migranten eingerichtet wurden, bilden die einzige Landgrenze zwischen Europa und Afrika.

Die Journalistin Bettina Rühl hat für den WDR-Rundfunk eine Sendung mit dem Titel "Ein Mal Europa und zurück" produziert (Sendetermin: 10. April 2006). Sie hat dazu einige der Abgeschobenen von Ceuta und Melilla in Mali aufgesucht. Ich zitiere aus ihrem Manuskript einen der Flüchtlinge, Mohammed Sissoko, der in Ceuta versuchte, die Grenze zu überwinden:
"Als wir in die Nähe des Zauns kamen, hörten wir schon Gewehrschüsse. Uns kamen Leute entgegengerannt und schrien uns zu, dass die Marokkaner und die Spanier auf uns schießen - das hätten sie mit eigenen Augen gesehen. Wir gingen trotzdem weiter, denn wir waren entschlossen, nach Spanien zu kommen - oder zu sterben. Als wir am Zaun waren, sah ich selbst, wie auf die Leute geschossen wurde. Einige wurden getroffen, als sie auf dem Zaun waren, und stürzten kopfüber in die Tiefe. Als ich an der Reihe war und meinen Fuß auf die Leiter stellte, traf mich eine Kugel ins Bein, aber ich kletterte weiter. Diejenigen, die es geschafft hatten, wurden von der Guardia Civil zu einer Gruppe zusammengetrieben. Dann holten sie die Toten und Verletzten. Wir sahen, wie sie die Leichen in Kisten packten, um sie wegzuschaffen. Nur sechs Leichen ließen sie liegen. Den Journalisten erzählten sie später, dass sechs Menschen gestorben seien. Obwohl es doch viel mehr waren."

Offiziell heißt es bis heute, es seien allein in jener Nacht in Ceuta (29. September 2005), von der Mohammed Sissoko in dem Interview berichtet hat, sechs Menschen getötet worden. Nach Angaben von Flüchtlingen und marokkanischen Bürgerrechtsgruppen sollen bei den anschließenden gewaltsamen Deportationen weitere Migranten ihren Verletzungen erlegen sein. Die erschöpften und verletzten Menschen wurden mit Handschellen aneinander gefesselt und in Reisebusse getrieben. Die Deportationsbusse fuhren in Richtung Oujda an die algerische Grenze und von dort 600 km weiter in die marokkanisch-algerische Wüste. Andere verbrachte man an die Südgrenze Marokkos in die Westsahara. Die Migranten sollen auf diesen stundenlangen Transporten weder Nahrung noch Wasser erhalten haben.

Hilfsorganisationen sprachen von annähernd 1.500 deportierten Flüchtlingen vor allem aus den Ländern der Sahelzone, die in der Sahara ausgesetzt worden seien. Ohne die Hilfe von Wüstenbewohnern, die den herumirrenden Migranten ihre Jahresrationen an Nahrungsmitteln überließen, und ohne den Protest er marokkanischen Sektion von "Ärzte ohne Grenzen" und anderen Hilfsorganisationen wären wohl eine große Anzahl der Deportierten in der Wüste umgekommen. Nach Berichten marokkanischer Selbsthilfeorganisationen und zurückgekehrter Flüchtlinge sollen viele Menschen den Treck in die Wüste nicht überlebt haben. Offiziell aber heißt es: es habe keine Todesfälle gegeben. Aufgrund internationalen Protestes mussten die Migranten wieder aus den Wüstenregionen eingesammelt werden.

Nach nur wenigen Wochen wurden die meisten der sich unerlaubt in Marokko aufhaltenden Migranten, schätzungsweise 3.000 Menschen, unter ihnen viele derer, die verzweifelt gegen die Europäischen Grenzen von Ceuta und Melilla aufbegehrt hatten, nach gewaltsamen Razzien im ganzen Land in ihre vermeintlichen Herkunftsländer abgeschoben. Amnesty International (ai) hat inzwischen einen ausführlichen Bericht über die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen angefertigt, die mit der brutalen Abwehr und der Abschiebung der Flüchtlinge einhergingen (vgl. ai, Spain and Morocco: Failure to protect the rights of migrants - one year on, 26. Oktober 2006).

Ich zitiere noch einmal aus dem WDR-Bericht von Bettina Rühl, die Gaoussou Samake interviewt hat, der als Zivilschutzbeamter die Überlebenden in Mali am Flughafen von Bamako in Empfang genommen hat:
"Viele hatten Schussverletzungen von Gummigeschossen, mit denen die Grenzbeamten sie vom Zaun vertreiben wollten. Die Kugeln steckten bei einigen noch immer im Oberschenkel oder in anderen Körperteilen, als sie hier ankamen. Sieben Abgeschobene hatten ein gebrochenes Bein, sechs hatten ein Auge verloren, zwei ein Ohr. Bei zwei weiteren ist der Unterkiefer völlig zerfetzt. ... Ich verstehe, dass die Leute abgeschoben werden, aber sie waren derart zugerichtet, dass man meinen konnte, es handele sich um eine Gruppe von Kriegsversehrten. Wahrscheinlich kann man das so sagen: Sie sind Opfer eines Krieges."

Die spanische Regierung entsandte tausend Soldaten zur Sicherung der Exklavengrenzen. Zwischen dem ersten und dem zweiten Sperrzaun wurden Rollen messerscharfen Natodrahts ausgelegt, damit herunterspringende Flüchtlinge nicht "ungeschoren" den nächsten Zaun erklimmen können. Dagegen protestierten Menschenrechtsgruppen. Inzwischen wurde die Drahtrollen wieder entfernt. Die EU eiste 40 Mio. Euro für die marokkanische Regierung los, um einen zusätzlichen Sperrwall bauen und die marokkanischen Grenzschutztruppen ausbilden zu lassen.

In den Tagen, als die schwarzafrikanischen Migranten nach Ceuta und Mellia zu gelangen versuchten, wurden die meisten durch Tore in den stacheldrahtbewehrten Zäunen auf marokkanisches Gebiet zurückgeschoben und den marokkanischen Polizisten ausgeliefert.

Dies geschah entgegen den gesetzlichen Bestimmungen.

Kurz nachdem der Ansturm der "illegalen Migranten" erfolgreich niedergekämpft worden war, besuchte eine Europäische Technische Mission vom 7. bis zum 11. Oktober 2005 Ceuta und Melilla. Deren Report ist der Öffentlichkeit zugängig: Diese Gruppe aus Migrationsexperten und Polizeibeamten wollte nicht die Vorfälle an den Grenzen untersuchen, dieselben sind es bis heute nicht, sondern sich ein Bild über Umfang und Eigenart der illegalen Migration von Afrika über Marokko nach Europa machen; sie wollte ein Lagebild über die Situation an der Nordgrenze Marokkos erstellen, insbesondere über den aktuellen Stand der illegalen Migrationskanäle. Sie wollte hören, welche Vorstellungen die spanischen und marokkanischen Behörden entwickelt haben, um die Zusammenarbeit Marokkos mit der EU zu intensivieren und die "illegale Migration" einzudämmen (vgl. Visit to Ceuta and Melilla - Mission Report, Technical mission to Morocco on illegal immigration, MEMO/05/380).

Laut Europäischem Pressedienst zeigt sich EU-Kommissar Frattini nach den Ereignissen entschlossen, "eine europäische Lösung für das Problem der illegalen Einwanderung zu finden". Dazu sollen nachfolgende Maßnahmen vorbereitet werden: Notfallhilfen für Mitgliedstaaten, die von "illegaler Einwanderung" besonders betroffen sind; eine Zusammenarbeit insbesondere mit Marokko, Libyen und Algerien bezüglich Rücknahmeabkommen und Maßnahmen zur Unterstützung ihrer Migrations- und Kontrollstrategien im Rahmen "regionaler Schutzprogramme"; Schaffung einer Spezialeinheit (task force) Einwanderung, die sich aus Vertretern europäischer und nordafrikanischer Mittelmeerländer zusammensetzen und die mit der EU-Kommission, EUROPOL und der Grenzschutzagentur FRONTEX (Abk. von: frontiere exterieure) zusammenarbeiten soll. Ein Teil dieser ad-hoc-Maßnahmen wurde inzwischen umgesetzt.

Es erscheint mir nicht unwichtig zu sein, darüber nachzudenken, was diesen Ansturm auf die spanischen Exkalven ausgelöst haben könnte. Seit dem Sommer 2005 versuchten Migranten mit neuen Mitteln, die mit Bewegungsmeldern, Infrarotkameras und Wachtürmen ausgestatteten Grenzen und die Grenzpatrouillen zu überwinden: Sie hatten sich in großen Gruppen bis zu hundert Flüchtlingen organisiert, um die Chancen Einzelner zu erhöhen, die Grenzanlagen zu durchbrechen, denn der Versuch von Kleinstgruppen scheiterte allzu oft. Diese neue Strategie hatte anfangs Erfolg: Hunderte schafften es, nach Ceuta und Melilla vorzudringen. Möglicherweise hat die kurz zuvor begonnene Erhöhung des zweiten Zauns auf 6 Meter Panikreaktionen der verzweifelt auf eine Gelegenheit wartenden Flüchtlinge ausgelöst. Die Route über die Meerenge von Gibraltar nach Spanien (14-40 km) ist in den letzten Jahren immer gefährlicher geworden, seit SIVE (Integrierte System zur Kontrolle der spanischen Seegrenzen) installiert worden ist. Dieses Abwehrsystem besteht aus mobilen und festen Radarstationen und einer großen Patrouillenflotte, um Migranten auf See abzufangen, noch bevor sie das spanische Festland erreichen. Zudem hatten seit dem Sommer brutale Razzien marokkanischer Polizeieinheiten in den Wäldern rund um die Exklaven, in denen die Menschen unter erbärmlichen Bedingungen in selbstorganisierten Camps lebten, zugenommen. Die Migranten wurden immer wieder vertrieben, ausgeraubt, geschlagen, inhaftiert und an die marokkanisch-algerische Grenze deportiert. Die marokkanische Regierung reagierte damit auf die europäischen Vorwürfe, zu lax mit der "illegalen Immigration" umzugehen.

2. Migrationsrouten, die in Sackgassen und Tod enden

Heute sind die Grenz- und Sperranlagen um die spanischen Exklaven um einen weiteren 6 Meter hohen Zaun verstärkt. Nur noch wenige Migranten schaffen es, die Barrieren zu überwinden. Die marokkanische Regierung kooperiert mit den spanischen Behörden bei der Grenzsicherung und hat zudem ein Rückübernahmeabkommen unterzeichnet. Die Migrationsroute über die Landgrenzen ist damit für die ärmsten der afrikanischen Migranten blockiert. Verschiedene Presseagenturen meldeten Anfang Juli 2006, dass erneut drei Migranten durch Schüsse an den Außengrenzzäunen von Melilla getötet und weitere schwer verletzt worden seien (vgl. die ausgezeichnete Internetseite des Hamburger Flüchtlingsrates: www.fluechtlingsrat-hamburg.de externer Link)

Die mörderische Abwehr von Flüchtlingen und Migranten an den europäischen Außenposten in Ceuta und Melilla setzte sich seit Jahresende 2005 vor den Kanarischen Inseln in einem Massensterben fort. Die marokkanische Regierung ist auf Druck der EU entschlossen gegen "illegale Migranten" vorgegangen. Diejenigen, die aufgegriffen wurden, wurden umgehend deportiert. Ihre provisorischen Camps wurden zerstört, sowie die Grenzüberwachung massiv verstärkt. Die undokumentiert in Marokko lebenden Migranten müssen sich versteckt halten und können daher keinen Jobs nachgehen, um sich das Geld für eine Passage über das Mittelmeer zu verdienen. Marokko ist auf dem Weg nach Europa für viele zur Endstation ihrer oft jahrelangen Migration geworden.

Deshalb hatten seit Ende 2005 viele Migranten die Route über Mauretanien zu den Kanarischen Inseln eingeschlagen. Von der Hafenstadt Nouadhibou versuchten sie, mit kleinen Fischerbooten die rund 900 km zu den Kanarischen Inseln zurückzulegen. Im Dezember 2005 war den spanischen Behörden bekannt geworden, dass 2.000-2.500 Menschen von der mauretanischen Küste aus mit Cayoucos in See gestochen waren, um die kanarischen Inseln zu erreichen. Nur 800-900 seien angekommen, heißt es in einem Bericht der Guardia Civil mit dem Titel "Massives Sterben von Einwanderern" (vgl. Ralf Streck, "Massensterben" vor den Kanarischen Inseln, 24. März 2006 externer Link). In den ersten drei Monaten des Jahres 2006 sollen nach Schätzungen des mauretanischen Roten Halbmondes und des spanischen Roten Kreuzes über tausend Menschen auf dem Weg nach Europa ertrunken sein. Von über 80 Ertrunkenen war in der bundesdeutschen Presse berichtet worden.

Die nationalen, in diesem Fall die spanischen und die europäischen Behörden reagierten auf diese neue Massenmigration wie gewohnt. Ein Rückübernahmeabkommen mit den mauretanischen Behörden wurde reaktiviert, in dem festlegt wird, dass auch "illegale" Immigranten aus dem Senegal und aus Mali nach Mauretanien abgeschoben werden können. In einer Eilaktion wurden 170 illegale Immigranten umgehend nach Mauretanien verbracht In der Hafenstadt Nouadhibou warteten sie mit etwa 2.000 weiteren Menschen in zwei großen Haftzentren auf die Rückführung in ihre Herkunftsstaaten. Die spanische Regierung hat inzwischen in Nouadhibou von Marineingenieuren Auffanglager errichten lassen. Sie unterstützt die Ausbildung mauretanischer Grenzschützer, baut Überwachungsposten, gibt finanzielle und logistische Unterstützung und stellt der mauretanischen Marine vier Patrouillenboote zur Verfügung - auf Kosten des Haushalts der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Die EU stellte der mauretanischen Regierung 2,5 Mio. Euro für die Auswanderungskontrolle zur Verfügung. Inzwischen patrouilliert die spanische Kriegsmarine mit mehreren Schiffen zwischen Mauretanien und den Kanaren. Die mauretanischen Behörden gaben Ende September 2006 an, mittlerweile über 8.000 Migranten an der Abreise gehindert und Tausende in ihre Herkunftsländer abgeschoben zu haben.

Dennoch sind seit Anfang des Jahres 2006 zwischen 25.000 und 30.000 Einwanderer unerlaubt auf den Kanarischen Inseln angekommen. Die verschiedenen Auffanglager (Centro de Internamiento de Extronjeros) auf den Inseln sind permanent überfüllt (ausgelegt für etwa 1.600 bis 2.000 Personen) und Notquartiere in Militäreinrichtungen errichtet worden. Wiederholt ist es zu Unruhen in den Lagern gekommen, da sich die Migranten gegen ihre Ausweisung wehren. Immer wieder gelingt es Gruppen von Migranten, aus den Lagern auszubrechen.

Aufgrund des polizeilichen Drucks in Mauretanien haben vor allem schwarzafrikanische Migranten inzwischen längere und noch gefährlichere Routen über den Atlantik entlang der Westküste Afrikas zu den kanarischen Inseln eingeschlagen: Sie starten heute von den Küsten Senegals, Gambias, Guineas und anderer westafrikanischer Länder.

Bis Anfang September 2006 haben die kanarischen Behördern 590 Todesopfer bestätigt. Andere Hilfsorganisationen (Roter Halbmond, Rotes Kreuz) schätzen, dass etwa 3.000 Menschen ertrunken sind. Die für ihre guten Kenntnisse über Migrationsrouten ausgewiesene Internationale Organisation für Migration (IOM), geht davon aus, dass 40% aller Bootsflüchtlinge, die Mittelmeer oder Atlantik überqueren müssen, umkommen.

Ausgehend vom Haager Programm ist die EU-Kommision in den letzten Jahren verstärkt darum bemüht, gemeinsam mit den Transit- und Herkunftsstaaten der transnationalen Migration Strategien gegen die undokumentierte und unkontrollierte Einwanderung nach Europa zu entwickeln. Diese Einbindung der Transit- und Herkunftsregionen in die Politik der Migrationsabwehr firmiert unter dem unverdächtigen Motto, den Flüchtlingsschutz auf die Nachbarregionen der EU auszudehnen. In Rabat fand vom 10. bis 11 Juli 2006 eine der zahllosen Konferenzen zu Fragen der Migration statt, an der immerhin Vertreter aller EU-Staaten und 27 afrikanischer Staaten teilnahmen. Die teilnehmenden Regierungsvertreter und -vertreterinnen der Konferenz verständigten sich auf kooperative Maßnahmen zur Migrationsabwehr. "Der Aktionsplan sieht verstärkte gemeinsame Grenzpatrouillen, ... Interventionstruppen, bessere Polizei- und Geheimdienstkooperationen zwischen europäischen und afrikanischen Staaten und effizientere Abschiebepraktiken vor." (PRO ASYL, Presseerklärung vom 1. Juni 2006) Die Migrationsabwehr werde zukünftig mit erhöhten Finanzmitteln der EU ausgestattet.

3. Massendeportationen ins Ungewisse

Dieser Verständigungsprozess zeitigte schon bald erste Früchte: So konnte die spanische Regierung Abkommen mit Gambia und Guinea über die Rückübernahme von "illegalen Migranten" erreichen. Zudem unterstützen guineische und gambianische Verbindungsbeamte die Identifikation von Flüchtlingen auf den Kanaren. Weitere Rückführungsabkommen bestehen mit Marokko, Algerien, Mauretanien und Guinea Bissau. Die senegalesische Regierung ist, bislang auch ohne formales Abkommen, bereit, repatriierte Migranten zurückzunehmen. 2.000 Menschen wurden bislang deportiert. Die spanische Regierung gab an, bis Ende Oktober 2006 5.000 unerlaubt eingewanderte Migranten nach Afrika abschieben zu wollen. Senegalesische Polizeibeamte helfen bei der Identifizierung der Menschen in den Auffanglagern auf den kanarischen Inseln.

Schutz vor umgehender Deportation bietet den Immigranten nur ihre "Identitätslosigkeit": keine Papiere, keine Namen, keine staatliche Herkunft. Wie die verschiedenen afrikanischen Verbindungsbeamten dennoch allein nach äußerer Augenscheinnahme die Herkunft der Menschen "identifizieren" können, bleibt ein Rätsel. Nach Berichten spanischer Zeitungen werden deportierte senegalesische Migranten im Senegal inhaftiert. Ihnen drohen Haftstrafen wegen "illegaler" Ausreise. Die senegalesischen Behörden erhalten für die Flüchtlingsabwehr zwei Schnellboote, 50 Strandmotorräder, Nachtsichtgeräte, mobile Radaranlagen. Zwei spanische Patrouillenboote sichern die Küste Senegals. Weitere gemeinsame Seepatrouillen unter der Leitung von FRONTEX finden vor den Küsten Mauretaniens und der Kapverden statt. Die noch im Aufbau befindliche Grenzschutzagentur FRONTEX beteiligt sich mit 2 Patrouillenbooten, Flugzeugen und 2 Hubschraubern (Aktionsname: Hera II). Darüber hinaus stellt sie Informationen, Beratung und Finanzmittel (2-3 Mio. Euro) zur Verfügung und koordiniert die Migrationsabwehr. Aus den uns bislang vorliegenden Informationen wird nicht ersichtlich, wie die internationalen Marineeinheiten mit abgefangenen Migranten auf hoher See umzugehen haben.

In der gleichen Zeit, in der die kanarischen Inseln zum Ziel vieler Migranten wurden, setzten sich auch tausende Bootsflüchtlinge von Libyen in Richtung der italienischen Insel Lampedusa (lt. Agenturen mehr als 10.000 Migranten) und nach Malta (etwa 2.000 Migranten) in Bewegung; von der Türkei aus versuchen Menschen immer wieder auf die griechischen Inseln in der Ägäis zu gelangen. FRONTEX will deshalb in Kürze ein zweites Patrouillenprojekt mit Namen Jason I zwischen Sizilien, Malta und Griechenland starten.

Libyen, das gute migrationspolitische Kontakte zu Italien unterhält, hat angeboten, sich an den Seepatrouillen zu beteiligen, verlangt zugleich aber eine höhere europäische Finanzhilfe, um die Flüchtlingsbewegungen einzudämmen. Die libysche Polizei gab Mitte Oktober 2006 bekannt, dass sie binnen 4 Wochen 1.930 sich illegal aufhaltende Personen festgenommen und im gleichen Zeitraum 3.700 Migranten abgeschoben habe. In einem 135-seitigen Bericht (Stemming the flow. Abuses against Migrants, Asylum Seekers and Refugees) wirft Human Rights Watch der libyschen Regierung vor, Asylsuchende willkürlich zu verhaften und in Haft zu misshandeln. Diese Politik werde von der EU unterstützt. Im Zeitraum von 2003 bis 2005 hätten die libyschen Behörden allein 145.000 Migranten abgeschoben (vgl. taz vom 14. September 2006)

4. Die Militarisierung der Grenzen, die zwischen den globalen Zonen der Armut und des Wohlstandes verlaufen

Aus den hier wiedergegebenen, leicht zugänglichen Berichten über die europäische Bekämpfung der undokumentierten Migration an den europäischen Südgrenzen wird ersichtlich, wie die Grenzen militärisch aufgerüstet und die Grenzräume weit auf afrikanisches Territorium ausgedehnt werden. Die Sicherung der Grenzen wird exterritorialisiert; die vordersten Frontlinien bei der Bekämpfung der undokumentierten Migration liegen in den kooperierenden afrikanischen Staaten, die sich ihre Bereitschaft, gegen die Migrationsbewegungen vorzugehen, mit "Entwicklungsgeldern" aufwiegen lassen. Die europäische Flüchtlingsabwehr wird auf den afrikanischen Kontinent verlagert. Die EU und ihre nationalen Mitgliedstaaten haben aufgrund ihrer politischen, ökonomischen und militärisch assistierten Macht die Möglichkeit, ihre Interessen weitgehend gegenüber den afrikanischen Staaten durchzusetzen. Dazu stellen sie die technischen und finanziellen Mittel für die Abwehr der undokumentierten Migration auf afrikanischem Boden. Dadurch werden die Migrationsbewegungungen in den Transitstaaten gestaut. Gewalträume entstehen, in denen die Migranten der Gewalt von Polizei, Militär und Migrationsbehörden ausgesetzt sind.

Durch den Rückstau der transnationalen Migration in die armen Transit- und Herkunftsregionen werden erst jene Bedingungen geschaffen, in denen afrikanische Regierungen für gewaltförmige Lösungen gegenüber der undokumentierten Migartion empfänglich werden: sei es, dass sie Migranten in die Wüste deportieren, sei es, dass sie internieren und misshandeln. So sieht offensichtlich "eine europäische Lösung für das Problem der illegalen Einwanderung" aus, die EU-Kommissar Frattini gesucht hat. Sie ist vor allem jenseits des "Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" angesiedelt: in Afrika! Die EU produziert nicht nur den Migrationsrückstau, sondern auch schwere Menschenrechtsverletzungen anderwärts.

Es sind eher die armen, mittellosen Migranten, die den gefährlichen Weg über die Seegrenzen wählen müssen. Und sie machen nur einen kleinen Teil der "illegalen Einwanderung" in die EU aus. Es gibt gegenwärtig kaum eine Untersuchung über die transnationale Migration, die nicht auf den unübersehbaren Zusammenhang von "kapitalistischer Globalisierung", wachsenden Armutsbevölkerungen und Migrationsbewegungen hinweisen. In diesem Kontext muss die unzählige Menschenleben fordernde Gewalt der Grenzen verortet werden.

Die neuen Grenzen gegen die Weltarmut, die zwischen den weltweiten Depressions- und Wohlstandszonen verlaufen, müssen nicht identisch sein mit den überkommenen territorialen Grenzen des Nationalstaates. Diese neuen Grenzen dienen vor allem dazu, die globalen Räume entsprechend ihrem kapitalistischen Nutzen zu staffeln, die globalisierungskompatiblen Weltzonen ein- und die inkompatiblen Weltregionen auszuschließen.

Darum verlaufen die Grenzen gegen die Weltarmut diffus. Sie werden weit im Vorfeld nationaler Grenzen an den Visa-Schaltern der Botschaften und Konsulate errichtet, in denen Visa mit biometrischen Merkmalen zur Identifizierung erteilt oder den wenig Begüterten vorwiegend verweigert werden. Die Grenzen entstehen in unzähligen Razzien und Kontrollen auf den Transitrouten der Migrationsbewegungen. Sie bestehen an den Kontrollen in den Flug- und Fährhäfen; kurz: überall dort, wo Mobilität, das Recht auf Bewegungsfreiheit gezielt behindert oder unterbunden werden soll. Selbst die politisch gesetzten Flüchtlingsdefinitionen konstituieren Grenzen des Menschenrechts auf Bewegungsfreiheit!

Die Rückkehr der Lager

Eng mit der territorial vorverlagerten Flüchtlingsabwehr sind die nationalen und gesamteuropäischen Bestrebungen verbunden, den Flüchtlingsschutz auszulagern, indem exterritoriale Auffanglager, euphemistisch Zentren genannt, in den Transitstaaten errichtet werden, die den Archipel der auf europäischem Territorium befindlichen Auffang- und Abschiebelager ergänzen sollen. Diese sollen die Knoten- und Sammelpunkte der europäischen Deportationsrouten bilden.

1. They are warehoused!

Das "US Committee for refugees and immigrants" stellt in seinem statement "calling for solutions to end the warehousing of refugees" vom März 2005 fest, dass weltweit von den annähernd 12 Millionen "politischen Flüchtlingen" gegenwärtig mehr als 7 Millionen ihr Leben in Lagern fristen müssen: they are warehoused, wie es dort heißt. Sie sind lagerverbracht oder sie sind wie Waren verstaut, könnte man übersetzen. Ich führe diese von mehr als 200 NGOs getragene Erklärung des US-Committees an, um deutlich zu machen, dass nicht nur die Weltarmut in Lagern verschwindet, sondern auch "politische Flüchtlinge". Diese Entwicklung markiert einen Trend, dem alle Migranten unterworfen sind, gleich, aus welchen Gründen sie ihre Herkunftsregionen verlassen haben.

Die gewöhnliche Unterscheidung zwischen Armuts- und Arbeitsmigration auf der einen und "politischen Flüchtlingen" auf der anderen Seite wird angesichts der verheerenden Folgen einer globalen kapitalistischen Ungleichheitsordnung den tatsächlichen Gründen zur Migration schon lange nicht mehr gerecht: Armut, Ungerechtigkeit und Unterdrückung sind immer politisch. Sie werden politisch gewaltsam hergestellt und um den Preis ungezählter Menschenleben aufrecht erhalten. Die Differenzierung der transnationalen Migration wird heute weiterhin vor allem von den reichen Industriestaaten zu dem Zweck vorgenommen, möglichst viele der unerwünschten Migranten abweisen zu können.

2. Die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes

In Australien wurde die "pazifische Lösung", den Flüchtlingsschutz auszulagern, im Jahr 2001 mit der Landung des norwegischen Frachters MS Tampa erfunden, der Hunderte Asylsuchende an Bord hatte. Die australische Regierung handelte mit den Regierungen Papua Neuguineas und Naurus die Übernahme der Bootsflüchtlinge aus. Dort wurden sie in Lager eingesperrt und von Wachleuten internationaler Sicherheitsunternehmen bewacht. Die britische Regierung griff die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes mit einer Initiative im Jahr 2003 unter dem Titel "A New Vision for Refugees" auf. Sie bestand aus einer Kombination aus Regionalen Schutzzonen (Regional Protection Areas) und Transitlagern (Transit Processing Centres), in denen Asylgesuche geprüft werden sollten. Die Regionalen Schutzzonen sollten für Schutz in den Ursprungsregionen der Migration sorgen und eine Weiterwanderung verhindern. Diese Transitlager sollten außerhalb der EU-Grenzen installiert werden, um in ihnen möglichst viele Migranten auf dem Weg nach Europa festzusetzen.

Im Sommer 2004 rückte die Rettungsaktion von 37 afrikanischen Bootsflüchtlingen durch die "Cap Anamur" im Mittelmeer für einen kurzen Augenblick den Überlebenskampf tausender Migranten in den Mittelpunkt der Medienaufmerksamkeit. Die Öffentlichkeit kam nicht umhin, dass zahlreiche Menschen ihr Leben auf der Suche nach einem besseren verloren. Das Mittelmeer als das größte Massengrab Europas in der Gegenwart! Es wurde ersichtlich, dass das Sterben an den südlichen Rändern Europas auch eine Folge der technisch hochgerüsteten und militarisierten Grenzsicherung gegen die unerwünschte Migration ist. Damit tragen die EU-Staaten und ihre Bürgerinnen und Bürger zumindest Mitverantwortung für die unzähligen Toten.

Der deutsche Innenminister, unterstützt von seinem italienischen Amtskollegen, nutzte die Gunst der Stunde, Auffanglager in den nordafrikanischen Anrainerstaaten zu fordern. Um der menschlichen Tragödie im Mittelmeer begegnen zu können, müsse Flüchtlingen Gelegenheit gegeben werden, bereits in nordafrikanischen "Auffangzentren" ihre Schutzgesuche zu stellen. Diese sollten von EU-Beamten oder dem UNHCR entgegengenommen und geprüft werden.

Inzwischen hat das Bundesinnenministerium in einem siebenseitigen Papier die Überlegungen Schilys zu den EU-Aufnahmeeinrichtungen in Nordafrika konkretisiert (vgl. Effektiver Schutz für Flüchtlinge - wirkungsvolle Bekämpfung illegaler Migration: Überlegungen des Bundesministers des Innern zur Errichtung einer EU-Aufnahmestelle in Nordafrika, www.bmi.bund.de PM 9/2005): Demnach sollen in diese Auffanglager auf dem afrikanischen Kontinent Flüchtlinge, die auf hoher See aufgegriffen werden, verbracht werden. Dort soll ihre Schutzbedürftigkeit überprüft werden: zwar nicht als förmliches Asylverfahren, sondern lediglich als Überprüfung (screening). Von diesem humanitären Angebot könnten zweitens auch Flüchtlinge gebrauch machen, die das Risiko der gefährlichen Überfahrt scheuen. Schutzbedürftige könnten in heimatnahen sicheren Regionen verbracht, oder von einem Mitgliedstaat aufgenommen werden. Der "Rest", die nicht "schutzwürdigen" Flüchtlinge, die nicht von der Flüchtlingskonvention erfasst werden, sollen unverzüglich zurückgeschoben werden. Das BMI unterstreicht, dass die Auffanglager der EU in Nordafrika nur "ein zusätzliches Element in einer umfassenden Strategie zur Bewältigung der komplexen Problematik gemischter Migrationsströme" sei. Die innenministeriellen Überlegungen ergänzten das von der EU gebilligte "Programm zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung an den Seegrenzen von 2003" (Rat der EU 15445/03 vom 28.11.2003) und den "Gesamtplan zur Bekämpfung illegaler Einwanderung und des Menschenhandels von 2002" (Amtsblatt C142 vom 14.6.2002). Auf den EU-Gipfeln in Sevilla (2002) und Thessaloniki (2003), auf denen die "Bekämpfung der illegalen Migration" ganz oben auf der Tagesordnung stand, waren diese Aktionsprogramme nochmals Thema (vgl. Dirk Vogelskamp, Europawärts: Kontrollen, Lager und Tod, in: Jahrbuch des Komitee für Grundrechte und Demokratie 2001/2002, Köln 2002, S. 103-112). Die martialischen Titel (und Inhalte) dieser Programme erklären die undokumentierte und unkontrollierte Migration zum Gefahrenpotential des europäischen "Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts". Die undokumentierte Migration, die Menschen ohne Papiere werden in eine Reihe mit Terrorismus und Menschenhandel gestellt.

Der vormalige "Verteidigungsminister" Struck empfahl jedenfalls der Armeeführung anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Bundeswehr vor dem Hintergrund der mörderischen Ereignisse in Ceuta und Melilla, deutsche und europäische Interessen genauer zu definieren: Massenfluchten könnten für die Stabilität Europas relevant werden. In Afrika sei deshalb künftig ein stärkeres militärisches Engagement erforderlich, "um auseinanderfallende Staaten zu stabilisieren und Massenfluchten zu verhindern" (vgl. www.ngo - online.de vom 11.10.2005).

3. Eine Lagerstruktur entsteht

Auch wenn die öffentliche Diskussion um exterritoriale EU-Lager zwischenzeitlich verstummt ist, eine, teils verborgene, Lagerinfrastruktur besteht bereits. Diese Lagerstruktur wird teils aus Europa finanziert, gefördert, politisch geduldet und - vor allem - praktisch genutzt.

Im April 2005 verurteilte das EU-Parlament mehrheitlich die menschenfeindlichen Massendeportationen von der italienischen Insel Lampedusa nach Libyen. Die italienischen Behörden hatten auf Grundlage eines bilateralen "Antimigrationsabkommens" mit Libyen Hunderte von Flüchtlingen, die auf Lampedusa gestrandet waren, im Oktober 2004 und im März 2005 ohne Überprüfung ihrer Fluchtgründe mit Militärmaschinen umgehend wieder nach Libyen deportiert.

Dort seien diese, so das EU-Parlament, vor willkürklichen Festnahmen, Internierungen und Abschiebungen jedoch nicht sicher. Der italienische Journalist Fabrizio Gatti berichtete im März 2005 erstmals über die Internierungen im libyschen Wüstenlager Gatrun und über das Sterben von über hundert aus Libyen abgeschobenen Flüchtlingen, die in der Wüste ausgesetzt worden waren. Unter diesen Toten sollen sich auch Menschen befunden haben, die zuvor von den italienischen Behörden nach Libyen zurückgeschoben worden waren.

Der EU-Rat Justiz und Inneres, der gleichfalls im April 2005 in Brüssel tagte, beriet über eine engere Kooperation mit Libyen bei der Bekämpfung der "illegalen Migration" nach Europa. Im "Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der EU", mit dem der Bereich Asyl und Migration für die nächste Jahre strategisch konzipiert wird, erhält die Zusammenarbeit mit den Transitstaaten der Migration erhöhte Priorität. Sie werden zu Frontstaaten erklärt. Darüber hinaus wird die entwicklungspolitische Zusammenarbeit stärker mit den "Erfordernissen der Bekämpfung illegaler Migration" verknüpft. In diesem "ressortübergreifenden Ansatz" zur Steuerung der "illegalen Migration" sollen sicherheitspolitische, entwicklungspolitische und menschenrechtliche Perspektiven (!) zwischen den verschiedenen Ressorts (Außen-, Innen- und Entwicklungspolitik) kombiniert werden. Das Wohlverhalten afrikanischer Staaten bei der Abwehr von Migrationsbewegungen wird zunehmend mit der Drohung erpresst, ansonsten erforderliche Hilfsmaßnahmen zurückzustellen. In diesem für die Migrationspolitik der EU wichtigen Programmdokument heißt es u.a.:
"Ferner sollten in einer gesonderten, in enger Absprache mit dem UNHCR durchzuführenden Studie die Vorteile, die Zweckmäßigkeit und die Durchführbarkeit einer gemeinsamen Behandlung von Asylanträgen außerhalb (!) der EU geprüft werden, wobei dieses Verfahren die gemeinsame europäische Asylregelung ergänzen und den einschlägigen internationalen Normen entsprechen würde".

Mit diesem Satz des Haager-Programms, wie es kurz heißt, bleiben die exterritorialen Lager auf der europäischen Tagesordnung.

Einen weitern Mosaikstein in der Errichtung einer exterritorialen Lagerstruktur ist ein Richtlinienentwurf, den die EU-Kommission am 1. September 2005 dem EU-Parlament zur Kenntnis gibt. Darin heißt es u.a., dass sie die Rückführungen illegaler und unerwünschter Migranten harmonisieren und beschleunigen will. Gemeinsame Deportationscharterflüge werden inzwischen eingeübt. Die freiwillige Rückkehr solle, so heißt es in dem Entwurf, Priorität vor Zwangsmaßnahmen erhalten. Zugleich wird der Start regionaler Schutzprogramme bekannt gegeben (regional protection programms), die den betreffenden Ländern helfen sollen, ihre Schutzkapazitäten auszubauen: Gefördert werden Infrastruktur, subsidiärer Schutz, Asylüberprüfung, Dokumentation und Registrierung von Flüchtlingen. Infrastruktur kann jedoch in diesem Fall vieles bedeuten: Vom Überwachungshelikopter bis zum Flüchtlingslager (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften KOM (2005) 388 endgültig vom 1. September 2005) .

Dieser Kommissionsvorschlag, so der ehemalige Innenminister Schily, entspreche in Inhalt und Zielsetzung weitgehend seinen Anregungen. Er sei erfreut, dass sich in dieser für die "Bekämpfung illegaler Migration" wichtigen Frage in der EU ein breiter Konsens abzeichne. Die Einrichtung "humanitärer Schutzzonen" sind vom EU-Rat Justiz und Inneres am 12. Oktober 2005 beschlossen worden. Laut "Frankfurter Rundschau" vom 14. Januar 2006 lobte der UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres die Absicht der EU, Schutzzentren einzurichten. Die EU solle solche Zentren auch in Nordafrika fördern. Der UNHCR hat gleich verstanden, dass es sich bei solchen Schutzzonen um "Zentren", sprich, Lager handelt. Zu dieser Verwirrung hatte EU-Kommissar Frattini beigetragen, der anfänglich auch von Schutzeinrichtungen in jenen Regionen sprach, in denen eine große Anzahl europaorientierter "illegaler" Migraten leben (vgl. www.migrationsrecht.net externer Link Europa und EU vom 2. September 2005).

Das erste Pilotprojekt soll in den östlichen "new independent states" umgesetzt werden: Ukraine, Moldawien und Weißrussland, in denen viele irreguläre Immigranten auf dem Weg nach Europa stranden. Zugleich will die EU-Kommission anfangen, mit jenen Herkunftsstaaten in einen Dialog zu treten, aus denen viele Menschen emigrieren, um vorrangige geographische Regionen ausfindig machen zu können, in denen weitere Schutzprogramme etabliert werden könnten. Dazu gehöre die Subsahara-Region und Nordafrika. Der Aufbau solcher Schutzprogramme soll in den Ländern mit der Bereitschaft gekoppelt werden, Rückübernahmeabkommen abzuschließen. Inzwischen wird ein zweites Pilotprojekt in Tansania vorbereitet, einem Land, in dem der UNHCR kürzlich die Lebensmittelrationen für 400.000 Flüchtlinge reduzieren musste, da ihm nötige Finanzmittel fehlten (vgl. PRO ASYL, Pressemitteilung vom 7. Oktober 2005). Diese zweite Schutzzone entsteht in einer äußerst krisenhaften Region, in der bereits viele Migranten und Flüchtlinge in Lagern konzentriert leben müssen. Die Bundesregierung unterstützt bereits seit dem Jahr 2001 die Regierung in Tansania logistisch bei Rückführung von Flüchtlingen nach Burundi und Ruanda.

Es bestehen keine Zweifel, eine Lagerinfrastruktur entsteht in Nord- und Westafrika, die in zwischenstaatlichen Abkommen modellhaft und wegbereitend vorweggenommen wird (Lager in Libyen, Mauretanien, Senegal, Haft- und Auffangzentren in Tunesien und Marokko ...). Bereits heute wird, wie die Erfahrungen der Deportierten von Lampedusa zeigen, bei Massenabschiebungen auf einen bestehenden, zum Teil versteckten Lager- und Internierungskomplex zurückgegriffen, in denen viele der Deportierten verschwinden. Menschen, die in die Maghrebstaaten zurück- oder abgeschoben werden, landen zumeist erneut in Internierungs- oder Abschiebelagern. Ein ähnliches Schicksal scheint die Deportierten in Mauretanien und im Sengal zu erwarten, wie die bislang spärlichen Informationen befürchten lassen müssen. Sie sind verdammt, ein Leben von Lager zu Lager zu fristen.

Dieser Zusammenhang von Deportationen und Lagern wird u.a. von einer Untersuchung des italienischen Politologen Paolo Cuttitta für Tunesien bestätigt (vgl. Paolo Cuttitta, Das diskrete Sterben, in: Frankfurter Rundschau vom 14. August 2004):
"In Tunesien gibt es inzwischen dreizehn mit italienischem Geld finanzierte Abschiebehafteinrichtungen. Eine davon befindet sich in der Nähe von Tunis, eine in der Nähe von Gabès. Die anderen liegen an geheimen Orten. Niemand außer Regierung und Polizei weiß, wo. Keiner soll erfahren, was mit den Flüchtlingen passiert, die aus Italien nach Tunesien zurückgeschoben oder schon vor der Überfahrt von der tunesischen Polizei aufgegriffen werden. (...) Laut inoffiziellen Informationsquellen werden viele Migranten von den italienisch-tunesischen Abschiebelagern einfach an die Südgrenze zu Algerien begleitet und dort in der Wüste abgesetzt."

Durch die Ereignisse von Ceuta und Melilla hat die Debatte um exterritoriale Lager der EU neuen Schwung erhalten. Schließlich, so die EU-Kommission, müsse man sich vor einem ungeheueren Migrantenansturm wappnen. Eine von der EU geförderte Studie gibt an, dass bis zu 30.000 "illegale Armutsmigranten" in Algerien und Marokko lebten, die nur darauf warteten, den Sprung nach Europa zu wagen. Verstärkt beteiligt sich auch die algerische Regierung am "Kampf gegen die illegale Migration": Anfang Dezember 2005 zerstörte sie ein improvisiertes Lager von Migranten in der Nähe von Maghnia, das 30 km vor der marokkanischen Grenze liegt. Damit hat sie die wichtige Transitroute von Maghnia nach Oujda, auf der viele Migranten nach Ceuta und Melilla gelangten, kurzfristig unterbrochen.

Ein zentrales Element des europäische Konzepts, Flüchtlinge und Migranten schon möglichst weit vor dem Hoheitsgebiet der EU abzufangen und sie möglichst "heimatnah" in Flüchtlingslagern und Internierungszentren festzusetzen sowie möglichst viele der unerlaubt eingewanderten oder unerlaubt in Europa sich aufhaltenden Menschen in ihre Herkunftsregionen zurückzudeportieren, ist die Errichtung von Lagern in all ihren unterschiedlichen Gestalten und Funktionen. Die Einschätzung, die Thomas Hohlfeld und ich zu Beginn unserer Recherche zu der Errichtung von Lagern in Europa vor etwa zwei Jahren gewonnen haben, gilt heute immer noch (vgl. Ausgelagert: Exterritoriale Lager und der EU-Aufmarsch an den Mittelmeergrenzen, Berlin/Hamburg 2005, S. 111):
"Bei allen Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Widersprüchen und Entsprechungen in der empirischen Entwicklung und Verwendung von Lagertechniken scheint uns eines festzustehen: Die ,Rückkehr der Lager' im gesellschaftspolitischen Diskurs und in der Praxis ist ein untrügliches Indiz für die Schwächung der Menschenrechte - ein Vorgang, der vor allem in Anbetracht der unheilvollen deutschen Vergangenheit zutiefst beunruhigen muss."

Die "Weltüberflüssigen" und die Menschenrechte

In dem europäischen Versuch, die transnationale Migration nach Europa zu unterbinden, festzusetzen und in die weltweiten Elendszonen zurückzuschieben, markieren die Lager an den Mittelmeerrändern entscheidende Knotenpunkte der Migrationskontrolle. Die Lager, Internierungs- und Haftzentren bilden ein unerlässliches Element, um Menschen gewaltsam von Europa fernzuhalten oder wieder aus Europa herauszuschaffen. Das war die Intention der britischen Pläne der "new vision of refugees" von allem Anfang an, die sich erst in einem mehrjährigen Aushandlungsprozess sowohl innerhalb der EU-Exekutive als auch mit einigen afrikanischen Staaten von Lager zu Lager praktisch umsetzen ließen. Diese Verlagerung von Menschen befindet sich im Fluss und die zukünftige Entwicklung kann noch gar nicht abgeschätzt werden. Auf der anderen Seite des Mittelmeeres und an der Westküste Afrikas setzt sich die Logik der Lagergewalt unterdessen fort. Sie steigert sich bis ins "Sterbenlassen in der Wüste".

Die "Bekämpfung der illegalen Migration" wird seit einigen Jahren zum Schwerpunkt der Europäischen Migrationspolitik erhoben. Es genügt deshalb politisch nicht, in diesem Kontext allein auf den Zugang zu einem fairen Verfahren in Europa im Sinne der "Genfer Flüchtlingskonvention" zu drängen und die Blockierung der Migrationsrouten zu beklagen. Wenn es stimmt, dass der Direktor des italienischen Flüchtlingsrates (CIR), Christopher Hein, der kommenden deutschen Ratspräsidentschaft (2007) ein "Fünf-Brücken-Programm" andient, in dem er u.a. vorschlägt, dass "Einrichtungen" (vornehm ausgedrückt) in Erstaufnahmeländern geschaffen werden sollten, damit dort eine Vorprüfung des Asylbegehrens stattfinden könne, dann bedeutet das, seine flüchtlingspolitisch guten Absichten unterstellt, dennoch eine Kapitulation vor der repressiv verpolizeilichten europäischen Migrationspolitk, der der Geschmack von Kollaboration untergemischt ist (vgl. Ulla Jelpke, Lampedusa - Vorposten der Festung Europa, in: junge Welt vom 19. Oktober 2006). Die Krise des Flüchtlingsschutzes, vielstimmig und zu Recht beklagt, offenbart eine Krise der Menschenrechte allgemein, vor der ein verlagerter "Flüchtlingsschutz" und ein "Rechtsschutzvisum" keinen Ausweg bieten. Nicht nur weil er keine menschenrechtliche Antwort auf die Bedingungen von Millionen von Entwurzelten in der globalen Ungleichheitsordnung zu geben vermag und sie stattdessen dem Elend ihrer Perspektivlosigkeit preisgibt, sondern weil die politischen Bedingungen, unter denen europäische Migrationspolitik entworfen wird, schöngefärbt werden. Ja, geradezu schöngefärbt werden müssen. Vielleicht, um nicht den Verstand zu verlieren. Ich werde abschließend lediglich einige Facetten des politischen Kontextes der europäischen Migrationspolitik grob skizzieren können.

1. Die Ausweitung des Sicherheitsparadigmas

In der europäischen, von Solana entworfenen Sicherheitsdoktrin, die der EU-Rat am 12. Dezember 2003 verabschiedete (A secure Europe in a better world), wurde die Definition von "Sicherheit" entgrenzt und auf die europäischen Nachbarregionen ausgedehnt, die geopolitisch als europäischer Sicherheitsgürtel bestimmt werden. Sicherheitspolitik wird dabei verstanden als, notfalls gewaltsame, Durchsetzung kapitalistischer Ordnungsvorstellungen in Wirtschaft und Politik (sprich: Marktöffnung und "good governance").

Nordafrika bildet dabei in den unterschiedlichen strategischen Überlegungen eine der zentralen sicherheitsrelevanten Regionen, in denen gegebenenfalls auch militärisch präemptiv interveniert werden soll. Zu diesem Interventionskonzept gehören die so genannten europäischen "battle groups". In dieser Europäischen Sicherheitsdoktrin werden Flucht- und Wanderungsbewegungen nach Europa sowie "Bevölkerungsverschiebungen" infolge regionaler Konflikte (oder Umweltveränderungen) als wesentliche Bedrohungsfaktoren wahrgenommen und festgeschrieben. So erklärte der bereits zitierte ehemalige deutsche Verteidigungsminister Struck am 9. November 2004 in Berlin (vgl. Herausforderungen und Perspektiven der europäischen Sicherheitspolitik unter: www.bmvg.de externer Link):
"Die geographischen und materiellen Grenzen des europäischen sicherheitspolitischen Engagements müssen ... bestimmt werden - in Europa, in Afrika und darüber hinaus. ... Zu diesen (europäischen) Interessen gehören der Schutz gegen internationalen Terrorismus oder die Begrenzung der Auswirkungen destabilisierender Konflikte in der europäischen Nachbarschaft. Dazu gehören auch der Schutz vor illegaler Migration und organisierter Kriminalität oder der Schutz der Energie- und Rohstoffversorgung. Dies sind legitime gemeinsame Interessen, die gemeinsames internationales Handeln der europäischen Staaten erfordern können."

Über die Migrationsrouten könnten Terroristen in die europäischen Metropolen einsickern, lautet eine der Argumentationsfiguren. Dieselben würden geradezu urwüchsig im perspektivlosen gigantischen Jugendüberschuss der maghrebinischen Staaten erzeugt.

Auch die europäische "Kongo-Mission" wird vom neuen Verteidigungsminister damit begründet und gerechtfertigt, sie diene der Flüchtlingsabwehr und der Rohstoffsicherung. Ähnlich argumentiert Kerstin Müller, ehemalige Staatsministerin im Auswärtigen Amt und außenpolitische Sprecherin der Grünen (vgl. taz vom 17. März 2006):
"Wenn wir also verhindern wollen, dass Afrika Terrorismus, organisierte Kiriminalität und Flüchtlingsströme nach Europa exportiert, dann muss sich die EU an der Befriedigung afrikanischer Krisen aktiv beteiligen - schon aus ureigenem Sicherheitsinteresse."

Seit den Terrorangriffen vom 11. September 2001 werden Fragen der europäische Asyl- und Migrationspolitik verstärkt mit der Thematik der "Inneren Sicherheit" verknüpft und in ihren Außendimensionen den expansiven europäischen Sicherheitsinteressen unterworfen. Die europäisch-nationalen Sicherheitsdiskurse und -konzepte, die vor allem die Polizeien, Geheimdienste und Grenzschutzagenturen ermächtigen, werden zur Legitimation einer exekutivisch durchgesetzten polizei-militärischen Bekämpfung der undokumentierten Migration, die an den Außengrenzen - wie in Ceuta und Melilla - den Ausnahmezustand zur Norm werden zu lassen droht. Helmut Dietrich schreibt über die Zukunft des Grenzregimes in Nordafrika in seiner wegweisenden Recherche "Das Mittelmeer als neuer Raum der Abschreckung" (vgl. in: Ausgelagert: Exterritoriale Lager und der EU-Aufmarsch an den Mittelmeergrenzen, Berlin/Hamburg 2005, S. 29 - 99, hier: S. 93f ):
"Da es (das Grenzregime, D.V.) sich nicht nur gegen afrikanische Kriegsflüchtlinge richtet, sondern auch gegen die dort ansässig-mobile Bevölkerung, wird es sich nicht um einen einfachen Transfer des Know-Hows von der Oder/Neiße (oder vom Rio Grande) in die Sahara handeln. Vielmehr stellt es ein Laboratorium gewaltigen geographischen Ausmaßes dar, in dem Petro- und Uraninteressen, Kriegsindustrien und die internationalen Dispositive des Antiterrorismus zusammenwirken. Es ist noch nicht so recht zu erkennen, ob die Bekämpfung der Mobilität lokaler Bevölkerungen und der Transit-Fluchtbewegungen das eigentliche Motiv dieses neuen Grenzregimes ist, oder ob es nur als Ticket eines polizeilich-militärischen Aufmarsches in der Region dient. Denn die Frage, wie der afrikanische Kontinent südlich der Sahara vom Überleben der Menschheit abgekoppelt wird, überragt den Fluchtaspekt (Hervorhebung, D.V.)."

2. Die gegenwärtigen und zukünftigen Entstehungsbedingungen transnationaler Migration

Im Kontext der "Bekämpfung der illegalen Migration" müssen verschiedene ökologische und ökonomische Entwicklungen mit in Betracht gezogen werden. Nur zwei Aspekte seien hier skizziert. Sehen wir von den geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen an Öl und Gas, bzw. an den entsprechenden Transportkorridoren, und von den allgemein europäisch aufgeherrschten Marktzugängen einmal ab. Dass vor allem Nordafrika zum "sicherheitsrelevanten Faktor" europäischer Politik wird, hängt mit den folgenden, ernstzunehmenden Szenarien ab: Wenn die Prognosen der UN stimmen, schreitet die weltweite Verwüstung stetig voran, so dass bis zum Jahr 2025 zwei Drittel des bebauten Ackerlandes in Afrika verschwunden sein werden. Weltweit werden laut UN dann 135 Millionen Menschen nach neuen Lebensgrundlagen suchen. Erst kürzlich hat die UN-University in Bonn ein erschreckendes Szenario mit Millionen Umweltflüchtlingen in den kommenden Jahrzehnten vorgestellt, für die es keine "völkerrechtliche Regelung" gebe (vgl. Beilage der Süddeutschen Zeitung vom 2.11.2006). Klaus Töpfer, von 1998 bis 2006 Direktor des UN-Umweltprogramms, schreibt im Vorwort zum "Atlas der Globalisierung" (Hrsg. Le Monde diplomatique, Paris/Berlin 2006, S. 6f):
"Ebenso klar zeichnet sich ab, dass diese Klimaentwicklung die globalen Verteilungskonflikte verstärken wird. ... Ebenso klar ist auch, dass gerade die Ärmsten der Armen von diesen Veränderungen zuerst und mit aller Wucht überrollt werden. Die Menschen in den Armuts- und Entwicklungsgürteln Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ... sind von dessen Folgen massiv betroffen ... ".

Samir Amin, Direktor des Dritte Welt Forums in Dakar, beschreibt wie sich Landwirtschaft und Besitzverhältnisse auf dem Land global veränderten, setzten sich die Entwicklungskonzepte der Welthandelsorganisation (WTO) in der Landwirtschaft durch: Etwa 3 Milliarden Menschen, rund die Hälfte der Weltbevölkerung, würden ihre Lebensgrundlagen durch die Kapitalisierung der Landwirtschaft verlieren. Die strategische Kontrolle über diesen Inwertsetzungsprozess bliebe in den kapitalistischen Metropolen. Aber genau diese Politik wird von Europa gegenüber den Maghrebstaaten betrieben, wenn in ein paar Jahren, institutionalisiert über den Barcelona-Prozess, eine Freihandelszone entstehen soll. Samir Amin bezeichnet diese Durchkapitalisierung der Landwirtschaft als "kapitalistischen Genozid". In China, Indien, Brasilien habe dieser längst schon begonnen. (vgl. Samir Amin, Der kapitalistische Genozid, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Juli 2004)

Die seit Dezember 2005 maßgebende "Strategie der Europäischen Union für Afrika" (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften KOM (2005) 489 endgültig vom 12.10.2005) setzt im wesentlichen auf eine kapitalistisch getrimmte Integration der Afrikanischen Ökonomien in den Weltmarkt, auf denen bislang lediglich 2% des Welthandels entfielen. Diese Afrika-Strategie scheint mir geeignet zu sein, eher die Armen abzuschaffen, und nicht die Armut. Die gegenwärtige Desintegration afrikanischer Regionen in den Weltmarkt macht hingegen in den Vorstellungen der EU-Strategen dieselben erst zu sicherheitsrelevanten Zonen (siehe oben Pkt. 1), in welche notfalls gemäß der Europäischen Sicherheitsdoktrin militärisch, vor allem aber im Kapitalinteresse deregulierend interveniert werden muss.

So weit eine grobe Skizze der sich abzeichnenden zukünftigen Konflikte, die mit Migration im afrikanischen "Laboratorium" zusammenhängen, in dem Lager errichtet werden und in dem sich das militär-polizeiliche Kontroll- und Grenzregime weiter voranschiebt. Der Schweizer Soziologe und Sonderberichterstatter der UNO-Menschenrechtskommission für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, antwortete im "Neuen Deutschland" vom 15. Oktober 2005 auf die Frage, was die EU zur Lösung der Flüchtlingskrise tun solle, immerhin:
"2004 haben die Industriestaaten ihren Bauern 349 Milliarden Dollar Produktions- und Exportsubventionen bezahlt ... fast eine Milliarde Dollar pro Tag! Auf dem Markt in der senegalesischen Hauptstadt Dakar kann man europäisches Obst und Gemüse zu einem Drittel des Preises der einheimischen Früchte und des Gemüses kaufen. Die europäische Dumpingpolitik verwüstet die afrikanischen Agrarwirtschaften. Die EU sollte ihre riesigen Agrarsubventionen abschaffen, die Importschranken für Waren und Güter aus afrikanischen Ländern senken und die Schulden der Entwicklungsländer streichen. Die Menschen müssen in ihren Ländern ein Auskommen in Würde finden - aber nicht durch Almosen. Während die Industrieländer 2003 der Dritten Welt staatliche Entwicklungshilfe im Umfang von 54 Milliarden Dollar gewährten, mussten die gleichen Länder 436 Milliarden Dollar als Schuldendienst überweisen. Es kommt also nicht so sehr darauf an, den Menschen der Dritten Welt mehr zu geben, sondern ihnen weniger zu stehlen."

3. Der Krieg gegen die trikontinentale Massenarmut

Wir können den Kampf gegen die undokumentierte Migration als Krieg gegen die Massenarmut aus den drei Kontinenten entschlüsseln. Die entwurzelten Menschen suchen in der transnationalen Migration ihrem Elend und Sterben zu entrinnen. Ich glaube, wir müssen begreifen, dass in den weltweiten Migrationsbewegungen heute auch die uneingelösten bürgerlichen Menschenrechtsversprechen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit transportiert werden. Sie sind untergründig präsent in der Suche der Menschen nach menschengerechten Lebensbedingungen und Lebensperspektiven für sich und ihre Familien. Dass sie sich das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit und Leben nicht streitig machen lassen, macht sie in den Augen der europäischen Demokratien zu gefährlichen Massen und extremistischen Klassen, die die globale, gewaltsam aufrechterhaltene Ungleichheitsordnung zu unterwandern drohen.

Meine These lautet: Der aktuell massierte militär-polizeiliche Aufmarsch der EU an den Mittelmeergrenzen und im Atlantik richtet sich perspektivisch gegen die Aspirationen der entwurzelten Weltarmen, denn nur sie sind gezwungen die todbringenden Seerouten einzuschlagen, an dem sich die Zonen des Todes und des Wohlstands urlaubsparadiesisch und flüchtlingselendig überlappen. Er richtet sich gegen das Eindringen der Peripherie in die Zentren des bürgerlichen Wohlstands und kapitalistischer Macht. So sehr die europäischen Zentren auch mit einem bestimmten Niveau an undokumentierter Immigration im Ausbeutungsinteresse der Agrar-, Bau- und Dienstleistungsindustrie zu koexistieren bereit sind, die sans papiers bleiben "die Weltüberflüssigen", die jeder Zeit konjunkturell opportun wieder deportiert werden können.

Die Existenz von Lagern für Flüchtlinge rund um den Globus und die immer neuen Planungen für Sonderzonen, Internierungszentren und Lager sind nur ein Symptom für die ungeheuere Schärfe des Konflikts zwischen den migrierenden Weltarmen, aber auch den zahlosen Kriegsflüchtlingen, die zwischen den Fronten kriegerischer Konflikte unterschiedlichster Gewaltunternehmer zerrieben zu werden drohen, und dem expansiv wohlstandsverteidigenden Europa. Die "Rückkehr der Lager" signalisiert jedenfalls die Bereitschaft der europäischen Demokratien, die "Weltüberflüssigen" auszusondern. Lager sind immer jenseits der Menschenrechte angesiedelt. Sie sind Instrumente der Menschenverwaltung und Menschenunterwerfung.

4. Und die Menschenrechte? Weggehen und ankommen können!

Der UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres stellte bei der Vorstellung des Berichts zur Lage der Flüchtlinge 2006 klar: Der "UNHCR will nicht für Migration zuständig sein. Trotzdem müssen wir uns mit Migration beschäftigen, um ihre Auswirkungen auf das Asylrecht im Blick zu haben. (Der) UNHCR erkennt das Recht der Staaten an, ihre Grenzen zu kontrollieren und Migration zu regeln." ( www.unhcr.de externer Link; Bericht zu Lage der Flüchtlinge in der Welt, 19. April 2006)

Insofern scheint es menschenrechtlich keine Einsprüche zu geben, so lange Asylsuchende Zugang zu einem Verfahren im Einklang mit dem internationalen Recht erhalten. Während sich also die politischen Flüchtlinge unter dem Schutz der Genfer Konvention befinden, deren Einhaltung der UNHCR lediglich mahnend einklagen kann, sind die Migranten ein "völkerrechtliches Nichts", das interniert und in die Elendszonen zurückgeschoben werden darf.

Kofi Annan beklagt die menschlichen Opfer an den europäischen Seegrenzen: "Diese stille Krise der Menschenrechte beschämt unsere Welt." (zit.n.: Klaus Brinkbäumer, Der Traum vom Leben, Frankfurt/M. 2006, S. 256) Die Opfer aber markieren die Krise der Menschenrechte (wie auch Annan weiß), weil es offensichtlich für einige Menschen, wir können sie die "Weltüberflüssigen" nennen, keinen Standort in der Welt gibt (Hannah Arendt). Damit werden sie der Lager und der Gewalt ausgeliefert. Die papierlosen Migranten, die modernen selbstbestimmten Staatenlosen, die sich weder auf die Genfer Flüchtlingskonvention noch andere internationale Rechte berufen können, leben in den Gewaltzonen des europäischen Grenzregimes im Ausnahmezustand, in denen Recht und Gewalt unterschiedslos werden.

Angesichts des europäisch verursachten Ertrinkens vieler Flüchtlinge schreibt die "Neue Zürcher Zeitung" vom 16. September 2006 verstockt - und man könnte die vorgebrachten Argumente als die "herrschende bürgerliche Meinung" betrachten:
"Die politische Welt ist trotz UNO und Staatenvereinigungen weiterhin einzelstaatlich verfasst. Staaten haben Grenzen, die zu respektieren sie von Bürgern anderer Länder einfordern können. Es gibt kein weltweit geltendes Recht auf Migration, keine allgemeine Niederlassungsfreiheit, die über das in völkerrechtlichen Instrumenten verbürgte Recht von politisch, religiös und rassisch Verfolgten auf Aufnahme hinausgehen würde. Migranten sind keine von Konventionen geschützten Flüchtlinge. Der Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) spricht zwar vom Recht, jedes Land einschließlich des eigenen zu verlassen; ein Recht aber, sich im Land der Wahl niederzulassen, kennt er nicht."

Damit berührt die grenzüberschreitende undokumentierte Migration den Kern nationalstaatlicher und europäischer Souveränität, über die Menschen, die in ihrem Territorium leben, und über die Aufnahme der Weltarmen, die ihr Territorium erreichen, zu bestimmen. In der aus- und abgrenzenden Gewalt gegen Flüchtlinge und Migranten konstituieren sich die Nationalstaaten und die Europäische Union immer wieder aufs Neue und legitimieren damit gegenüber ihren herrschaftsunterworfenen Staatsbürgerinnen und -bürgern ihren vermeintlich Sicherheit gewährenden Gewaltapparat. Die sans papiers, die "neuen Staatenlosen" fallen heraus aus allem Staatsbürgerrecht. Sie fallen selbst heraus aus den Menschenrechten, die ihnen nur die europäischen Nationalstaaten sichern könnten.

Demgegenüber vertreten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der euro-afrikanischen NGO-Konferenz vom 30. Juni bis zum 1. Juli 2006 in Rabat, die sich mit der Situation der Migration nach Europa beschäftigten: "Wir ... lehnen die Aufteilung der Menschheit in diejenigen, die sich frei auf dem Planeten bewegen können, und denjenigen, denen das verboten ist, ab. Wir lehnen ebenso ab, in einer Welt zu leben mit mehr und mehr militarisierten Grenzen, die unsere Kontinente teilen und jede Gruppe von Ländern in eine Festung verwandeln wollen". Sie berufen sich dabei auf Artikel 13 der AEMR und stellen fest, dass die "Bewegungsfreiheit" die Voraussetzung für die Wahrnehmung anderer Grundrechte ist. Sie interpretieren Artikel 13 der AEMR dahingehend, dass "sein Land verlassen zu können, notwendigerweise bedeutet, sich in einem anderen Land niederlassen zu können". Weiter heißt es, dass die Einschränkung der Bewegungsfreiheit nur über die Ärmsten verfügt werde und sich darin die Angst der Eliten vor den benachteiligten Bevölkerungsgruppen widerspiegele. (vgl. Euro-afrikanisches Nicht-Regierungsmanifest zu Migration, Grundrechten und Bewegungsfreiheit, unter: www.fluechtlingsrat-hamburg.de externer Link)

Dieser Konflikt bleibt bestehen und er wird an vielen gegenwärtigen Kämpfen gegen die Verlagerung von Menschen sichtbar. Er bleibt aber auch bestehen, solange Menschenrechte in den nationalen Staatsbürgerrechten eingekapselt bleiben, wo sie verdorren und die Globalisierungsgewalt legitimieren. Ob von der Universalität der Menschenrechte, und damit ihrer Unteilbarkeit, insbesondere des Rechts auf Bewegungsfreiheit, gesprochen werden kann, wird sich an unserem Umgang mit der undokumentierten Migration, der Avantgarde der tatsächlich ungeteilten Menschenrechte, erweisen müssen. Sie ist wie in der Zwischenkriegszeit der 1920er Jahre unsere Herausforderung. Bestehen wir sie nicht, folgt die Barbarei. Solange aber die Menschenrechte umkämpft sind, bleibt schwache Hoffnung.

Dirk Vogelskamp arbeitet im Sekretariat des Komitees für Grundrechte und Demokratie, Jahrbuch 2007 - Menschenrechte und Völkerrechtder Artikel erschien zuerst in: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.), Jahrbuch 2007 - Menschenrechte und Völkerrecht, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2007, S. 107 - 130. Zum Buch: 256 S. - € 19,90 - SFR 34,90; ISBN: 978-3-89691-654-9 - siehe weitere Informationen beim Verlag externer Link

Anmerkung:

1) Ich verwende den Begriff "undokumentierte Migration" im Gegensatz zum Begriff "illegale Migration", der stigmatisierend und kriminalisierend besetzt ist und heute dazu dient, Menschen als Feinde zu betrachten. Da, wo ich aus inhaltlichen Gründen den Begriff dennoch benutzen will oder ihn aus Dokumenten zitiere, setze ich ihn in Anführungszeichen. Zudem verwende ich um der Leserlichkeit willen ausschließlich die männliche Form von Migrant. Auch wenn die Mehrzahl der Menschen, die über den Atlantik oder das Mittelmeer nach Europa zu gelangen versuchen, junge Männer sind, so sind doch auch zahlreiche Frauen und Kinder europawärts unterwegs. Sie alle sind gemeint, wenn hier in dem Text von Migranten die Rede ist.


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