letzte Änderung am 18. Juni 2003

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Entschleunigungsbedarf

Aufstehen für bessere Zeiten – ein Gespräch über das Leben »rund um die Uhr« (Teil II)

In Teil I der Diskussion sprachen wir mit Anton Kobel über die Hintergründe der aktuellen Ladenschlussdebatte, die ver.di-Demonstration in Berlin und die Erfahrungen mit der bisherigen Flexibilisierung der Öffnungs- und Arbeitszeiten. Im zweiten Teil geht es um Alternativen zur Deregulierung der Arbeitszeiten, wie sie z.B. Ulrich Mückenberger, Professor für Arbeits- und Europarecht an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik, unter dem Stichwort »kommunale Zeitpakte« in seinem Gutachten für den Bundestag vorgestellt hat, und damit um die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine »souveräne« Verteilung von »Zeitwohlstand« und »Zeitstress«.

 

Das Argument, dass Demokratie gemeinsame Zeit braucht, könnte man natürlich auch noch mal gegen die Kapitalinteressen selbst wenden: Ulrich Mückenberger, der im Bundestag bei einer Anhörung zum Ladenschluss als Sachverständiger aufgetreten war, macht das zum Teil. Er sagt zunächst, wir haben dieses Demokratie- und Zeit-Problem, dem müssen wir uns vor allen anderen Problemen stellen. Die ganze Auseinandersetzung um Deregulierung versus Festhalten an staatlichen, sprich bundeseinheitlichen, gesetzlichen Regelungen sei in gewisser Weise ideologisch, weil das, um was es im Kern gehe, das Verhältnis von Zeitwohlstand und Zeitstress sei. Das müsse »zivilgesellschaftlich« anders verteilt werden, damit gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen vorgebeugt werde. Und da ist ein ganz wesentliches, strategisches Argument, mit dem er seine zivilgesellschaftliche Argumentation stützen will, zu sagen: Wenn es überhaupt keine gemeinsamen Zeiten mehr gibt, dann fallen die Leute auch – jetzt in meinen Worten – »im Kapitalinteresse« aus, werden »am Konsum gehindert«. Würde man die von Dir erwähnte Kapital-Argumentation zur Sonntags-Öffnung zu Grunde legen – also: das ist der Tag, der die meisten Umsatzzuwächse verspricht, weil er bislang arbeitsfrei ist – und dieses Modell verallgemeinern, indem man die Betriebsöffnungszeiten in Richtung »rund um die Woche ausdehnt«, dann wird das eben genauso ein Tag, wo viele auch als KonsumentInnen ausfallen. Es ist zwar nicht meine Perspektive: auszurechnen, was es an Umsatzeinbußen kostet, wenn man die Ladenöffnungszeiten verlängert. Das können und werden die Ökonomen unter sich diskutieren. Aber: Seine These, dass es sich bei dem Streit um Regulierung/Deregulierung zwischen Gewerkschaften und Kapital um eine »ideologische« – hier wohl im Sinne von überflüssig gemeint – Auseinandersetzung handele und dass eine andere Verteilung von Zeitwohlstand und Zeitstress möglich sei, fußt darauf, dass es eine Entkopplung von Betriebsnutzungs- und Arbeitszeiten jetzt bereits gebe. Das ist in der Tat nichts Neues und hat sich nicht erst mit dem verlängerten Samstag ergeben. Seine These ist jedoch: Gerade diese Entkopplung, also die im Verhältnis zur Arbeitszeit verlängerten Öffnungszeiten, mache es technisch möglich, dass die Beschäftigten wieder ›mehr Zeit gewinnen‹. Wie sind denn die bisherigen Erfahrungen mit dieser ›technischen Möglichkeit‹ der Regelung von so etwas wie Zeitsouveränität oder -wohlstand?

Also in einer Marktwirtschaft entscheidet am ehesten derjenige, der am stärksten ist. Das ist in der Regel das Kapital mit seinen Führungskräften, weniger der Einzelne mit seinem Arbeitsvertrag. Das weiß Ulrich Mückenberger, und er schreibt es auch selbst. Bei der Frage, ob dies die Betriebsräte regeln sollen, muss man wissen, in wie vielen Betrieben es überhaupt keine Betriebsräte gibt. Damit fällt auch dieses Element kollektiverer Mitbestimmung weg. Wenn man das derzeitige Betriebsverfassungsgesetz nimmt – da gibt es keine echte Mitbestimmung, weil dort in der Regel eine Einigungsstelle, ein Arbeitsrichter am Ende entscheidet, wie wann wo und wie lange gearbeitet wird.

Ist sein Ansatz nicht etwas technisch gedacht? Wir haben, maximale Tagesöffnungszeit zu Grunde gelegt, 24 Stunden – da wird schon für jeden etwas dabei sein an Arbeitszeit, die er sich aussuchen kann, und in der restlichen freien Zeit kann er dann machen, was er will, z.B. die Innenstadt beleben.

Es gibt, auch bei uns, die Erfahrung, dass stark organisierte Belegschaften mit starken Betriebsräten eine echte Mitbestimmung entsprechend der Interessen der Beschäftigten bei der Lage der Arbeitszeit hinkriegen. Aber das sind Einzelbeispiele. Die generelle Linie ist, dass das Kapital den Rahmen vorgibt und dass dann die Not verwaltet wird. Weil das bestimmende Herrschaftsverhältnis immer noch das von Kapital über die Beschäftigten ist. Und im Einzelhandel ist nicht so sehr eine neue Idee wichtig, sondern die Konkurrenz. Wenn der Laden nebendran aufmacht, dann ist bei Strafe des Untergangs erforderlich, dass der andere, auch der gut organisierte Laden, mitzieht. Da habe ich schon Betriebsräte heulen sehen. Die Strukturelemente dieser Gesellschaft, Konkurrenz, Kapitalherrschaft, die Tendenz zur reellen Subsumtion von allem, sind wesentlich bestimmender, als das, was Ulrich Mückenberger in seinen Überlegungen als Hoffnung zugrunde legt – oder als Option formuliert. Damit rede ich nicht gegen notwendige Runde Tische, wo man Zeiten aufeinander abstimmt. Natürlich muss der öffentliche Nahverkehr funktionieren, wenn die Läden bis 20 Uhr aufhaben, etc. Da haben wir auch eigene Erfahrungen. Aber das ist in der Tat ein technisches Problem: Wie kriege ich unter gegebenen Bedingungen eine entsprechende Versorgung hin? Für mich bleibt jedoch immer noch die eine Frage: Warum reicht denn nicht die technische Ausgestaltung von Samstags-Öffnungszeiten bis 15 oder 16 Uhr? Warum sagen wir nicht: Die Menschen sollen selbstbestimmt in ihren Vierteln, Straßen, Familien, Freundschaften, Vereinen, Gruppen etc. das freie Wochenende selbst gestalten? So wie Ulrich Mückenberger das will. Warum sollen wir sagen: Das soll im Kapitalismus stattfinden?

Insoweit basiert sein Modell natürlich auf bestimmten Prämissen. Er nimmt als gegeben an: Es ist unausweichlich, die Betriebsnutzungszeiten auszuweiten, und jetzt schauen wir mal, wie wir das verwalten. Bevor wir auf die Alternativmodelle, die er in Anlehnung an italienische Beispiele vorschlägt, eingehen, noch ein zweites Argument von ihm: Die Entkopplung bietet auch die Möglichkeit zu Mehreinstellungen. Es muss eine größere Strecke abgedeckt werden, und ggf. reicht das vorhandene Personal dafür nicht aus. Dieses Arbeitsplatzargument war wenigstens implizit in den Entwürfen der drei Parteien auch immer enthalten, neben der erhofften Steigerung der Umsatzzahlen.

Das sind reine Logeleien, die mit der Realität nichts zu tun haben. Die Unternehmen funktionieren anders. Dort wird festgelegt: Um die Rendite x zu sichern, dürfen die Personalkosten einen Prozentsatz x vom Umsatz nicht überschreiten. Wenn der individuelle Umsatz des Unternehmens steigt, kann mehr Personal eingestellt werden, wenn nicht, dann wird zentral entschieden, wie bei Kaufhof z.B.: Statt 12,5 Prozent Personalkosten wollen wir nur noch 11 Prozent, dann wird eben Personal abgebaut. Und die Personaldecke wird gezogen. Wie im kalten Winter im Bett: Es fehlt immer irgendwo ein Stück Decke. Die Kehrseite dieser Logeleien ist derzeit sichtbar. Jeder, der einkaufen geht, vermisst Bedienungspersonal, Beratungsservice, schimpft über die Schlangen an der Kasse. Es fehlt Fachpersonal, weil Fachpersonal bei diesen Arbeitszeiten auch wegläuft. Auch das sollten die alle mal berücksichtigen. Wer gehen kann und nicht unbedingt im Einzelhandel arbeiten will, vom müssen ganz zu schweigen, der geht.

Das heißt, die berühmte Dienstleistungsoffensive am Standort Deutschland, die man meint, damit vorantreiben zu müssen, geht eher nach hinten los?

Die muss bezahlt werden. Wenn es sich z.B. herausstellen sollte, dass die Läden samstags mittags, um im Beispiel zu bleiben, nach 16 Uhr einen Apothekenzuschlag – doppelt so viel –, oder den Tankstellenzuschlag – drei mal so viel – verlangen würden, damit das Personal bezahlt werden kann, dann kann man den Aufschrei der Vertreter der Dienstleistungs- und Konsumoffensive schon hören. Das Argument geht andersrum: In der Konkurrenz – ich bringe das immer wieder, weil das das zentrale Prinzip ist im Einzelhandel – geht es um andere Größen. Es bleibt dabei: Gegen die Orientierungsgröße des Kapitals – die Umsatzzeiten – stehen die Freizeiten der Beschäftigten. Das ist und bleibt ein Riesenproblem.

Das erinnert mich daran, dass in den entsprechenden Stammtischdebatten, die solchen politischen Prozessen auch zugrunde liegen, neben dem Verweis auf die Konsum-Interessen und ökonomischen Argumenten ein weiteres Argument zentral benutzt wird, nämlich das der Eigeninteressen der Beschäftigten an flexiblen Arbeitszeiten: untypische Erwerbsarbeitsverhältnisse, komplizierter werdende Familien- und Beziehungsformen, sich verändernde Lebensentwürfe, all diese Phänomene, die auch ein Bedürfnis nach flexiblerer Gestaltung der Arbeitszeit, z.B. an der Lage der Arbeitszeiten, mit sich bringen. Wie beurteilst Du das?

Natürlich gibt es einzelne Leute, die sagen, ich kann Samstags mittags am besten arbeiten. Aber das werden bundesweit noch keine 50000 sein. Es gibt tatsächlich kaum eine Branche, in der der Flexibilisierungsrahmen für die persönlichen Arbeitszeiten größer ist: von sechs bis 20 Uhr. Faktisch kriegst Du im Einzelhandel aber vormittags gar keinen Job mehr angeboten. Die Teilzeit-Arbeiten vormittags, wo die Frau arbeiten geht, weil das Kind im Kindergarten unterkommt, sind extrem selten. Denn da kommen zu wenig Kunden. Da braucht man gar keine Leute. Die Arbeitszeiten werden an den Umsatzzeiten orientiert. Wenn die Leute zum Einkaufen kommen, also nachmittags ab 16 Uhr 30, dann werden da Arbeitskräfte eingesetzt. Wenn Freitag der Umsatztag wäre, dann hätte das Kapital ein Interesse daran, dann die Leute einzusetzen. D.h. der Flexibilisierungsrahmen ist ideell sehr groß – 80, jetzt 84 Stunden – materiell, von den Herrschaftsverhältnissen her aber total eng: Das folgt nämlich den Hauptumsatzzeiten. Das kannst Du überall beobachten.

Du hast Arbeitszeitpläne im Textileinzelhandel, wo Montag bis Mittwoch kaum Leute beschäftigt sind, weil da kaum Klamotten eingekauft werden. Das heißt, es gibt auch hier mehr Logeleien und ideologische Verbrämungen als den Umgang mit der Realität.

Wenn es so ist, dass es letztlich immer einen Konflikt gibt darum, dass es ökonomisch funktional gesetzte Orientierungsdaten gibt und hier wiederum nicht davon auszugehen ist, dass die Leute alle zu diesen Zeiten können, oder andersherum: gewünschte Arbeitszeiten knapp sind, weil sie nicht im Haupt-Interesse des Kapitals liegen, dann läuft das insgesamt auf die Frage hinaus, wie überhaupt ein Schutz vor der völlig flexibilisierten und damit im Prinzip totalen Verfügung über die eigene Arbeits- und damit auch Lebenszeit gewährleistet werden kann. Mückenberger sagt selbst, ähnlich wie Du vorhin, dass schon die Aushandelung über die bloße Lage der Arbeitszeiten extrem schwierig sei, wobei er auf eine 1999 erschienene Studie von Jacobsen/Hilf verweist, nach der nur 5,8 Prozent aller Einzelhandels-Beschäftigten einen BR hätten und nur 15-30 Prozent, die unter Tarifvertrag arbeiten. Wenn das so ist, dann setzt das enge Grenzen für den Versuch, dem Verfügungsanspruch des Kapitals etwas entgegenzusetzen. Sein Vorschlag: ein gesetzlicher Anreiz für die Aufnahme von Verhandlungen. Er nennt das ein Tarifvertrags- oder Betriebsvereinbarungsdispositiv. Wenn ich richtig verstanden habe, will er damit ein Modell verankern, mit dem es einen Zwang zu Verhandlungen über die Arbeitszeitfrage geben soll, in deren Rahmen dann die möglichst wenigen substanziellen Vorgaben des Gesetzgebers »lokal angepasst« werden könnten, eine Art kommunale Öffnungsklausel also. Falls es nicht zu Verhandlungen käme, sollten gesetzliche Sanktionen greifen. Interessanterweise sagt er nicht, um welche Sanktionen es sich hierbei handeln könnte.

Er sagt auch nicht, welche gesetzliche Regelung...

... das fällt außerhalb des Gutachtens.

... weil die konkrete Ausgestaltung etwas mit Macht in der Gesellschaft zu hat. Abstrakt kann ich alles bzw. vieles sagen.

Gibt es für solche Ideen denn bereits Ansätze im bestehenden gesetzlichen Rahmen, auf Tarifvertrags- oder Betriebsvereinbarungsebene?

Wenn man in diese Richtung denkt, dann könnte so etwas nur auf gesetzlicher Ebene verankert werden – angesichts der relativ geringen Anzahl von Betriebsräten und ihrer strukturellen Schwäche aufgrund der Gesetzeslage, und Vergleichbares gilt wie gesagt auch für die tarifliche Ebene, wo wir die Deregulierung der Tarifverträge und deren geringe Verbindlichkeit durch die Deregulierung der Arbeitgeberverbände haben. Da stellt sich natürlich die Frage der Sanktionen: Wer wird initiativ? Wer muss sich daran halten? Und vor allen Dingen: in welchem Rahmen? Es müsste zunächst der Wirtschaftsraum und der entsprechende gesellschaftliche Raum definiert werden, für den jeweils verhandelt wird. Wenn eine solche Regelung nur für eine Stadt gelten würde, dann ergäbe sich sofort das Problem, was nebendran passiert. Wird dann dort wieder neu angesiedelt? Wir hätten hier nämlich ein ähnliches Phänomen wie bei der Gewerbesteuer, wo wir die Standortkonkurrenz der Kommunen berücksichtigen müssen. Es müsste also definiert werden, um welche Räume es sich handelt und dann, was in diesen geregelt werden soll: die Kindergärten? die öffentlichen Nahverkehrsmittel? und das jeweils mit allen gesellschaftlichen Kosten?

Ulrich Mückenbergers Argumentation kann man ja auch nach vorne treiben. Man könnte sagen, ein solches Modell ist noch viel arbeitsplatzwirksamer, als er beschreibt, denn die Kindergärten müssten auch Samstags oder unter der Woche bis 20 Uhr, von morgens um sechs an geöffnet sein. Sie sind es nicht, weil die Kommunen jetzt schon pleite sind. Und ob die KindergärtnerInnen alle ein Interesse daran haben, samstags bis 20 Uhr zu arbeiten? Jedenfalls werden wir mit diesem Modell bei der »Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft« landen. Die Beschäftigten des Einzelhandels, ihre Betriebsräte und ver.di werden darum kämpfen müssen, dass unsere Leute, wenn sie schon rund um die Uhr arbeiten müssen, auch zumutbare öffentliche Verkehrsmittel bekommen, die sie zur Arbeit und nach Hause bringen. Damit sie nicht nach Dienstschluss noch zwei, drei Stunden brauchen, bis sie zu Hause sind, wegen der schlechteren Taktzeiten am Abend und in der Nacht. Ein solches Konsensmodell muss also sehr viel berücksichtigen. Ich halte das für intellektuell reizvoll. Wir haben das 1996 in Mannheim mit vier Runden Tischen probiert, all die verschiedenen Notwendigkeiten aufeinander abzustimmen. Wir haben dabei aber eine ganz wichtige Erfahrung gemacht: Es war kein einziger Vertreter der Einzelhandels-Unternehmen dabei – weder des Verbandes, noch der einzelnen. Die hat nicht interessiert, ob die Frauenbeauftragte dabei war, sie hat nicht interessiert, ob die Bürgermeister-Vertretungen von Mannheim, Viernheim und Heidelberg dabei waren, ob die Polizei mit am Tisch saß... Die haben gesagt: Die Öffnungs- und das heißt Umsatzzeiten entscheiden wir, nach Konkurrenzlage, nach Interessen etc., und zwar zentral.

Das spielt jetzt auf Mückenbergers Alternativ-Vorschläge zur Regulierungs-/Deregulierungskontroverse um die Ladenöffnungszeiten in seinem Bundestags-Gutachten an: Den Versuch, die Wiederbelebung der Innenstädte zum zentralen Gegenstand der Debatte zu machen und damit indirekte Wege zu mehr Konsum, mehr Wachstum, etc. aufzuweisen, indem alle im Sinne des vorhin skizzierten Gedankens der gerechteren Verteilung von Zeitwohlstand und Zeitstress ihre »Interessen« einbringen könnten: arbeiten, kaufen, verkaufen..., darauf beschränkt es sich ja. Den Hintergrund seines Vorschlags, eine gesetzliche »Experimentierklausel« einzuführen, auf deren Grundlage dann kommunale Runde Tische eingerichtet werden, bilden italienische Erfahrungen: Zeitpakte in lokalen Zeitämtern, Zeit-Leitpläne etc. Er beschreibt, dass es 1991 zu Änderungen des italienischen Kommunalverfassungsgesetzes kam, in denen vorgeschrieben wurde, dass in den Kommunen Runde Tische gebildet werden – mit Erscheinungszwang. Bezogen auf die Bundesrepublik schlägt er nun »lokale Zeitpakte« vor, die von tripartistisch besetzten Runden Tischen verabschiedet werden sollen. Dabei sollten jeweils zu gleichen Teilen Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände sowie KonsumentInnen und andere lokale Interessengruppen vertreten sein. Sein Modell basiert also genau darauf, dass es ein gesetzliches Sanktionsinstrument zur Aufnahme von Verhandlungen auf kommunaler Ebene gibt.

Darüber hinaus stellt sich aber die Frage: Kann so etwas funktionieren auf kommunaler Ebene? Du hattest die Konkurrenz der Städte um die Ansiedlung der so genannten »grüne Wiese-Projekte« bereits angesprochen. Darin kommt vor allem deren Hoffnung auf eine mittelfristige Verbesserung ihrer steuerlichen Einnahmesituation zum Ausdruck, so dass die Ansiedlung solcher Unternehmen in der Regel begleitet ist von entsprechenden Dumping-Angeboten bei den Grundstücken, Subventionen und Infrastrukturmaßnahmen für die Ansiedlung, Ausnahmeregelungen bei den Öffnungszeiten, Sonderverkaufsaktionen etc., zunächst also die Kommunen erst mal viel Geld kostet. Wie beurteilst Du vor diesem Hintergrund seinen Vorschlag, der ja auf eben diese kommunalen Räume zielt, die bereits jetzt in Konkurrenz gesetzt sind? Müsste nicht der gesetzliche Rahmen mehr als einen formalen Verhandlungszwang, das heißt letztlich doch substantielle Normen vorgeben, die diese kommunale Konkurrenz begrenzen?

Wir verfolgen seit etwa zehn Jahren interessiert die Studienergebnisse und Veröffentlichungen von Ulrich Mückenberger und waren in den 90er Jahren auch ein wenig an den Diskussionen beteiligt. Es bleiben jedoch sehr viele offene Fragen. Stichwort »Verödung der Innenstädte«. Was ist die Innenstadt? Ist Innenstadt da, wo die großen Kaufhäuser sind? Oder ist die Innenstadt das Zentrum des Stadtteils, in dem ich lebe, mit Familie oder Freunden und Bekannten? Was soll an den Innenstädten lebenswert sein? Die Kinos in den Innenstädten z.B. nehmen zusehends ab, auch die entstehen ›draußen‹. Die Kneipen? Auch die sterben in den Innenstädten – weil dort kaum noch Menschen leben. Und umgekehrt: Diejenigen, die noch dort leben, haben nicht unbedingt ein Interesse daran, dass die ›von außen‹ alle kommen und ›die Innenstadt beleben‹. Denn hier stellt sich wieder das Problem, dass diejenigen, die von außen kommen und ins Theater, ins Kino oder in die Kneipe wollen, natürlich direkt davor parken wollen, um nachts wieder zurück zu kommen – solange es keine zumutbaren öffentlichen Nahverkehrsverbindungen gibt. Daran haben wiederum die Bewohner der Innenstädte nicht unbedingt ein Interesse. Das heißt: All diese Interessen, die hier aufeinander prallen, gilt es dann zu diskutieren.

Dann haben wir stadtauf, stadtab eine heftige Debatte um das Problem fußläufig erreichbarer Einkaufsmöglichkeiten. Wo können wir Alten einkaufen? Wo können die Behinderten einkaufen? Wo können Frauen – oder Männer – mit ihren kleinen Kindern einkaufen? Wo können die einkaufen, die keine PKW oder öffentliche Nahverkehrsmittel haben? Wir haben es hier viel mehr mit dem Problem der Verödung der Stadtteile, der Wohnsiedlungen, nicht so sehr der Innenstädte zu tun. In den Innenstädten gibt es wesentlich mehr Einkaufsmöglichkeiten als in den Schlafstädten oder den Umlandgemeinden.

Die Diskussion ist, um es mal ein bisschen polemisch zu formulieren, die Diskussion, die Ende der 70er, Anfang der 80er in Italien begonnen wurde, allerdings ohne den strukturellen Wandel der Innenstädte, der seitdem in Deutschland stattgefunden hat, zu berücksichtigen.

Und dann, nehmen wir mal das Beispiel Mannheim, haben wir beispielsweise folgende Situation. Mannheim ist Teil von Baden Württemberg. Über den Rhein drüben ist Ludwigshafen, Teil von Rheinland-Pfalz. Beide haben keine gemeinsame Kommunalverfassung, keine einheitliche Gewerbesteuer-Grundlage etc. Auf der anderen Seite ist Viernheim, Hessen, mit einem großen Einkaufszentrum, das nicht zufällig da draußen liegt. Was also soll auf dieses Beispiel bezogen Innenstadt heißen? Drei selbstständige Städte in drei selbstständigen Bundesländern. Auch hier kann die Wiederbelebung der Innenstädte nicht funktionieren, so lange draußen‚ auf der ›grünen Wiese‹, solche Einkaufs-Zentren entstehen, in denen es alles unter einem Dach gibt, Kinos und Kneipen dazu kommen. Denn damit entsteht eine Konkurrenz zwischen Innenstadt und diesen Gebieten. Da belebt man über den Einzelhandel der Innenstädte nichts. Die Leute strömen, sobald die Läden schließen, nach Hause – und zwar vor allen Dingen die Beschäftigten. Schon jetzt gibt es kaum noch Umsätze zwischen 19 und 20 Uhr unter der Woche.

Ein Indiz ist zumindest, dass es offenbar noch nicht einmal den Einzelhandelsverbänden gelingt, sich in den Umsatzmeilen auf gemeinsame Öffnungszeiten zu einigen, obwohl es immer hieß, dass davon alle Vorteile hätten, denn: Einigt man sich auf solche gemeinsamen Öffnungszeiten nicht, dann wissen die Leute nicht, ob es sich lohnt, überhaupt in die Stadt zu fahren, sie haben zumindest keine Garantie. Hier haben die Einkaufszentren eindeutige Vorteile.

Ja, da hast Du alles: die Bank, die Reinigung, eine Apotheke, den Einzelhandel mit seinen ganzen Geschäften, kostenlose Parkmöglichkeiten – auch das ist immer noch ein Argument. Wir haben vor fünf Jahren in der Innenstadt Heidelbergs für die vier entscheidenden Einkaufsstraßen rund um die Hauptstraße die Einkaufsmöglichkeiten durchgezählt und sind dabei auf über 200 verschiedene betriebliche Öffnungszeiten gekommen – z.B. von 6 bis 18, von 9 bis 20, von 10 Uhr 30 bis 20. Du brauchst inzwischen also einen Einkaufszeitenplan für die Geschäfte, der die Fahrpläne im Öffentlichen Nahverkehr ergänzt – und dann noch die Öffnungszeiten der Parkhäuser dazu.

Das muss man einfach wissen, wenn man den Rahmen für die Ladenöffnungszeiten vergrößert: Das heißt nämlich nicht, dass alle dann auch aufmachen. Denn die Unternehmen orientieren sich zunächst an ihren individuellen Kosten und Umsätzen. Deshalb jammern auch und gerade die Kleinen, die Familienbetriebe – die im Übrigen vielfach gegen das neue Gesetz waren. Die können mit ihren 2-3 Beschäftigten die Läden gar nicht offen halten, auch wenn die Konkurrenz nebenan es macht, weil sie wissen, dass sie nicht mehr Umsatz machen, aber ihre Personalkosten steigen würden. In dem Widerspruch stecken sie.

Das klingt so, als wolltest Du sagen: Der Versuch, das Thema Wiederbelebung der Städte und damit verbunden »gemeinsame Zeit« über die Ladenschlussdebatte aufzuzäumen, sei der verkehrte Weg. Wenn es einem eigentlich um die Notwendigkeit gemeinsamer freier Zeit, d.h. um das notwendige Substrat der Demokratie, wie Du es vorhin angedeutet hast, geht, und Mückenbergers Anliegen ist es ja, »zivilgesellschaftliche« Ansätze zur Lösung der festgefahrenen Ladenschlussdebatte stark zu machen und zugleich zu sagen: Das hilft uns auch bei der Wiederbelebung der Städte, das hilft uns bei der allseitigen Vereinbarkeit von Interessen – wobei er dabei erstaunlich wenig über den Zusammenhang von Ökonomie und Macht redet – warum dann über den Umweg der Flexibilisierung von Ladenschlusszeiten? Oder noch schärfer: Taugt der Gaul, auf den er setzt, um seine eigenen Anliegen überhaupt zu tragen? Höre ich das richtig heraus bei Dir?

Ja, und zwar nicht deswegen, weil ich gegen eine Wiederbelebung der Innenstädte wäre, sondern weil die Erfahrungen dagegen sprechen. Die Belebung findet statt, wenn es Interessen von Menschen gibt, sich zu treffen – in einem bestimmten Raum, zu einer bestimmten Zeit. Und warum sollten das notwendig die Innenstädte sein? Die sind doch alle gleich. Wenn Du heute in einer der so genannten »Innenstädte« aufwachst, z.B. in Heidelberg, und morgen in Mannheim und übermorgen in Frankfurt, dann weißt Du nicht mehr genau, wo Du bist, weil die Läden alle gleich sind.

Das heißt: Wenn es über Konsum läuft, und das ist ja das Argument, dann gibt es Konsum nicht nur im Einzelhandel, sondern in viel mehr Bereichen. Und dann muss der Konsumtempel des Einzelhandels mit anderen Konsumtempeln in dieser Gesellschaft konkurrieren. Das heißt, diese verschiedenen gesellschaftlichen Konsumwelten müssten, mit enormen gesellschaftlichen Kosten, gegeneinander konkurrieren um den selben Geldbeutel der selben Menschen. Aber: Es geht um Konsum. Und da verstehe ich u.a. auch Ulrich Mückenberger nicht, dass er diesen Aspekt des Konsumerismus nicht beachtet, gerade nach all dem, was er sonst schon geschrieben hat in seinem Leben. Warum über Konsum? Warum reden wir nicht über freie Zeit?

Das beruht darauf, dass man davon ausgeht, das Konsuminteresse sei zugleich auch ein zivilgesellschaftliches Interesse. Das entspringe der Vielfalt der Interessen, die Menschen in ihrem Alltag hätten, und dieser Alltag, da wird so getan, als ob es gleich wichtige und gleich bedeutende Interessen gäbe. Da ist mir nicht ganz einleuchtend, warum man nicht direkt über die Frage der, altmodisch gesprochen, demokratischen Willensbildung redet. Es ist eine Frage, wenn man sich über die Verschiedenheit von Konsuminteressen und deren mögliche Realisierungschancen unterhält. Und es ist eine andere, sich über die Realisierung von Demokratie und »selbstbestimmter Gestaltung des eigenen Lebensraumes« zu unterhalten.

Ja, wir sind uns aber an der Stelle einig. Das hängt damit zusammen, dass die Konsumtempel für die verschiedenen Konsuminteressen eben nicht mehr nur in der Innenstadt liegen. Lass uns doch mal die verschiedenen Städte angucken, wo wie um was geworben wird. Und es hängt auch mit der Mobilität und der Motorisierung in dieser Gesellschaft zusammen. Und guck Dir die Museumsnächte an – nichts dagegen –, und diese und jene und solche Nächte. Das sind alles Versuche, sich in der Standortkonkurrenz gegenseitig zu überbieten. Man bewegt sich aber schlicht und ergreifend in der Konkurrenz. Man bewegt sich nicht in einem Gegenmodell zur Konkurrenz, wo man sagen würde: Lasst uns doch mal Schluss machen. Lasst uns doch mal entgrenzen. Da sind in meinen Augen die Kirchen mit ihren Interessen, die da kommen, viel menschennäher als diese Argumentation, die sich auf Wirtschaftsstrukturen und daraus sich ergebende Notwendigkeiten konzentrieren, z.B. Zeiten abzustimmen. Ich will damit nicht sagen, dass es nicht ein sehr reizvoller Prozess mit großen Notwendigkeiten ist, Zeiten abzustimmen.

Es ging ja auch weit darüber hinaus, und nicht umsonst findet man in der Langfassung seines Gutachtens hinter dem, was dann tatsächlich Gesetz wurde, nämlich das tripartistische Modell der Runden Tische, den Hinweis auf ein Volksbegehren, das von der italienischen Frauenbewegung initiiert wurde. Da wurde zunächst in eine andere Richtung argumentiert. Er zitiert selbst aus dem Entwurf zu dem Volksbegehren, das unter dem Motto stand: »Die Frauen verändern die Zeiten. Lebenszyklus, Arbeitszeit, Zeiten der Stadt.« Dieser Versuch verfolge das »ambitiöse Ziel, im städtischen Bereich Arbeitszeiten, Schulzeiten, Transportzeiten, Kinderbetreuungszeiten, Öffnungszeiten so aufeinander abzustimmen und zu verändern, dass sie mit den alltäglichen Lebenslagen der Bürgerinnen der Stadt vereinbar würden«. Lebenslagen, so könnte man argumentieren, ist etwas ganz anderes als das, was – und hier schließt sich der Kreis – im Regierungsentwurf als Dienstleistungsorientierung und Erlebnischarakter bezeichnet wurde. Das ist ein viel weiterer Begriff, der in der Tat das Reden darüber, wie denn und ob überhaupt Vereinbarkeit zwischen Leben und Arbeit möglich ist. Ich denke, so etwas könnte man nicht so einfach in einen Gesetzesentwurf gießen...

... wobei ich denke, dass sich die Überlegungen von Ulrich Mückenberger wohltuend unterscheiden von dem modernistischem Geschwätz von Rot-Grün, das nur einen Abklatsch von Schwarz-Gelb aus den Jahren 95/96 darstellt. Denen ist ja nichts Neues eingefallen. Es ist die gleiche Sauce in anderer Farbe. Und das, was Ulrich Mückenberger vorschwebt, ist ein Teil der Probleme. Und: Er wird mit seiner Argumentation benutzt, schamlos benutzt von Rot-Grün. Die uns dann sagen: Aber Euer Ulrich Mückenberger... Dabei haben sie seine Sachen wahrscheinlich gar nicht gelesen. Sie beziehen sich auf ihn wahrscheinlich nur als Argument gegenüber denjenigen, die sagen, wir haben Machtverhältnisse in dieser Gesellschaft, die strukturell bedingt sind, über die Konkurrenz, über die Großkonzerne, über die relative Machtlosigkeit der kollektiven Interessenvertretungen, trotz allem Sozialstaat. Es geht nicht zusammen. Wenn wir Bewegungen hätten, wie damals, als Mückenberger seine Italienstudien gemacht hat, kommunale Macht hätten, nicht nur wir als Gewerkschaften, sondern dass Frauenverbände, Elternverbände, Lehrer, ErzieherInnen etc. gegen die Kapitalinteressen aufstehen würden, und wenn wir Parteien hätten, die nicht nur auf Pfiff von bestimmten Unternehmensverbänden funktionieren würden, sondern eben eine Situation, von der man sagen könnte, da werden die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen artikuliert und zum Ausgleich gebracht und man könnte über Macht aushandeln, dann wäre das ein oder andere machbar. Aber ein paar Sachen laufen in dieser Wirtschaftsgesellschaft einfach nicht. Das ist meine Erfahrung und meine theoretische Überzeugung.

Vielleicht eins noch: Ulrich Mückenberger soll erklären, warum er all diese Argumente für die Ladenöffnung samstags bis 20 Uhr verwendet und wo er den Bedarf dafür hernimmt. Denn nirgendwo gibt es diesen Bedarf. Nicht die vier Leute in Mannheim und die drei in Heidelberg oder die 17 in Frankfurt. Er sagt ja, es gibt das Zeitinteresse, und dafür müssen wir einen Ausgleich finden. Er weist es aber nicht nach. Es sind Logeleien.

Auffällig ist, dass er einerseits immer die Verschiedenheit der Zeitbedürfnisse anführt, wenn es darum geht, die Flexibilisierung zu legitimieren, andererseits aber darauf hinaus will, dass es gemeinsame Zeit geben muss im Interesse der, wie es bei ihm so schön heißt, »sozialen Kohäsion« und einer »nahräumlichen Kultur des Vertrauens und der Kooperation«. Die Beispiele, die er bringt, beruhen immer darauf, dass freie Verabredungen möglich sind, und zwar egal ob es um Sport, Erziehung, Musik, Arbeit, Kneipe, Umsatz, Ämterbesuch – was auch immer geht. So lange so getan wird, als ob dies alles gleichzuordnen sei, faktisch also Ökonomie gar nicht vorkommt, lässt sich natürlich munter von der Realisierungsmöglichkeit solcher Beteiligungsformen als »zeitgemäßer Alternative zur zentralen Regulierung oder zur Deregulierung« reden...

... ja, dass die Flexibilisierung selbst etwas mit wirtschaftlichen Gründen und mit Macht zu tun hat. Hier werden sehr unterschiedliche Interessen vermengt. Wenn wir da raus wollen, dann müssen wir eigene, ganz andere Beispiele finden. Dann müssen wir uns überlegen: Was wollen wir mit unserer Zeit? Und welche Möglichkeiten habe ich überhaupt, mich zu verabreden?

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/03

Die Kurzfassung des Statements von Ulrich Mückenberger ist erschienen auf der Dokumentationsseite der Frankfurter Rundschau vom 10. März 2003: »Mit flexiblen Ladenöffnungszeiten gegen die Krise der Stadt. Mehr urbane Lebensqualität und die Bedürfnisse der Arbeitnehmer sind vereinbar«. Die Langfassung, in der die italienischen Erfahrungen und die darauf basierenden kommunalen Zeitpakte ausführlich geschildert werden, ist einzusehen in: www.fr-aktuell.de/doku (zeitlich befristet)

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