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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Hanne Schweitzer 18. November 05, 11.30 Uhr 11. Kongress Armut und Gesundheit, Rathaus Schöneberg Gleichbehandlungsgrundsatz kontra Altersdiskriminierung Würde am Ende des Arbeitslebens Aus einer aktuellen Untersuchung der Universität Wuppertal wissen wir, welche Sorgen und Ängste die Menschen aller Altersgruppen zum Thema Alter umtreibt. Das sind: die
Politische Entscheidungen sind die Ursache z.B. für die Sorge vor Altersarmut. Deshalb lohnt es, eine solche Entscheidung einmal genauer anzusehen. Getroffen wurde sie im Dezember 2002: Mit Stimmenmehrheit von Rot/Grün wurde im Bundestag das Teilzeitbefristungsgesetz verabschiedet. Als Ziel des Gesetzes ist schriftlich formuliert: "Förderung der Teilzeitarbeit ... ." Zweitens: Der Kündigungsschutz wird aufgehoben für alle, die älter als 52 sind, aber nur bis zum November 2006. Auch das ist Altersdiskriminierung. Wie Sie wissen, bricht europäisches Recht inzwischen Landesrecht. Folglich erging es im Sommer 2005 dem bundesdeutschen Teilzeitbefristungsgesetz zur Förderung der Teilzeitarbeit durch Aufhebung des Kündigungsschutzes so, wie man es hätte voraussehen können. Der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof, ein Italiener übrigens, lehnte das Gesetz ab. Er verwarf es, weil das bundesdeutsche Teilzeitbefristungsgesetz gegen den europäischen Gleichheitsgrundsatz verstößt. Außerdem verletzt es den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, UND es verstößt gegen die EU-Richtlinie Nummer 78. Auf Basis dieser Richtlinie muss die Bundesrepublik ein Gesetz gegen (Alters-)Diskriminierung im Bereich von Beruf und Beschäftigung verabschieden. Allerspätestens bis Dezember 2006 muss das erledigt sein. Diese Frist gilt in allen Mitgliedstaaten. Aber von keinem Mitgliedstaat ist mir bekannt, dass eine Regierung hingegangen wäre und noch schnell ein Gesetz gemacht hätte, das über 52 jährige Arbeitsuchende wider besseres Wissen derart diskriminiert. Wer heute um die 60 ist, hat als Kind noch in den Trümmern gespielt. Wer heute um die 60 ist, hat das Schreiben noch mit Griffeln auf einer Schiefertafel gelernt, an der an einer Kordel ein kleines rotes Schwämmchen oder ein Läppchen festgebunden war. Eine Kugel Eis kostete fü nf Pfennige, genauso viel wie die Straßenbahn. Auf den Bahnhöfen saßen die Kriegsversehrten in kleinen Kabüffchen an einer Sperre, kontrollierten die Fahrkarten und die Bahnsteigkarten und knipsten in die kleinen Pappkärtchen mit einer beeindruckenden Zange kleine Löcher. Für Großväter, die damals in Rente gingen, gab`s im Betrieb eine Feier und manchmal sogar vom Chef eine goldene Uhr. Das ist lange her. Inzwischen gehören wir selbst zu den Alten. Das bislang gültige Modell eines Lebenslaufs, die Abfolge von Ausbildung, Berufsleben und Pensionierung, gilt nicht mehr. "Ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklungen haben in den letzten 25 Jahren zu einem Aufbrechen dieses Drei-Phasen-Modells des Lebenslaufs geführt. Seit Einführung der Vorruhestandsregelungen in den 80er Jahren wurden allein in den Neuen Bundesländern bis 1992 mehr als 800.000 Arbeitnehmer im Alter von 55-59 Jahren freigesetzt." Heute, dreizehn Jahre später beschäftigen mehr als 60 Prozent aller bundesdeutschen Betriebe keine über 50Jährigen mehr. Nur noch 42 Prozent der 55 bis 64Jährigen hat Arbeit. Die anderen, 58 Prozent dieser Altersgruppe, sind in die Arbeitslosigkeit oder in die Frührente abgeschoben worden. Die Einen mit dem so genannten ´goldenem Handschlag`, das sind Abfindungen zwischen 20.000 und Hunderttausenden von Euro pro Person, die Anderen, und das sind die meisten, stattdessen mit einem Achselzucken. Zu alt. Zu alt. Zu alt. Zu alt. Von 1o1 Stellenangeboten im Anzeigenteil einer Wochenendausgabe der FAZ war nicht eins für über 50Jährige ausgeschrieben. Ungleichbehandlungen wegen des Lebensalters sind ein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot im Grundgesetz. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist die Grundlage jeden Rechtsstaats. Diskriminierungen wegen des Alters sind verboten, heißt es in Artikel 21 der Charta der europäischen Grundrechte. In Australien und England, Irland, die USA und Kanada, Neuseeland und Frankreich gibt es bereits seit Jahren Gesetze gegen Altersdiskriminierung. Bei uns wurde das Antidiskriminierungsgesetz kurz vor den Neuwahlen noch von der CDU/FDP-Mehrheit im Bundesrat gekippt. Die Politiker und ihre willfährigen Trompeter in den Medien plagen uns seit Jahren mit den Horrorszenarien einer "Vergreisung" der Gesellschaft. Auch das ist Altersdiskriminierung, eine von der Art, die schleichend daherkommt. Langsam, Molekül für Molekül untergräbt sie das Selbstwertgefühl, und schon den Jungen wird tagtäglich die Angst vor dem Alter ins Bewusstsein gedrückt. Alter und Alte werden stigmatisiert, w ä hrend gleichzeitig von ihnen ewige Fittness, und noch sehr viel mehr ehrenamtliche Arbeit eingefordert werden, als die immerhin 3,5 Milliarden Stunden pro Jahr (!), mit denen die Rentnerinnen und Rentner bereits jedes Jahr zum Bruttosozialprodukt beitragen. Wer sich weigert, an die Kampagne von der demografischen Katastrophe zu glauben, dem wird mit der Keule des Generationenkonflikts gedroht. Die produktiven und fitten Jungen, so lautet die unterschwellige, bedrohliche Botschaft, die produktiven und fitten Jungen könnten sich eines Tages gegen die Alten stellen. Schließlich leisten die Nichts, kosten aber um so mehr. Kosten. Alle Kürzungen bei Rente und Gesundheitsversorgung werden in den letzten Jahren mit der "Über"alterung der Gesellschaft begründet. ÜBERalterung: Die Liste ist lang. "Nullrunden, Eigenbeteiligung an der Krankenversicherung, Eigenbeteiligung an der Pflegeversicherung, Abgaben auf Betriebsrenten, Verminderung der Anrechnung der Ausbildungsjahre, Praxisgebühren und Zuzahlungen bei Medikamenten, Leistungskürzungen bei der Gesundheitsversorgung, Streichung des Sterbegelds. Jede Kürzung für ältere Menschen wird mit dem Strickmuster ÜBERalterung begründet. "Was ÜBER ist, dass kann man liegen lassen oder entsorgen. Wer alt ist, ist deshalb aber noch lange nicht dumm. Die statistische Chance alt zu werden, ist bekanntlich gewachsen. Das ändert aber nichts daran, dass diese Chance ungleich verteilt ist. "Immer mehr Angebote der Gesundheitsversorgung sind zu Konsumartikeln geworden, die sich längst nicht mehr jeder leisten kann." Und so kommt es, dass "Menschen aus dem unteren Viertel der Einkommensverteilung hierzulande vier bis sechs Jahre kürzer leben, als die aus dem oberen Viertel". Ein Grundrecht der EU lautet: "Die Europäische Union anerkennt und achtet das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben." Das hört sich gut an und ist auch sicher gut gemeint. Was aber, wenn den älteren Menschen dass Geld fehlt, um ein würdiges und unabhängiges Leben zu führen, und am sozialen und kulturellen Leben teilzuhaben? Die finanzielle Basis der Durchschnittsrentner schrumpft. Von 73Prozent des Bruttoeinkommens im Jahr 1973 soll das Rentenniveau in den nächsten Jahren auf 52 Prozent abgesenkt werden. Das ist knapp über dem Sozialhilfeniveau. Allerdings kann sich die vielgepriesene und heftig beworbene Privatvorsorge schon heute ein Viertel der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter nicht leisten. Ein sorgenfreies Leben ist für die heutigen, vor allem aber für die zukünftigen Rentner in weite Ferne gerückt. Frauen trifft es besonders hart. Frauen arbeiten häufig umsonst, in schlechter bezahlten Stellen oder in Teilzeit. Oft unterbrechen sie diese Arbeit, um Kinder zu erziehen, um die Eltern, die Schwiegermutter, die Freundin oder den Ehemann zu pflegen. Das beeinflusst die Einzahlungen in die Rentenkasse und damit die Höhe ihrer Rente. Es beeinflusst auch die Möglichkeit, Geld auf die Hohe Kante legen zu können. Wer wenig verdient, kann nicht sparen. Das Rentensystem basiert aber auf dem Prinzip des ununterbrochenen Arbeitslebens. Die meisten Frauen haben aber keine durchgängige Erwerbsbiografie. Dass rächt sich im Alter bitter. Für die meisten Frauen geht dass Alter einher mit mangelnder Gesundheitsversorgung und fehlenden finanziellen Ressourcen. Die meisten Frauen sind schlecht oder gar nicht organisiert. Ihr Status ist katastrophal. Sie haben keine Lobby und sie nehmen nicht gleichberechtigt an öffentlichen Debatten teil. Kein Protest war z.B. zu hören, als die Witwenrenten im Zuge der Riesterreform für alle nach 1960 geborenen Frauen von 60 auf 55 Prozent gekürzt wurden. Kein Protest war zu hören, als die Alterspanne für Frauen festgelegt wurde, die einen gesetzlichen Anspruch auf ein Mammographie-Screening zur Früherkennung von Brustkrebs haben. Diese Altersspanne liegt zwischen dem 50. und 69. Lebensjahr. Erkrankungen an Brustkrebs nehmen aber im Verlauf des Lebens zu. Im Alter von 30 Jahren entwickelt EINE von 2.500 Frauen Brustkrebs, bei den Achtzigjährigen ist es jede Zehnte. Frauen sind die häufigsten Opfer von Altersdiskriminierung. Vor allem in der letzten Lebensphase, wenn sie sich mangels familiärer Unterstützung in die Obhut der profitorientierten Versorgungsindustrie begeben müssen. "Notrufzentralen dokumentieren schier endlose Wiederholungen von Verlassenheit und erlittener Gewalt." Wir brauchen dringend ein Antidiskriminierungsgesetz, das mehr enthält als den Schutz vor Altersdiskriminierung im Bereich von Beruf und Beschäftigung. Für die Zukunft der jetzigen und künftigen Alten ist es überlebenswichtig, dass ein solches Gesetz auch den Schutz vor Altersdiskriminierung beim Sozialschutz enthält; ebenso wie den Schutz vor Altersdiskriminierung bei der Gesundheitsversorgung, beim Zugang zu Waren und Dienstleistungen, und auch bei der Weiterbildung. Es geht nicht an, dass von den ü ber 50J ä hrigen Arbeitsplatzbesitzern nur drei Prozent an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen. Und es geht auch nicht an, wenn eine Frau, die z.B. mit 65 Jahren ihr Erststudium beginnen möchte, dafür 650 Euro pro Semester zahlen soll. Astrid Lindgreen, die Autorin von Pippi Langstrumpf, hat mal gesagt: Es gibt kein Gesetz, das alten Frauen verbietet, auf Bäume zu klettern. Dem ist hinzuzufügen: Es gibt AUCH kein Gesetz, das alten Menschen verbietet, sich gegen politische Entscheidungen der Politik zu wehren. Es ist Zeit, dem Rollenbild der geduldigen, gefügigen, deutschen Alten ein anderes entgegenzusetzen. Wir sind viele. Wir sind ein "Wirtschaftsfaktor". Das potenzsteigernde Mittel "Viagra" war nur der Auftakt für die chemische Industrie. Auch der Pflegemarkt bietet nach Ansicht der Deutschen Bank attraktive Verdienstmöglichkeiten. In diesem Jahr hat das Real Estate Management der Deutschen Bank den ersten offenen Immobilienfonds für Pflegeheime aufgelegt. Investitionsvolumen: 300 Mio. Euro. Auch der Krankenhausmarkt ist für Investoren attraktiv. Der Chef der Rhön-Kliniken AG beschreibt das so: "Die Menschen werden mit zunehmendem Alter häufiger krank, und die Krankheiten werden schwerer. Es geht also um einen Wachstumsmarkt." Kommunen müssen aus Geldmangel ihre Krankenhäuser verkaufen, der Konzerngewinn der Rhönkliniken lag im vergangenen Jahr dagegen bei 67,1 Millionen Euro. Beunruhigende Entwicklungen. Denkt man sie konsequent zu Ende, können sich demnächst nur noch zahlungskräftige Alte einen Aufenthalt im Pflegesanatorium der Deutschen Bank leisten. Und die anderen? Was wird mit denen? Erinnern Sie sich noch an die Bemerkung vom "sozialverträglichen Frühableben?" Wir brauchen Löhne und Renten, von denen man leben kann. Wir brauchen eine gute Gesundheitsversorgung für alle. Wir brauchen ein bürgerfreundliches Antidiskriminierungsgesetz. cc. Hanne Schweitzer |