Home > Diskussion > Gewerkschaftsstrategien > Debatte > Zukunft > adkrahl
Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Absolut am Ende?

Anmerkungen zur »Krise der Gewerkschaften«[*] von Werner Sauerborn

Manche nennen es ein »obskures und monströses Projekt«, was die KollegInnen des Hans-Jürgen-Krahl-Instituts unter dem Titel »für einen praktischen Sozialismus - Antworten auf die Krise der Gewerkschaften« zu Papier gebracht haben. Ursprünglich als Supplement der Zeitschrift Sozialismus gedacht, erscheint die Broschüre nun im Pahl Rugenstein Verlag - und von dort nach Offenbach fährt man nicht auf Kurzstreckenticket. Dass die KollegInnen den Bogen zum Sozialistischen Büro gespannt haben und sich unerschrocken auch in manch andere Untiefen der Debatte über Organisationsfragen im Zusammenhang mit der Krise der Gewerkschaften gestürzt haben, war ein Grund für uns, ihrem Anliegen mindestens den Platz für Rede und Gegenrede einzuräumen. Letztere führt hier Werner Sauerborn, Erstere ist auf der vorhergehenden Seite dokumentiert. Und, ach ja: »Seinen Adressaten hat der Vorschlag vornehmlich in jener Fraktion der Linken, die es trotz aller berechtigten Kritik an überkommenen Modellen zu keiner eigenen politischen Strategievorstellung gebracht hat und mit dem faktischen Ende des >Sozialistischen Büros< ihres wichtigsten Forums verlustig gegangen ist.« Wenn das nicht zum Widerspruch reizt...

In einer Situation, in der wissenschaftliche Ressourcen auf anpasslerische »Excellenz-Initiativen« eingedampft werden, in der gesellschaftskritische Lehrstühle sukzessive abgebaut werden, in der somit kritische analytische Beiträge zur Krise der Gewerkschaften aus dem Wissenschaftsbereich kaum mehr zu erwarten sind, in einer Situation, in der auch die Gewerkschaften selbst ihre Potentiale der kritischen Selbstreflexion, jetzt, da sie sie am dringendsten bräuchten, quantitativ und qualitativ [1] verkommen lassen, tut ein Text wie der des Hans-Jürgen-Krahl-Instituts, der mit den Instrumenten der Kritik der politischen Ökonomie eine »Antwort auf die Krise der Gewerkschaften« zu geben versucht, einfach gut.

Man mag sich über die Langatmigkeit mokieren, mit der die AutorInnen die analytischen Instrumente aus dem Marxschen Werkzeugkasten in Erinnerung bringen. Aber angesichts der linken Selbstvergessenheit in Bezug auf die Kritik der Politischen Ökonomie und ihres Potentials zur Aufklärung des derzeit sich vollziehenden Formwandels des Kapitalismus und der Krise ihres Mit- und Gegenspielers Gewerkschaften ist es allemal berechtigt, Kategorien, wie die der reellen Subsumption unter das Kapitalverhältnis, wie Marx sie in den »Resultaten des unmittelbaren Produktionsprozesses« beschreibt, wieder zu Aktualität zu verhelfen oder noch einmal auf die Formbestimmtheit technischer Entwicklung zurückzukommen.

Zurecht fordert der Text, sich zunächst einiger theoretischer Prämissen zu vergewissern und damit noch ein bisschen auf der allgemeinen Ebene zu verweilen, bevor praktisch zu verfolgende Schlussfolgerungen gezogen werden. Dieser Einladung soll hier bei einigen kritischen Punkten gefolgt werden.

Geschäftsgrundlage Kapitalismus

Richtig, Gewerkschaften sind keine revolutionären Organisationen. Sie sind es aber auch nicht zwangsläufig nicht. Zwar ist der Kapitalismus Geschäftsgrundlage ihres pragmatischen Drangs nach dem Klassenkompromiss, und richtig ist auch, dass dies einen affirmativen Effekt auf diese Geschäftsgrundlage hat. Das erlaubt aber nicht die Schlussfolgerung, dass Gewerkschaften zwangsläufig eine »revolutionäre Umwälzung der Produktionsverhältnisse als organisationsfeindlich, den Bestand der Organisation gefährdend, ablehnen und bekämpfen« (S. 3) müssten.

Die Frage, was die Gewerkschaften tun und sein werden, wenn die Grundlagen dieses Klassenkompromisses erschöpft sind, wird sich weisen, wenn die Elastizität des globalen Kapitalismus an ihre Grenzen stößt und die Grundlage der systemimmanenten Vertretung von Lohnabhängigeninteressen nicht mehr funktioniert - das tut sie auch jetzt schon kaum noch - und nicht mehr funktionieren kann. Die Frage des Sozialismus müssen wir uns warm halten, und wenn es so weit ist, auf sie zurückkommen. Unmittelbar stellt sie sich auf vermutlich einige Zeit hin nicht. [2]

Unmittelbar geht es vielmehr darum, die Verteilungskämpfe innerhalb des Kapitalismus wirksamer zu führen, was hinsichtlich des Lohnarbeitsverhältnisses originäre Sache der Gewerkschaften wäre, die dazu derzeit, aus zu klärenden Gründen, immer weniger in der Lage sind.

Wer ist Subjekt der Gewerkschaften?

Wären sie, wie es der Text sieht (S. 6), Vertretungen nur der Lohnabhängigen, also derer, die ihre Arbeitskraft verkaufen konnten, kämpften sie allerdings auf verlorenem Posten. Sie wären nicht nur »keine revolutionären Organisationen des Proletariats« - können und sollen sie auch gar nicht sein -, sie könnten auch ihr immanentes Ziel, die Durchsetzung der Interessen von Lohnabhängigen, grundsätzlich nicht erreichen. Sie könnten die Konkurrenz der Lohnabhängigen prinzipiell nicht aufheben, wenn sie ihrem Selbstverständnis nach nur den einen Teil der Lohnabhängigen als ihr Subjekt sähen.

Unbestreitbar gelingt es den Gewerkschaften nur schwer, Lohnerwerbslose zu gewinnen - dies aber nicht, weil sie eigentlich nicht unser Subjekt sind, sondern obwohl sie es sind. Gewerkschaften sind Organisationen derer, die auf den Verkauf ihrer Arbeitkraft angewiesen sind (egal in welcher zeitgenössischen Form dieser stattfindet), und das sind die, denen dieser Verkauf gelingt, genauso wie die, denen er vorübergehend oder langfristig nicht gelingt.

Zentrales gewerkschaftliches Thema über die individuelle Arbeitsplatzsicherung hinaus ist daher die gesellschaftliche Umverteilung von Arbeit. Der Kampf um Arbeitszeitverkürzung ist das probate Mittel, die Konkurrenz von erfolgreichen und nicht erfolgreichen VerkäuferInnen ihrer Arbeitskraft zu überwinden. Die hohe Lohnarbeitslosigkeit ist ein wesentlicher Grund der Krise und Schwäche der Gewerkschaften - dies ist linker Konsens und wird unter Linken gern als schicksalhafte Rahmenbedingung wahrgenommen, womit sich die Auseinandersetzung mit den eigentlichen Gründen der Gewerkschaftskrise erübrigt zu haben scheint. Die hohe Arbeitslosigkeit ist aber auch Folge gewerkschaftlicher Schwäche, was leider weniger beachtet wird. Die notorische Handlungsstarre der Gewerkschaften angesichts eines sich revolutionierenden globalen Kapitalismus hat sie in eine historische Defensive getrieben, deren erstes großes Opfer die gewerkschaftliche Arbeitszeitverkürzungspolitik geworden ist, weil sie besondere Solidarität erfordernd quasi die Königsdisziplin gewerkschaftlicher Tarifpolitik ist.

Relative Grenzen des Kapitalismus

»Die Maßlosigkeit der kapitalistischen Produktion unterminiert selbst zerstörerisch ihre eigenen Voraussetzungen« in Form der ihr konstitutiv vorausgesetzten nicht-kapitalistischen Produktionsverhältnisse, als da sind die Produktivität der Natur und die familiäre Reproduktionssphäre. Was von einer wissenschaftlichen Warte aus ein interessantes Schauspiel ist, wirkt sich in der Realität als brutaler, für viele existenzgefährdender Prozess aus: Der kapitalistisch induzierte Klimawandel droht die Existenzgrundlagen der menschlichen Existenz hinweg zu spülen und damit auch die natürlichen Voraussetzungen kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Auf der Bühne dieses Prozesses, dem Weltmarkt, gibt es (von wenigen institutionellen Vorformen abgesehen) keinen ideellen Gesamtkapitalisten, der durch Regulation das Kapital vor den Folgen der eigenen Destruktion schützen könnte.

Die existenzielle Preisfrage ist, ob sich eine globale Staatlichkeit in diesem Sinne rechtzeitig entwickeln wird, bevor die klassenübergreifende Selbstzerstörung noch zu stoppen ist. Die vorausgesetzten nicht-kapitalistischen Produktionsverhältnisse sind allenfalls theoretisch eine »absolute Grenze« des Kapitalverhältnisses (S. 11), praktisch sind sie relativ und reell subsumierbar, z.B. mit dem Regulationsinstrument des Emissionshandels, mit dem die Natur bzw. ihr Konsum zur handelbaren Ware mit Preis und Mengen wird.

Eine ähnlich reelle Subsumption ist derzeit hinsichtlich der Reproduktionssphäre im Gange. Die patriarchalen Familienstrukturen sind eine historische Form dieser Voraussetzungen, die ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Neben den subjektiven Interessen von Frauen und Männern, sich aus einschränkenden und eindimensionalen Lebensschablonen zu emanzipieren, ist das kapitalistische Interesse an einer Sicherung der funktionalen Effizienz der Reproduktionssphäre die zweite entscheidende Voraussetzung für die derzeit sich vollziehende Revolutionierung der Familien- und Geschlechterverhältnisse. Personalisierung dieser Ambivalenz ist die CDU-Familienministerin von der Leyen. Dieser Prozess hat mehr Freiheit und Gleichheit zur Folge, er subsumiert zugleich die Frau reell unter das Kapitalverhältnis, indem es sie zur tendenziell gleichwertigen Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt macht, und er vermarktlicht soziale Beziehungen, indem Hausarbeit zur Lohnarbeit wird, indem Sexualität direkt oder indirekt zur Ware-Geld-Beziehung wird, indem soziale Kommunikation marktförmig wird.

Auch hier unterschätze man/frau nicht die Elastizität des Kapitalismus. Es ist Sache vor allem der Gewerkschaften, diese relativen Spielräume zu nutzen, um ihn an seine absolute Grenze zu treiben.

Fehlende institutionelle Voraussetzungen für Global Unions?

Für die Skepsis der AutorInnen in Bezug auf die Fähigkeit der Gewerkschaften, sich zu transnationalen Branchengewerkschaften weiterzuentwickeln, gibt es viele Gründe, jedoch nicht den von ihnen angeführten, nämlich das Fehlen »dieser Notwendigkeit entsprechender« Institutionen auf transnationaler Ebene - sprich: nicht nur transnationaler Staatlichkeit, sondern auch transnationaler Adressaten für Gewerkschaftsstrukturen. Dies ist zwar empirisch derzeit weitgehend zutreffend, die Existenz bzw. das historische Auftreten organisierter Arbeitgeberstrukturen ist aber nicht die Voraussetzung transnationaler Gewerkschaftsentwicklung, sondern deren Folge. Ein wunderbares Beispiel dafür ist die Selbstauflösung der nationalen Reederverbände als Arbeitgeberinstitutionen infolge des Bedeutungsverlustes nationaler Tarifpolitik für Seeleute und das Entstehen internationaler Arbeitgeberverbände der Reeder infolge der Etablierung der ITF (Internationale Transportarbeiterföderation) Sektion Maritim, der es als erster internationaler Branchengewerkschaft gelungen ist, einen internationalen Tarifvertrag zu vereinbaren - mit eben diesen Arbeitgeberverbänden. Arbeitgeber schließen sich nur und dann zu Arbeitgeberverbänden zusammen, wenn die VerkäuferInnen von Arbeitskraft handlungsfähige Koalitionen bilden.

Bitte keine Neuauflage gewerkschaftlicher Gemeinwirtschaft

Etwas unvermittelt entwickelt der Text als Konklusion den Vorschlag einer Revitalisierung der gewerkschaftlichen Gemeinwirtschaft als Antwort auf die Krise von Gewerkschaften und Arbeiterbewegung. Die Umwidmung gewerkschaftlicher Rücklagen in den Aufbau einer neuen alternativen gemeinwirtschaftlichen Ökonomie bewirke eine Systemkonkurrenz innerhalb des Kapitalismus, diene als Existenzmöglichkeit für Erwerbslose, reduziere die Erpressbarkeit bei kapitalistischem Wettbewerbsdruck (Vergemeinwirtschaftlichung statt Standorterpressung) und ermögliche in Form eines gemeinwirtschaftlichen Mediensektors die Entfaltung politischer Gegenöffentlichkeit. All das ist eine schöne Utopie, die die Erfahrungen mit dem katastrophalen Scheitern der gewerkschaftlichen Gemeinwirtschaft praktisch und vor allem theoretisch nicht berücksichtigt.

Ein Streikfonds muss, wenn Gewerkschaften jederzeit handlungsfähig sein wollen, in unmittelbar abrufbaren Rücklagen angelegt sein. Die Fähigkeit, im Kapitalismus wettbewerbsfähig zu sein, was sich letztlich in der Preisbildung manifestiert, setzt den Rückgriff auf fast alle Brutalitäten der kapitalistischen Produktionsweise voraus. Ein Verzicht auf diese Grausamkeiten ist leider nicht durch das Überspringen von Zwischenhandel und durch bescheidenere Gewinnerwartungen zu kompensieren. Und die Vorstellung, eine gewerkschaftliche Gemeinwirtschaft könne sich als Auffangoption für die ArbeitnehmerInnen der im kapitalistischen Wettbewerb gestrandeten Unternehmen anbieten, macht, weitergedacht, die Abwegigkeit dieses Vorschlags deutlich.

Mit dem Vorschlag der Revitalisierung einer gewerkschaftliche Gemeinwirtschaft verlässt der Text seinen Anspruch, aus der Analyse der Gründe der Gewerkschaftskrise die theoretische Grundlegung für Auswegstrategien zu entwickeln. Das ist kein generelles Votum gegen das Konzept einer Alternativökonomie, wie es z.B. neuerdings wieder unter der Überschrift »solidarische Ökonomie« diskutiert wird, und auch nicht gegen Grundideen gewerkschaftlicher Gemeinwirtschaft. Als Rahmen für die Weiterverfolgung dieses Gedankens sollte aber zweierlei erücksichtigt werden: Erstens müssen die historischen Gründe des Scheiterns der gewerkschaftlichen Gemeinwirtschaft aufgearbeitet und berücksichtigt werden und zweitens, als eine ziemlich sichere Schlussfolgerung daraus, muss gewährleistet werden, dass das politische und vor allem ökonomische (Streikkasse) Funktionieren der Gewerkschaften durch klare Abgrenzungen eines gewerkschaftlich-gemeinwirtschaftlichen Sektors nicht beeinträchtigt wird.

Wichtiger als die etwas irritierende Schlussfolgerung am Ende ist das Verdienst des Textes, eine neue Ebene der Auseinandersetzung mit der Krise der Gewerkschaften eröffnet oder erweitert zu haben, von der aus Antworten auf den nur scheinbar unaufhaltsamen Niedergang der Gewerkschaften gefunden werden können.

Besprechung und Antwort von Werner Sauerborn, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 12/07

"Praktischer Sozialismus - Antwort auf die Krise der Gewerkschaften"

Diskussionsbeitrag als Brosdchüre, hrsg. Hans-Jürgen-Krahl-Institut e.V. (Pahl-Rugenstein-Verlag, ISBN 978-3-89144-398-9, broschiert, 44 Seiten, 4,95 Euro), erschien Anfang Januar 2008. Die Broschüre kann ab sofort für 5 Euro inkl. Porto direkt beim HJKI (info@hjki.de, http://www.hjki.de externer Link) vorbestellt werden. Siehe dazu:


Home | Impressum | Über uns | Kontakt | Fördermitgliedschaft | Newsletter | Volltextsuche
Branchennachrichten | Diskussion | Internationales | Solidarität gefragt!
Termine und Veranstaltungen | Kriege | Galerie | Kooperationspartner
AK Internationalismus IG Metall Berlin | express | Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken
zum Seitenanfang