Home > Diskussion > Gewerkschaftsstrategien > Debatte > Zukunft > adsauer
Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Abstrakter oder ›Praktischer Sozialismus‹?

Neuer Debattenbeitrag nicht nur zur Organisationsfrage

Im express 12/2007 hatten wir unter dem Titel »Vollendeter Ohnismus« sowohl Auszüge aus der Broschüre des Hans-Jürgen-Krahl-Instituts »Für einen praktischen Sozialismus – Antwort auf die Krise der Gewerkschaften« [1] dokumentiert, als auch einen kritischen Einwand von Werner Sauerborn unter dem Titel »Absolut am Ende?« publiziert.

Der Einladung zur weiteren Diskussion folgt nun eine Replik des Hans-Jürgen-Krahl-Instituts zu diesem Beitrag.

Gerade vor dem Hintergrund der ausufernden Feierlichkeiten um die 40 Jahre und weniger zurückliegenden »spätkapitalistischen« Verhältnisse gilt es unseres Erachtens, sich die damaligen Erfahrungen einer sich undogmatisch verstehenden Arbeiterbewegung zu vergegenwärtigen. Das heißt aber auch: die damit verbundenen Horizonterweiterungen nicht vorschnell mit »der Organisationsfrage« wieder zu revidieren.

Der Aufruf zur Teilhabe an dieser Debatte sei hiermit wiederholt.

»Die Frage des Sozialismus müssen wir uns warm halten, und wenn es so weit ist, auf sie zurückkommen. Unmittelbar stellt sie sich auf vermutlich einige Zeit hin nicht.« (Werner Sauerborn)

»Wir wissen sehr genau, dass es viele Genossinnen und Genossen gibt, die nicht mehr bereit sind, abstrakten Sozialismus, der nichts mit der eigenen Lebenstätigkeit zu tun hat, als politische Haltung zu akzeptieren.« (Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl im ›Organisationsreferat‹)

Die Rosa-Luxemburg-Konferenz dieses Jahres stellte sich die Frage nach der »Klasse für sich«: »Wenn die Linke etwas erreichen will, braucht sie ihre eigene Politik, ihre eigene Kultur und ihre Medien« (Junge Welt, 14. Januar 2008, S.3) Aber wie steht es mit der politischen Kultur innerhalb der Linken? Sind ihre Medien die Plattformen fraktionsübergreifender Diskussionen, die sie sein sollten? Unsere Erfahrung dagegen ist die Normalität falscher Alternativen: Bei wesentlichen Differenzen geht man sich entweder höflich aus dem Weg, oder man polemisiert gegeneinander. Umso aufrichtiger unser Dank an Werner Sauerborn für seine solidarische Kritik und an die GenossInnen vom express, die uns die Gelegenheit geben, darauf zu antworten. Wir glauben, dass nur aus der Diskussion auch wesentlicher Unterschiede wirkliche innovative Neuerungen kommen können, die für einen Ausweg aus der historischen Defensive, in der sich die Linke und die Arbeiterbewegung insgesamt befinden, unumgänglich sind.

Wir machen Werner Sauerborn keinen Vorwurf aus seiner politischen Haltung des ›abstrakten Sozialismus‹, die er von seiner eigenen Tätigkeit als Gewerkschafter trennen muss, solange es keine Möglichkeit gibt, sich als Sozialist praktisch zu betätigen, namentlich am Aufbau des Sozialismus. Dieser reale Bruch spiegelt sich wider in der Zustimmung des Sozialisten Sauerborn zu den abstrakten »theoretischen Prämissen« [2] »aus dem Marxschen Werkzeugkasten« und der Ablehnung der praktischen »Konklusio« durch den Gewerkschafter Sauerborn.

Ist unsere Schlussfolgerung wirklich so irritierend und unvermittelt, wie Kollege Sauerborn sie empfindet? »Aus der Analyse der Gründe der Gewerkschaftskrise«, der Spaltung der ›Klasse an sich‹ in industrielle Reservearmee und Lohnarbeiterheer versuchten wir, »die theoretische Grundlegung« für die »Auswegstrategie«, nämlich eine einheitliche Organisation von gemeinwirtschaftlich produzierenden Lohnarbeitslosen und arbeitskämpfenden Lohnabhängigen, den bewussten Aufbau eines selbstorganisierten Sozialismus der ›Klasse für sich‹ zu entwickeln. Insofern ist für uns nicht die »Konklusio«, sondern deren Ablehnung »unvermittelt«.

Aber wie zeigt sich dieser ›Bruch im Verständnis‹ in den Äußerungen Sauerborns zu unserer Analyse, in der »theoretische Prämissen« und praktische »Konklusio« vermittelt werden sollten?

Zum einen gibt es hier einen offenen Widerspruch in Bezug auf unsere Feststellung, dass Gewerkschaften strukturell keine revolutionären Organisationen des Proletariats sein können: »Richtig, Gewerkschaften sind keine revolutionären Organisationen. Sie sind es aber auch nicht zwangsläufig nicht.« Dem Gewerkschafter Sauerborn geht es, wie er selbst sagt, »unmittelbar« um die »originäre Sache der Gewerkschaften«, d.h. um die »Verteilungskämpfe innerhalb des Kapitalismus«. Die obige Zwangsläufigkeit muss von Sauerborn aufgeweicht werden, weil die Einsicht in den aus ihrem Wesen abgeleiteten antirevolutionären Charakter der Gewerkschaften andernfalls die harte Tatsache offenbaren würde, dass von der »originären Sache« der Gewerkschaften kein Weg zum Sozialismus führt.

Nur wenige Absätze später schreibt Sauerborn zu den Gewerkschaften: »›revolutionäre Organisationen des Proletariats‹ – können und sollen sie auch gar nicht sein.« (Hervorhebung HJK-Institut) Aus dem ausweichenden »muss aber nicht« ist nach dem Zugeständnis der zuvor bestrittenen Unmöglichkeit ein »soll auch gar nicht« geworden.

»Zwar ist der Kapitalismus Geschäftsgrundlage ihres [gemeint: die Gewerkschaften] pragmatischen Drangs nach dem Klassenkompromiss, und richtig ist auch, dass dies einen affirmativen Effekt auf diese Geschäftsgrundlage hat. Das erlaubt aber nicht die Schlussfolgerung, dass Gewerkschaften zwangsläufig eine ›revolutionäre Umwälzung der Produktionsverhältnisse als organisationsfeindlich, den Bestand der Organisation gefährdend, ablehnen und bekämpfen‹ müssten.« Kollege Sauerborn vergisst hier offensichtlich das gewerkschaftliche Pendant zum Radikalenerlass, die so genannten »Unvereinbarkeitsbeschlüsse« von 1973, in denen Vereinigungen mit revolutionärer Zielsetzung als »gegnerische Organisationen« bezeichnet werden, und die immer noch in Kraft sind.

Häufiger zeigt sich jedoch der Bruch zwischen abstrakt sozialistischem und praktisch gewerkschaftlichem Verständnis nicht im offenen Widerspruch, sondern anders.

Zunächst werden empirische Tatsachen konzediert, die als Bestätigung unserer Herleitungen gelten könnten, daraufhin unsere Erklärung eben jener Tatsachen mit Bestimmtheit bestritten, dies alles allerdings ohne Begründung und ohne weiter auf unsere Argumentation einzugehen, um dann schließlich den zugestandenen Tatsachen ein »eigentlich« entgegenzustellen, also das, was sie besser sein sollten, aber eben nicht sind, in der Art von Hegels »um so schlimmer für die Tatsachen«, der bekanntlich auch Unversöhnliches vermitteln wollte. »Unbestreitbar gelingt es den Gewerkschaften weniger denn je, Lohnerwerbslose zu gewinnen – dies aber nicht, weil sie eigentlich nicht unser Subjekt sind, sondern obwohl sie es sind.« ›Unbestreitbar, aber nicht eigentlich‹, das ist die Formel, in der sich das Verständnis des Sozialisten mit dem des Gewerkschafters vermittelt.

Wir sagen nicht, dass Gewerkschaften nicht auch jene Arbeitskräfteverkäufer organisieren könnten, denen der Verkauf ihrer Ware »vorübergehend oder langfristig nicht gelingt«. Es macht aber einen Unterschied, dazu festzustellen, dass die Organisationsform des Arbeitskräfteverkäuferkartells es nicht ermöglicht, Lohnarbeitslose als Lohnarbeitslose zu organisieren, gemeinsam mit den Lohnabhängigen. Letzteres wäre aber prinzipiell die Aufhebung der Konkurrenz unter den Arbeitern, auf der nach Marx »ausschließlich« »die Lohnarbeit« und damit auch das Kapital »beruhen«. Insofern halten wir auch tatsächlich »Lohnarbeitslosigkeit« für den »wesentlicher Grund der Krise und Schwäche der Gewerkschaften«, sie zählt wohl aber nicht unmittelbar zu den »eigentlichen Gründen« für den Niedergang des fordistischen Klassenkompromisses und dessen Folgen für die Gewerkschaften. Die Gegenüberstellung von wesentlicher Schranke gewerkschaftlicher Organisierbarkeit und deren akuter Äußerung unter postfordistischen Bedingungen funktioniert natürlich nur, wenn die »Frage des Sozialismus«, die Aufhebung der Spaltung der Klasse, eben apriori nicht zur Debatte steht.

»Für die Skepsis der AutorInnen, was die Fähigkeit der Gewerkschaften anlangt, sich zu transnationalen Branchengewerkschaften weiterzuentwickeln, gibt es viele Gründe, jedoch nicht den von ihnen angeführten, nämlich das Fehlen ›dieser Notwendigkeit entsprechender‹ Institutionen auf transnationaler Ebene [...] Dies ist zwar empirisch derzeit weitgehend zutreffend, [...] aber Arbeitgeber schließen sich nur und dann zu Arbeitgeberverbänden zusammen, wenn die VerkäuferInnen von Arbeitskraft handlungsfähige Koalitionen bilden.«

Dass es diese »handlungsfähigen Koalitionen« auf transnationaler Ebene »derzeit« aber ebenso wenig gibt wie die ansprechbaren »organisierten Arbeitgeberstrukturen«, die sich in Reaktion auf dieselben Arbeiterkoalitionen erst bilden sollen, wäre Kollege Sauerborn sicher der Letzte zu bestreiten, geht es ihm doch gerade um den Aufbau »transnationaler Branchengewerkschaften« – wenn es sie schon gäbe, müsste man sie nicht erst aufbauen. Das Beispiel der ITF, das Hoffnung auf diese »schöne Utopie« machen soll, erweist sich aber nach kurzer Überlegung eher als eine die Regel bestätigende Ausnahme. Denn hier haben wir die Besonderheit vor uns, dass die Branche der Transportarbeiter gerade die Struktur der Transnationalität zum Inhalt hat, welche die national ausgerichtete gewerkschaftliche Organisierung der anderen Branchen in eine tiefe Krise stürzt.

In welcher Perspektive erscheint unser Vorschlag einer historischen Verlaufsform für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel als »Abwegigkeit«? Sicher in einer Perspektive, in der die Vergesellschaftung der Pro-duktionsmittel, ihre Aneignung durch die unmittelbaren Produzenten »derzeit« kein Thema ist. Aber ist unser Vorschlag wirklich eine »Revitalisierung der gewerkschaftlichen Gemeinwirtschaft«, vor der Kollege Sauerborn so eindringlich warnt?

Wir hatten geschrieben: »Der Ausweitung der gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen auch auf Produktionsgenossenschaften und Banken steht und stand prinzipiell nichts entgegen. Die in dieser Dynamik liegende Möglichkeit, die Lohnarbeitslosen in der gewerkschaftlichen Gemeinwirtschaft zu organisieren und so die Aufhebung der Konkurrenz unter den Proletarisierten zu vollenden, hätte allerdings, wie schon festgestellt wurde, eine neue organisatorische Grundlegung der Gewerkschaften zur Voraussetzung.« (Praktischer Sozialismus, S. 29)

Nach dieser ›neuen organisatorischen Grundlegung‹, konkret der von uns vorgeschlagenen einheitlichen Organisation von gemeinwirtschaftlich produzierenden Lohnarbeitslosen und arbeitskämpfenden Lohnabhängigen, sind Gewerkschaft und gewerkschaftliche Gemeinwirtschaft nicht mehr, was sie waren, nur mehr Funktionen innerhalb einer neuen Prozessgestalt, die den Sozialismus im Kapitalismus aufbaut. Den möglichen Vorwurf des Voluntarismus lassen wir uns dabei, wie übrigens auch Dutschke seinerzeit, gerne gefallen. Denn wir glauben so wie er nicht an die ›reife Zeit‹, die alle Wunden heilt. Welcher Weg könnte von einer Praxis, die den Kapitalismus zur Grundlage hat, über den Kapitalismus hinausführen? Zu dem Weg einer reformistischen Illusion suchen wir in der Tat die »Abwegigkeit« und eine Praxis auf ›neuer Grundlegung‹.

Wir sind von der Ehrlichkeit des Genossen Sauerborn überzeugt und wissen, dass es Kollegen wie er sind, die der Offensive des Kapitals überhaupt etwas entgegensetzen und sie in ihrem Vormarsch bremsen. Und da unser Sozialismus nicht abstrakt ist, sind uns diese Linderungen und Zügelungen auch nicht egal, insofern sie eine reale Verbesserung der Lebenssituation der Proletarisierten bedeuten. Umso schmerzlicher trifft uns, dass unsere Position wie beiläufig in die Nähe einer zynischen »wissenschaftlichen Warte« gerückt wird, von der aus die »Realität als brutaler, für viele existenzgefährdender Prozess« nichts als »ein interessantes Schauspiel« ist. Auch erwähnen wir die »absolute Grenze des Kapitalverhältnisses« nicht, um mit ihr eine Zusammenbruchstheorie zu begründen, wie das zumindest suggeriert wird. Diese Grenze hat eine andere Bedeutung innerhalb unserer Theorie. Sie bringt zum Ausdruck, dass es keine Hermetik des Kapitalverhältnisses geben kann. Das Kapital ist die reale und »verselbständigte Abstraktion« (Marx) von sozialen Verhältnissen, die ihm nach deren Forminhalt grundsätzlich widersprechen. Das Kapital ist von diesen Verhältnissen abhängig. Sie sind der Grund, von dem abstrahiert wird und bleiben es auch für die eben nur scheinbar verselbständigten Abstraktionen. Diese sozialen Verhältnisse sind die Quellen des gesellschaftlichen Lebens, aber sie regieren es noch nicht. Ihr Forminhalt ist noch nicht ungebrochen der des gesellschaftlich Allgemeinen. Diese Einsicht ist wichtig, um den Realismus eines Vorschlags wie den unseres Praktischen Sozialismus’ beurteilen zu können, zumindest wenn man Realismus nicht positivistisch missverstehen will.

Auf einer weniger kategorialen Ebene gibt es etwa schon einen »durch den Staat vermittelten, ›Sozialismus in einer Klasse‹ (Scharpf)«, der »im Zentrum aus der Alimentierung der Arbeitslosen durch die Arbeitslosenversicherungsbeiträge der abhängig Beschäftigten« besteht. Innerhalb der Strategie des praktischen Sozialismus könnte »sich die Arbeiterbewegung von Kapital und Staat selbstständig« machen »und den ›Sozialismus in einer Klasse‹ durch den Ausbau der Gemeinwirtschaft« selbst organisieren. Damit »verlöre die Drohung mit dem Arbeitsplatzverlust tendenziell an Wirkung und könnte der Arbeitskampf direkt mit dem Ziel geführt werden, das bestreikte Unternehmen zu sozialisieren, seine Eingliederung in die Gemeinwirtschaft vorzubereiten. Aber auch indirekt durch die Distributionen der Lohnabhängigen stärkte jeder erfolgreiche Arbeitskampf die gewerkschaftliche Gemeinwirtschaft.« (Alle Zitate des Absatzes aus: »Praktischer Sozialismus«)

Oder mit der bewundernswerten Prägnanz der Worte des Genossen Sauerborn: »Die Umwidmung gewerkschaftlicher Rücklagen in den Aufbau einer neuen alternativen gemeinwirtschaftlichen Ökonomie bewirke eine Systemkonkurrenz innerhalb des Kapitalismus, diene als Existenzmöglichkeit für Erwerbslose, reduziere die Erpressbarkeit bei kapitalistischem Wettbewerbsdruck (Vergemeinwirtschaftlichung statt Standorterpressung) und ermögliche in Form eines gemeinwirtschaftlichen Mediensektors die Entfaltung politischer Gegenöffentlichkeit«, all das wäre »... eine schöne Utopie«.

Dass der nachfolgende Hinweis auf das »katastrophale Scheitern der gewerkschaftlichen Gemeinwirtschaft« nicht verfängt, um einen Einwand gegen diese konkrete Utopie geltend zu machen, dürfte aus dem bereits Gesagten klar sein. Aber es soll hier der Eindeutigkeit halber noch einmal zu der Frage, ob wir nicht vielleicht irgendwie doch eine Revitalisierung der gescheiterten gewerkschaftlichen Gemeinwirtschaft anstreben, aus unserer Broschüre »Praktischer Sozialismus« zitiert werden – diesmal aus dessen Vorwort, das unter anderem auch geschrieben wurde, um diesem Missverständnis vorzubeugen: »... dabei kann vielleicht gerade bei dem zentralen Begriff der Gemeinwirtschaft der Eindruck entstehen, es handele sich bei dem Wortgebrauch um Äquivokationen, hat doch die Gemeinwirtschaft im gewerkschaftlichen Kontext eine bestimmte Bedeutung, die durch unseren allgemeinen Gebrauch des Wortes als einfacher Gegensatz zur bornierten Produktionsweise unterlaufen zu werden scheint. Es gibt aber dies Verhältnis von allgemeiner zu bestimmter Bedeutung einen Sachverhalt wieder. Die gegenwärtige Gemeinwirtschaft würde im organisatorischen Rahmen der dargestellten Verlaufsform historischer Produktion in der Tat zu einem einfachen Antagonismus zur kapitalistischen Produktionsweise werden.« Nein, wir wollen keine »Revitalisierung der gewerkschaftlichen Gemeinwirtschaft«. Die Frage aber, bleibt welcher Widerspruch dieses Missverständnis des Genossen Sauerborn motiviert.

Es liegt uns fern, den Reformismus zu denunzieren, wir erkennen seine Bedeutung für die wirkliche Lebenssituation der konkreten Einzelnen an, um die es jedem echten Sozialismus gehen muss. Diese, seine reale Bedeutung kann durch keine revolutionäre Phrase geschmälert und durch kein Vertrösten auf den revolutionären Sankt Nimmerleinstag ersetzt werden. Wir wollen aber den Reformismus radikalisieren, weil er nur, wenn er das Kapitalverhältnis grundsätzlich in Frage stellt, auch und gerade als Reformismus eine Perspektive hat, wie ein Nachdenken über den gegenwärtigen Abbau des real existierenden ›Sozialismus in einer Klasse‹ und dessen Gründe bestätigen könnte.

Die Verlaufsform des praktischen Sozialismus böte die Möglichkeit einer friedlichen Revolution. Die gesellschaftliche Verantwortung lastet letztendlich ohnehin auf den Schultern der »unmittelbaren Produzenten« (Marx), ob sie es nun wahr haben wollen oder nicht. Die Verlaufsform der sozialistischen Revolution muss die für die Annahme der gesellschaftlichen Verantwortung in kollektiver Selbstbestimmung notwendige soziale Selbstveränderung und auch sachliche Qualifikation der unmittelbaren Produzenten mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, der objektiven Bedingung für eine bewusste Produktion neuer gesellschaftlicher Verkehrsformen, dialektisch vermitteln können, d.h. sie in ein Verhältnis positiver Rückkopplung stellen. (vgl. »Praktischer Sozialismus«, S. 28-31) Soweit wir wissen, erfüllen die bisherigen sowohl praktischen als auch theoretischen Verlaufsformen der sozialistischen Revolution diese Anforderung nicht. Das Kainsmal der Gewalt ist notwendiger Ausdruck der von der bürgerlichen Gesellschaft ererbten verkehrten und zerstörten Dialektik von Selbst- und Umstandsänderung, von subjektiven und objektiven Produktionsbedingungen. Hingegen scheinen uns diese wirklich entscheidenden Einsprüche des Reformismus gegen eine umfassende und radikale gesellschaftliche Transformation – der Realismus, das Einzelschicksal und die Sehnsucht nach Frieden – im »Praktischen Sozialismus« berücksichtigt.

Er ist aber zuerst und vor allem die Möglichkeit für den Sozialisten, sich seiner eigentlichen Aufgabe zu stellen, den Sozialismus aufzubauen und so sich auch selbst loszumachen von der ihm objektiv aufgenötigten Schizophrenie, sei er nun Gewerkschafter oder sonst ein Lohnabhängiger, der die Verdinglichung des Menschen zur Waren verachten gelernt hat. »Der Sozialismus ist zuerst die Tat der Sozialisten; die Tat, die umso schwerer sein wird, je kleiner die Zahl derer ist, die ihn wagen und versuchen wollen. Wer anders soll tun, was er als recht erkannt hat, als der Erkennende?«, heißt es in der hervorragenden Schrift Gustav Landauers, die den Titel trägt: »Stelle dich, Sozialist!« [3]

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2-3/08


1) »Praktischer Sozialismus. Antwort auf die Krise der Gewerkschaften« (hier abgekürzt: Praktischer Sozialismus) (ISBN 978-3-89144-398-9), die auch für 5 Euro (inkl. Porto) unter info@hjki.de bestellt werden kann. Siehe dazu:

2) Alle folgenden Zitate stammen, wenn nicht anders angegeben, aus Werner Sauerborns Artikel.

3) Gustav Landauer: »Stelle dich, Sozialist«, in: »Auch die Vergangenheit ist Zukunft. Essays zum Anarchismus«, Frankfurt a.M. 1989.


Home | Impressum | Über uns | Kontakt | Fördermitgliedschaft | Newsletter | Volltextsuche
Branchennachrichten | Diskussion | Internationales | Solidarität gefragt!
Termine und Veranstaltungen | Kriege | Galerie | Kooperationspartner
AK Internationalismus IG Metall Berlin | express | Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken
zum Seitenanfang