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Updated: 18.12.2012 15:51
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Die Vollendung des Binnenmarkts: Chaos für alle?

Am 23.10. hat der Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments die EU-Dienstleistungsrichtlinie, bekannt unter Bolkestein, verabschiedet.

Ob das Plenum den vorliegenden, im Juli von EU-Kommission und Ministerrat verfassten Textvorschlag bei der 2. Lesung Mitte November durchwinken wird, bleibt abzuwarten.

Denn viele der Änderungen, auf die sich die Mehrheit der ParlamentarierInnen im Februar geeinigt hatten, haben Kommission und Rat gestrichen. So liegt jetzt eine Dienstleistungsrichtlinie vor, die viele Rechtsunsicherheiten birgt, was auch vom DGB heftig kritisiert wird.

Angesichts harscher Gewerkschaftskritik an der Richtlinie, die in den Stellungnahmen zur Bolkestein-Anhörung im Wirtschaftsausschuss des Bundestags am 16.10. geübt wurde, ist es unbegreiflich, dass das Thema Bolkestein auf den großen Demonstrationen am 21.10. kaum vorkam.

In seiner Stellungnahme stellt d er DGB fest, dass "Bestandteile der Dienstleistungsrichtlinie - etwa die Ausnahme bestimmter strafrechtlicher Verfolgung - nicht mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar sind". Der DGB kritisiert insbesondere die fehlende Garantie fundamentaler Arbeitnehmerrechte und sozialer Grundrechte, die im Kompromißvorschlag der Sozialistischen und Konservativen Fraktionen im Europäischen Parlament vom Februar enthalten waren, nun aber nicht mehr auftauchen. Der DBG fordert, dass in der 2.Lesung des Europäischen Parlaments die ursprüngliche Formulierung mit Hinweis auf die Grundrechtecharta wieder eingefügt werden soll. Auch sollen alle ,Dienstleistungen von allgemeinem Interesse', darunter fallen der Bildungs- und Gesundheitssektor sowie der soziale Bereich, aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herausgenommen werden..

Verdi kritisiert ebenfalls die mangelnde "Rechtssicherheit" für Dienstleister und Verbraucher. In der Stellungnahme heißt es, dass "die Rechtssicherheit und die Gleichheit vor dem Gesetz akut gefährdet ist", da in jedem Land "künftig 27 verschiedene Rechtssysteme in 22 Sprachen nebeneinander gelten". Damit greift die Richtlinie "tief wie nie zuvor in die nationale Souveränität und die künftigen Gestaltungsmöglichkeiten der Gesetzgeber, aber auch der Rechtssprechung" ein. Aufgrund der Machtfülle der EU-Kommission, stellt Verdi ihre demokratische Legitimation in Frage; EU-Kommissare werden bekanntlich nicht gewählt, sondern von den Mitgliedsstaaten bestimmt. Indirekt wird damit auch die zunehmende Aushöhlung demokratischer Prinzipien auf EU-Ebene beklagt.

Nach Auffassung von Verdi verletzt die Richtlinie das Prinzip der Subsidiarität und verstößt damit gegen die EG-Verträge, die den Mitgliedsstaaten "die ausschließlichen Zuständigkeiten bei Gesundheit, Sozialen Diensten, Bildung und Kultur" garantiert. Verdis Kritik gipfelt in der Anklage, dass die politisch Verantwortlichen "ein Europa des Lohn- und Sozialdumpings" mit "steigender sozialer und ökonomischer Unsicherheit" akzeptieren, wodurch die "weit verbreitete Europamüdigkeit zur offenen Europaverdrossenheit" in der deutschen Bevölkerung umschlagen könnte.

Die IG Bau, die Gewerkschaft, die in der Vergangenheit die Dienstleistungsrichtlinie schon heftig bekämpft hat, sieht Deutschland als einer der "grossen Verlierer dieses Liberalisierungsvorhabens". Der Wettbewerb zwischen Dienstleistungsunternehmen aus 27 Ländern wird ihrer Auffassung zu einem großen Billigangebot von Dienstleistungen in Deutschland führen, so dass Preise wie Löhne sinken, was sich wiederum negativ auf die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und sukzessiv auf einen weiteren Rückgang der Inlandsnachfrage auswirken wird.

Für die IG Bau verstößt die Rahmenrichtlinie "in mehrfacher Hinsicht gegen Geist und Buchstaben der Europäischen Verträge und wirft eine ganze Reihe rechtssystematischer Probleme auf". Eine Umwandlung der Richtlinie in nationales Recht erforderte mehrere Grundgesetzänderungen, so das Fazit der IG Bau.

Angesichts der fundamentalen Gewerkschaftskritik zu Bolkestein ist zu hoffen, dass die öffentliche Diskussion über die Dienstleistungsrichtlinie wieder in Gang gesetzt wird und die Proteste verstärkt aufgenommen werden. Dazu braucht es auch Unterstützung der Medien, die dieses Thema in den letzten Monaten sträflich vernachlässigt haben.

Protest allein reicht aber nicht, sondern Politik und Wirtschaft verlangen von Gewerkschaften und Zivilgesellschaften Alternativen - wie etliche Politiker nach den Demonstrationen am 21.10. forderten.

So sei hier eine Richtlinie vorgeschlagen, die alle öffentlichen Güter (öffentlicher Verkehr, Wasser-, Abwasser- und Energieversorgung) und Dienstleistungen (Bildung, Gesundheit) auf europäischer Ebene vor Privatisierung und Deregulierung schützt; die die Harmonisierung der Arbeits-, Qualitäts-, Verbraucher- und Umweltschutzstandards auf höchstem Niveau als ein Herzstück des Europäischen Binnenmarktes vorantreibt. Statt Wettbewerb um die niedrigsten Steuern, Sozial-, Lohn- und Arbeitsstandards sollte ein Wettbewerb um die höchsten Standards ausgerufen werden.

Eine derartige Richtlinie wäre geeignet, um eine EUropa-freundliche Stimmung und ein soziales und ökologisches Europa zu entwickeln. Damit wäre der Grundstein für ein europäisches Sozialmodell gelegt, das durch Einsparungen von EU-Subventionen für Großkonzerne - auch für Verlagerungen von Produktionsstätten und Arbeitsplatzabbau -finanziert werden könnte. Eine derartige Richtlinie würde sicherlich bei vielen Europäerinnen und Europäern auf Sympathie stoßen und wäre auch geeignet, um der weitverbreiteten Politik- und EU-Verdrossenheit konstruktiv zu begegnen.

Annette Groth, Oktober 2006


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