Home > Diskussion > Gewerkschaftsstrategien > Mitb. > Betriebsrat > brwahlen_hw | |
Updated: 18.12.2012 15:51 |
Randzonen austesten Helmut Weiss* über Betriebsratswahlen in der Krise In vielen Ländern gilt das deutsche Betriebsverfassungsgesetz als richtungsweisendes Modell, sowohl von Arbeitgeber- als auch von Arbeitnehmerseite aus. Eine Anfrage chinesischer KollegInnen im Rahmen des vom express mitgetragenen Projekts »Forum Arbeitswelten: China und Deutschland« hat uns dazu gebracht, das »BetrVG« und die Ergebnisse der letzten Betriebsratswahlen in Kurzform zu erläutern. Manchmal führt die Notwendigkeit, selbstverständlich gewordene Verhältnisse darzustellen und zu explizieren, dazu, vermeintliche Banalitäten aus einer anderen Perspektive zu sehen und so auch Neues bzw. Vergessenes im eigenen Land zu entdecken. Dieser Aufgabe hat sich Labournet-Redakteur Helmut Weiss angenommen, dessen Beitrag für die chinesische Homepage von Worlds of Labour wir im Folgenden überarbeitet und gekürzt dokumentieren. Vom 1. März bis 31. Mai 2010 fanden in der Bundesrepublik Betriebsratswahlen statt, wie es das Betriebsverfassungsgesetz vorsieht: in jedem Betrieb mit mindestens fünf Beschäftigten, alle vier Jahre und immer in diesen Monaten. Jede und jeder, die mindestens sechs Monate im Betrieb beschäftigt und volljährig, also 18 Jahre alt ist, kann wählen und gewählt werden. Dies gilt auch für Auszubildende, sofern sie volljährig sind, für LeiharbeiterInnen, wenn sie länger als drei Monate in einem Betrieb arbeiten, sowie schließlich auch für HeimarbeiterInnen in dem Betrieb, für den sie hauptsächlich arbeiten. Die endgültigen Ergebnisse dieser Wahlen liegen noch nicht vor – vier der sechs beteiligten Gewerkschaften hatten im Juni erste Zwischenergebnisse veröffentlicht, jeweils etwa ein Drittel aller gewählten Betriebsräte umfassend. Da die großen Betriebe zuerst ihre Ergebnisse melden, sind in diesem einen Drittel aller wählenden Betriebe etwa zwei Drittel aller Betriebsratsmitglieder erfasst. Im Folgenden werden die wichtigsten der bisherigen Wahlanalysen zusammengefasst und mit aktuellen Bestrebungen in der VR China verglichen, zu einer wirklichen Interessenvertretung der Belegschaften zu kommen. 1. Kurze Geschichte, gesetzliche Grundlagen und politische Bedeutung von Betriebsräten Etwa um 1850 gab es die ersten betrieblichen Interessenvertretungen der Arbeiter in (wenigen) einzelnen Unternehmen im Deutschen Reich – in der Regel »von oben«, von jener Handvoll liberal-sozialer Unterneh-mer initiiert, die bereits in der (gescheiterten) bürgerlichen Revolution von 1848 in Deutschland als Sozialreformer bekannt geworden waren. Damals entstand der Begriff der »konstitutionellen Fabrik«. Die erste gesetzliche Regelung zur Bildung von Arbeiterausschüssen wurde im Jahr 1900 in Bayern getroffen: Der Landtag erließ ein Gesetz zu ihrer Bildung in den Bergwerken des Landes. Kein Zufall, dass diese ersten Regelungen gerade für Bergwerke galten: allein schon durch die stets wichtige Frage der Arbeitssicherheit erzwungen, bei der es auch ein begrenztes Interesse der Unternehmen gab, die Belegschaften mit einzubeziehen. 1905 erließ die Regierung Preußens gesetzliche Regelungen zur obligatorischen Einführung von Arbeiterausschüssen im preußischen Kohlerevier, zu dem auch das Ruhrgebiet gehörte: hier aber bereits auch als Reaktion auf die großen Streikbewegungen der Jahre 1889 und 1905, bei denen es zu blutigen Repressionsmaßnahmen gekommen war. Nach der November-Revolution 1918, die Kriegsende, Sturz der Monarchie und Gründung der Weimarer Republik bedeutete, und die im Wesentlichen das Werk der Arbeiter- und Soldatenräte war, stand nach der Etablierung der bürgerlichen Demokratie das gesellschaftliche Problem im Raum, die Ansprüche und Erwartungen der Werktätigen wenigstens teilweise zu erfüllen. Eine Reaktion in doppeltem Sinne war dementsprechend das erste deutsche Betriebsrätegesetz vom Februar 1920. Es stellt zum einen, allgemein-gesellschaftlich, eine Reaktion auf die wichtige Rolle der Arbeiter- und Soldatenräte beim Sturz der deutschen Monarchie und der Beendigung des Krieges am Ende des Jahres 1918 dar. Dies zeigt sich im Gesetz dadurch, dass es keineswegs nur um Betriebsräte im eigentlichen Sinne ging: Sie waren im ersten Entwurf nur Bestandteil eines Systems, das regionale Arbeiterräte ebenso vorsah wie einen Reichsarbeiterrat. Diese beiden zuletzt genannten Ebenen wurden aber nie mit Leben er-füllt. Als es die politische Situation nicht mehr erforderte, wurden sie schlicht vergessen. Die folgende Passage aus der Verfassung der Weimarer Republik, die nach dem Sturz der Monarchie bis zum Sieg des Nationalsozialismus dauerte, also von 1918 bis 1933, verdeutlicht dies: »Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen in Betriebsarbeiterräten sowie in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat.« Das Gesetz war zum anderen eine direkte Reaktion auf die große Streikbewegung 1919, die vor allem an der Ruhr und in Sachsen stattfand. Dennoch war das Betriebsrätegesetz heftig umkämpft: Die Gewerkschaftsbewegung lehnte es in großen Teilen ab, weil darin keine Mitgestaltungsrechte vorgesehen waren. Als im zweiten Gesetzentwurf für die Debatte im Reichstag Rechte der Mitgestaltung vorgesehen wurden, waren es dann die Unternehmerverbände, die Sturm dagegen liefen. So wurden schließlich zwar Mitgestaltungsrechte in den letzten Gesetzentwurf eingebaut – aber eben nur in sozialen Fragen, nicht in Bezug auf die Betriebsführung. Es gab also keinen Einfluss auf die unternehmerischen Entscheidungen. Dies wiederum führte von Seiten der Arbeiterbewegung zu großen Protesten und im Januar 1920, aus Anlass der Verabschiedung des Gesetzes, zu einer Massendemonstration vor dem Parlament, die von der Polizei niedergeschossen wurde: Die Entstehung des Betriebsrätegesetzes der Weimarer Republik ist auch mit den 42 Todesopfern von Berlin verbunden. Von der nationalsozialistischen Regierung wurde das Betriebsrätegesetz aufgehoben und nach der Niederlage im zweiten Weltkrieg als Rahmenerlass vom Alliierten Kontrollrat 1946 wieder eingeführt – mit der Auflage, ein Bundesgesetz auszuarbeiten, das dann 1952 verabschiedet wurde: das Betriebsverfassungsgesetz. Dieses regelt im Wesentlichen die Wahl und die Rechte des Betriebsrates, der das zentrale Organ der betrieblichen Mitbestimmung ist. Mitbestimmung gibt es in der Bundesrepublik auf zwei Ebenen. Betriebliche Mitbestimmung bedeutet, im Unterschied zur Mitbestimmung im Unternehmen, Einfluss auf die sozialen Folgen von unternehmerischen Entscheidungen – nicht aber auf diese Entscheidungen selbst. Unternehmensmitbestimmung bedeutet demgegenüber über den Aufsichtsrat eine Mitentscheidung bei wirtschaftlichen Angelegenheiten des Unternehmens. Damit ist eine andere soziale und politische Konstellation verbunden, die genauer zu behandeln wäre. [1] Im Wesentlichen lassen sich die gesetzlichen Grundlagen der Rolle des Betriebsrates in fünf Bereiche zusammenfassen: Die Informationsrechte sind laut Gesetz weitgehend, aber sie stellen auch im besten Falle nicht mehr dar als die Grundlage der Betriebsratsarbeit – sie umfassen beispielsweise sowohl alle Daten, die das Unternehmen über die Beschäftigten, deren Eingruppierung und Versetzung hat, als auch solche zur technischen Gestaltung von Arbeitsplätzen und Sicherheitsvorkehrungen bis hin zu einigen als Betriebsgeheimnisse erklärten wirtschaftlichen Informationen. Beratungsrecht hat der Betriebsrat in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Die Entscheidung aber fällt die Unternehmensleitung alleine. Das betrifft Fragen der Aufspaltung, Zusammenlegung oder Schließung von Betrieben oder Betriebsteilen, des Ortes, der Art, des Umfanges des Betriebes, der Gestaltung der betrieblichen Tätigkeit, der Einführung von neuen Technologien. Das Widerspruchsrecht bei Kündigungen hat zunächst einmal lediglich aufschiebende Wirkung, wenn der Betroffene vor das Arbeitsgericht geht – sofern es eine ordentliche Kündigung ist. Bei sogenannten außerordentlichen Kündigungen besteht nicht einmal diese aufschiebende Wirkung. Das Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrates bedeutet eine Art Vetorecht (im Wesentlichen gegen generelle Personalplanungen). Damit können Maßnahmen blockiert werden, ohne sie beeinflussen zu können. Gegenüber dem Veto bleiben dem Unternehmen aber zwei Auswege: einen Antrag beim zuständigen Arbeitsgericht gegen das Veto stellen – oder die Maßnahme als vorläufig zu erklären, was das Veto ebenfalls unterläuft. Mitbestimmungsrechte schließlich sind jene, bei denen Betriebsräte (speziell größerer Betriebe) zumindest vom Papier her mitgestalten dürfen. Das betrifft vor allem den gesamten Bereich sozialer Folgen der Arbeitsplatzgestaltung und ist dort ausführlich spezifiziert. Bei größeren Betrieben – über 100 Beschäftigte – gibt es über den dann zu bildenden Wirtschaftsausschuss des Betriebsrates, ansatzweise auch eine wirtschaftliche Mitbestimmung. Nur: In jedem Falle gibt es bei Nichteinigung die Einigungsstelle (paritätisch besetzter Ausschuss mit einem von außen kommenden Vorsitzenden), die dazu dient, umstrittene Entscheidungen in das gesamtgesellschaftliche Gefüge einzupassen. Mit diesen, hier nur grob skizzierten, Regelungen ist das Betriebsverfassungsgesetz exakt, was der Name aussagt. Obwohl es zahlreiche andere Gesetze mit Regelungen für die Arbeitswelt gibt, bildet es den Kern und das Gerüst der sozialen Beziehungen in der bundesdeutschen Ökonomie, denn es ist jenes Gesetz, das die Belegschaften als Einheit behandelt und Kollektivrechte festhält. Exakt, was der Name aussagt: Das bedeutet eben auch, dass die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland in den Betrieben faktisch nicht gilt – weshalb es eine eigene Verfassung geben muss, die andere Schwerpunkte setzt, als die staatliche Verfassung dies tut. So sind in der Betriebsverfassung eben nicht alle Menschen gleich, sondern unterschieden nach Eigentum. Basierend auf dieser grundsätzlichen Unterscheidung erkennt die Betriebsverfassung durchaus an, dass es unterschiedliche Interessen geben kann und dass der Betriebsrat die Interessen der Belegschaft vertreten soll. Die dafür entscheidende Passage allerdings ist das grundsätzliche Postulat der vertrauensvollen Zusammenarbeit – im Sinne des Unternehmens. Dieses Postulat ist das Nervensystem dieses Gesetzes, das es in seiner Gesamtheit durchzieht und stets vorausgesetzt wird. Ab Mitte der 60er-Jahre, also zu Zeiten, als die zwanzigjährige parlamentarische Vorherrschaft der konservativ-bürgerlichen Kräfte zu bröckeln begann und die Sozialdemokratie mit dem Slogan »Mehr Demokratie wagen« 1969 erstmals eine Bundestagswahl gewann, entwickelte der Deutsche Gewerkschaftsbund die zentrale gesellschaftspolitische Losung »Sie verlassen den demokratischen Sektor der Bundesrepublik« – mit einer Karikatur eines Betriebstores. Wie weit die unterschiedlichen politischen Strömungen dabei auch immer gehen wollten – mit der Novellierung der Mitbestimmung durch die Brandt-Regierung war auch diese Kampagne, wenn auch nicht ihr Gegenstand, faktisch erledigt. Dennoch: Das bedeutet zugleich, dass die Frage der Notwendigkeit einer gesonderten Betriebsverfassung keineswegs ein rein parteipolitischer Standpunkt ist, noch einer, der prinzipiell nur von linksradikalen Gruppierungen eingenommen werden kann oder könnte. 2. Die Betriebswahlen 2010 – Wahlen in der Krise Die Hälfte aller arbeitenden Menschen in Deutschland arbeitet in Betrieben und Unternehmen mit weniger als 100 Beschäftigten. Von diesen Unternehmen haben nur rund 30 Prozent einen Betriebsrat. Was bisher an konkreten Ergebnissen der Wahlen vorliegt, sind Gewerkschaftsmitteilungen vom Juni 2010, Trends eher denn Ergebnisse. Bei der IG Metall heißt es: »Bei den Betriebsratswahlen 2010 zeichnet sich ein positives Ergebnis für die IG Metall ab. Bislang sind Ergebnisse aus 3765 Betrieben mit 1,2 Millionen Beschäftigten ausgewertet – etwas mehr als ein Drittel der zu erwartenden Ergebnisse. Das endgültige Wahlergebnis wird nach Rückmeldung aller Betriebe im Herbst erwartet. Die Wahlbeteiligung stieg nach dem derzeitigen Zwischenstand im Vergleich zum Endergebnis der Wahlen 2006 von 71,98 auf 73,8 Prozent. 94 Prozent der bisher ausgewerteten Wahlen waren Persönlichkeitswahlen. Die IG Metall wird ihr Ergebnis mit 80,7 Prozent der gewählten Betriebsratsmitglieder im Vergleich zu 2006 (73,2 Prozent) voraussichtlich deutlich verbessern«. Im Vergleich zur letzten Betriebsratswahl von 2006 – zugleich auch das Jahr »vor der Krise« – ist die Zahl der Betriebe mit Betriebsräten um zehn Prozent auf rund 10000 gesunken, so IGM-Bereichsleiter Peter Donath in der FR vom 11. Juni 2010. Von den 11000 Betrieben, die 2006 einen Betriebsrat hatten, seien in den vier Jahren seitdem rund 2000 »verschwunden« (ebd.); kompensiert wurde dies teilweise dadurch, dass etwa 800 Betriebsratsgremien 2010 erstmals gewählt wurden. Während 2006 rund 73000 Betriebsräte gewählt worden waren, von denen wiederum 73 Prozent der IG Metall angehörten, hat sich der Organisationsgrad in der IG Metall in der Zwischenbilanz 2010 (etwa 50.000 Betriebsräte sind dabei erfasst) auf 78 Prozent erhöht. Rund 23 Prozent aller BetriebsrätInnen sind Frauen – bei einem Anteil von 20 Prozent Frauen an den Beschäftigten dieser Branche. Die christliche Metallgewerkschaft konnte in diesen Betrieben rund 250 Betriebsräte wählen und kam damit auf etwa 0,5 Prozent – all diese Zwischenergebnisse bei einer leicht gestiegenen Wahlbeteiligung von rund 74 Prozent (alle Angaben lt. FR, 11. Juni 2010). Auch bei den drei anderen Gewerkschaften, die im Juni 2010 erste Zwischenergebnisse veröffentlichten, sind diese mit denen der IG Metall vergleichbar, sowohl was die IG Chemie betrifft, als auch in den industriellen Bereichen von ver.di und denen, die nicht zum Öffentlichen Dienst gehören, sowie bei der Eisenbahngewerkschaft Transnet. ver.di kommentiert die Wahl in einer Pressemitteilung wie folgt: »Eine hohe Wahlbeteiligung und knapp zwei Drittel der Mandate für die Kandidatinnen und Kandidaten der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) – so lautet der erste Trend für die Betriebsratswahlen...«. (http://br-wahl.verdi.de/die_wahl ) Die »hohe Wahlbeteiligung« liegt in diesem Fall bei rund 69 Prozent, ver.di stellt 64 Prozent aller Betriebsräte. Bei der IG Chemie heißt es: »Rund 3450 Betriebe im Organisationsbereich der IG BCE wählen in diesem Frühjahr neue Arbeitnehmervertreter. Mitte Mai lagen Ergebnisse aus gut 60 Prozent der Betriebe vor. Bisher sind etwa 14000 Betriebsratsmitglieder gewählt, rund 81 Prozent haben das Mitgliedsbuch der IG BCE. Bei den Wahlen 2006 waren 81,5 Prozent der Betriebsräte gewerkschaftlich organisiert, 2002 konnten 81,1 Prozent der Mandate gewonnen werden. Die Wahlbeteiligung ist leicht gestiegen und liegt jetzt bei 74,6 Prozent«. (http://br-wahl.igbce.de/portal/site/igbce/betriebsratswahlen_2010/ ) Und bei der Transnet: »Die Gewerkschaften Transnet und GDBA gehen als Sieger aus den Betriebsratswahlen im DB-Konzern hervor. Die Kandidaten beider Gewerkschaften gewannen nach dem vorläufigen Endergebnis 2392 von 3001 Mandaten. Das ist eine Quote von 80 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei 71 Prozent«. (www.transnet.org/Gewerkschaftsarbeit/Mitbestimmung/Betriebsverfassung/.Wahlen/Aktuelles/ 10_05_06_Wahlen/ ) Keine Zwischenmeldungen gab es bislang von der Gewerkschaft NGG und der IG BAU. Die beiden übrigen DGB-Gewerkschaften, die GEW und die GdP, haben keine Betriebsratswahlen in ihrem Organisationsbereich. Wie lassen sich nun solche Ergebnisse – oder eben Trends – bei aller Vorsicht interpretieren? Zunächst einmal gibt es, neben den vielen fehlenden Ergebnissen, noch zwei weitere und sehr grundsätzliche Fakten, die eine genauere Bewertung erschweren – aber ihrerseits wichtige Tendenzen der generellen Gewerkschaftsarbeit widerspiegeln. Zum einen: Über 90 Prozent aller Betriebsratswahlen sind in der Regel Persönlichkeitswahlen. Das heißt, es treten keine konkurrierenden Listen an, sondern aus einer einheitlichen KandidatInnenliste können die WählerInnen jene auswählen, die sie in der Funktion haben wollen. Dies ist eine traditionelle Methode, Interessenvertreter zu wählen – nach ihrer angenommenen persönlichen Eignung und ihrem (erwarteten) Engagement. Was es aber – und dies ist keine Kritik, sondern lediglich eine Feststellung – naheliegenderweise unmöglich macht, eine irgendwie geartete politische Verschiebung zu bewerten oder auch nur festzustellen. Zum anderen gibt es bei den – ausschließlich in Großbetrieben bzw. einigen mittleren Betrieben stattfindenden – Listenwahlen völlig unterschiedliche Ausgangssituationen. Aus Perspektive der DGB-Gewerkschaften finden sich bei Vertretungswahlen im Wesentlichen zwei Varianten konkurrierender Organisationen: In einigen großen bzw. wichtigen Unternehmen gibt es Listen, die sich gegen einen (von ihnen so genannten oder empfundenen) außerbetrieblichen gewerkschaftlichen Kollektivismus herausgebildet haben: oft, nicht immer, initiiert oder unterstützt von der Geschäftsleitung – Siemens oder Allianz wären hier Beispiele. Zum zweiten gibt es, vor allem in den letzten Jahren und vor allem im Organisationsbereich von ver.di, Berufsverbände, die tariffähig sind – etwa Ärzte oder Piloten – und die sich relativ erfolgreich entwickelt haben; am deutlichsten zu sehen bei den Lokführern – die in Konkurrenz zur Transnet stehen. Auch wenn die Gemeinschaft Transnet/GDBA darauf verweist, 80 Prozent aller Betriebsräte zu stellen, so hat doch die GDL ihren Anteil auf über zehn Prozent ausgebaut und erstmals auch über ihren eigentlichen Bereich hinaus Erfolge erzielt. Schließlich gibt es noch in einigen Betrieben, speziell der Autoindustrie und der Chemiebranche, linksoppositionelle Listen – die bei den jüngsten Wahlen höchst unterschiedliche Ergebnisse erzielt haben: Ergebnisse, aus denen sich aber mit Sicherheit kein »Krisen-Trend nach links« ablesen lässt. Diese Art Listen zur Betriebsratswahl sind in der Regel aufgrund besonderer betrieblicher Bedingungen entstanden – zum Teil schon vor vielen Jahrzehnten, wobei es einigen gelungen ist, eine neue Generation einzubeziehen –, denn es gibt in der Bundesrepublik keine politische Organisation, auch nicht aus dem radikaleren linken Spektrum, die prinzipiell für eigene Kandidaturen zur Betriebsratswahl eintreten würde. Eine erste, vorsichtige und vorläufige Interpretation der Betriebsratswahlen 2010 ließe sich aufgrund der genannten Fakten in den folgenden drei Punkten vornehmen:
Letzteres ergibt sich allein schon aus der Tatsache der doch sehr großen Zahl von Betrieben, die seit der letzten Betriebsratswahl entweder aufgelöst oder aber, etwa durch Fusionen oder Aufkäufe, aufgesogen wurden. 3. Das Kreuz mit der Demokratie – Erfahrungsberichte, Konsequenzen und mögliche Schlussfolgerungen Auch wenn die Belegschaften das Recht haben, ihre kollektiven Interessenvertreter selbst zu wählen, und – sofern sie Gewerkschaftsmitglieder sind – über die entsprechenden Kongresse etc. die Gewerkschaftsvorstände zu wählen: Ist damit Demokratie garantiert? Grundsätzlich lautet die These dieses Textes: Mit diesen beiden Rechten sind bestenfalls die Grundvoraussetzungen gegeben, ein demokratisches Leben in den Unternehmen, in der Wirtschaft zu ermöglichen. Denn:
Ein aktuelles Beispiel dazu aus der Auseinandersetzung um die Schließung des Werkes 8 beim Autozulieferer Behr in Stuttgart: »Abhängig ist das Inkrafttreten der Betriebsvereinbarung allerdings von einem ›noch zu vereinbarenden Sanierungsbeitrag‹ der anderen Behr-Werke. Wie dieser konkret aussehen soll, wollte IG-Metall-Mann Schwarz gegenüber jw nicht sagen. Erst müssten die Belegschaften auf Betriebsversammlungen an den Standorten über das bereits vorliegende Verhandlungsergebnis informiert werden, betonte er. In ›Werk 8‹ soll der Betriebsrat am Mittwoch der Vereinbarung zustimmen, für Donnerstag ist eine Betriebsversammlung geplant. Ein Votum der Belegschaft soll allerdings nicht eingeholt werden. ›Es wird mit Sicherheit keine Abstimmung darüber geben, ob das Werk geschlossen werden soll. Das ist eine rein unternehmerische Entscheidung – und die ist gefallen‹, so Schwarz«. (jw vom 6. Juli 2010) Dass es dabei durchaus andere Möglichkeiten des Handelns gibt, soll ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich zeigen. Als in einem Theater (mit insgesamt 600 Beschäftigten für die damals zuständige Gewerkschaft ein Großbetrieb) ein betrieblicher Tarifvertrag zum Abschluss stand, organisierte der Betriebsrat das, was eine Gewerkschaft immer tun kann, wenn es um Tarifverträge geht – eine Tarifkommission. Und da es um einen betrieblichen Tarifvertrag ging, war es eben eine betriebliche Tarifkommission. Die kann zusammengesetzt sein, wie die Gewerkschaft will. In diesem Falle konnte jedes Gewerkschaftsmitglied auch Mitglied der Tarifkommission sein, was sich im Übrigen in der Steigerung des Organisationsgrades um ca. zehn Prozent auf über 50 Prozent niederschlug und zu Sitzungen mit Hunderten von TeilnehmerInnen führte – sowie zum Abschluss eines Vertrages, der von über 95 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder gebilligt wurde. Sicher: Die Ausgangslage beider Beispiele ist alles andere als gleich, dennoch geht es um die grundsätzliche Haltung, die bei solcherart Auseinandersetzungen eingenommen wird, und diese ist in der Tat gegensätzlich. Zum Spannungsverhältnis Betriebsrat-Gewerkschaft noch ein letztes Beispiel. In den 90er-Jahren schloss die IG Medien einen Weiterbildungstarifvertrag mit dem Unternehmerverband ab. Zu jener Zeit, als die Propaganda von den Werktätigen forderte, »lebenslanges Lernen« zu praktizieren, war das nicht nur ein wichtiges Signal (dass diese Anforderung eben von allen Seiten zu erfüllen ist), sondern der Tarifvertrag selbst war auch ein starker Vertrag, mit vielen Ansätzen für betriebliche Schritte der Mitgestaltung. Faktisch wurde er nie umgesetzt. Verantwortlich dafür war eine Kombination aus schwächerer Stellung der Betriebsräte und vielerorts Unwillen oder Unfähigkeit, damit umzugehen. Solche Tarifverträge sind in der heutigen Zeit kaum noch vorstellbar, waren sie doch eindeutig auf Ausweitung von Rechten angelegt. Abschließend bleibt festzuhalten, dass sich die Arbeit eines Betriebsrates, seine Haltung in betrieblichen Auseinandersetzungen in erster Linie daran messen muss, ob versucht wird, alles Denkbare und manches Mal auch ganz Neues zu unternehmen, um die Belegschaft selbst zu mobilisieren, für ihre eigenen Ziele und Interessen – eben gerade jene, bei deutschen Gewerkschaften so beliebte »professionelle Interessenvertretung« nicht etwa abzuschaffen, sondern – aufzuheben... * Helmut Weiss ist Redakteur des Labournet Germany. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9/10. express im Netz unter: www.express-afp.info , www.labournet.de/express 1) Oft stand die Unternehmensmitbestimmung sowohl im Zentrum der Bestrebungen des Gewerkschaftsapparates als auch im Zentrum der Kritik der Gewerkschaftslinken; Thema war hier vor allem die Einbindung in Unternehmensentscheidungen, die ständige Gefahr der Korruption etc. |