letzte Änderung am 21. Mai 2003

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Entschleunigungsbedarf

Aufstehen für bessere Zeiten – ein Gespräch über das Leben »rund um die Uhr« (Teil I)

Das Verhältnis von Arbeitszeit und freier Zeit ist seit Anbeginn der Lohnarbeit ein konfliktreiches, und es hat sich in den vergangenen Jahren nicht eben zu Gunsten der Beschäftigten verschoben. In der Ladenschluss-Debatte, die durch die jüngste Gesetzesänderung unter Rot-Grün neuerliche Aktualität erfahren hat, schienen die Gewerkschaften wie das berühmte gallische Dorf allein und mit dem Rücken an der Wand zu stehen. Selbst die eigene Mitgliedschaft und ein Großteil der Linken, so hieß es, wolle »Einkaufen wie im Urlaub«: am liebsten rund um die Uhr. Doch es geht um mehr als freien Konsum. Die Flexibilisierung der Arbeitszeit im Einzelhandel folgt dem branchenübergreifenden Trend der Ausweitung von Betriebsnutzungszeiten – und sie hat Konsequenzen für die Lebens- und Arbeitszeiten aller Beschäftigten. Denn die grundsätzliche Frage lautet, ob und wie die vielzitierte »Zeitsouveränität« möglich ist. Über die Hintergründe der aktuellen Ladenschlussdebatte, die ver.di-Demonstration in Berlin und die Erfahrungen mit der bisherigen Flexibilisierung der Öffnungs- und Arbeitszeiten sprach Kirsten Huckenbeck mit Anton Kobel, zuständiger Gewerkschaftssekretär für den Einzelhandel im ver.di-Bezirk Mannheim/Heidelberg.

Im zweiten Teil des Interviews, das in der nächsten Ausgabe erscheinen wird, geht es um Alternativen zur Deregulierung der Arbeitszeiten, wie sie z.B. Ulrich Mückenberger, Professor für Arbeits- und Europarecht an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik, unter dem Stichwort »kommunale Zeitpakte« in seinem Gutachten für den Bundestag vorgestellt hat, und damit um die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine »souveräne« Verteilung von »Zeitwohlstand« und »Zeitstress«.

 

Am 13. März hat der Bundestag mit rot-grüner Mehrheit eine abermalige Änderung des Ladenschlussgesetzes beschlossen: die regelmäßige Samstagsöffnung bis 20 Uhr. Am 9. März hatte ver.di dagegen in Berlin demonstriert. Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement hatte auf die Protestschreiben an sein Ministerium geantwortet, es handele sich bei der geplanten Gesetzesänderung um eine »maßvolle« Lösung, die die Interessen von KonsumentInnen, Beschäftigten und Einzelhandel gleichermaßen berücksichtige.

Zur Erinnerung: Die FDP hatte eine vollständige Liberalisierung des Ladenschlusses, d.h. eine Aufhebung jeglicher bundeseinheitlicher gesetzlicher Regelungen gefordert, die CDU/CSU wollte eine Liberalisierung der werktäglichen Öffnungszeiten, aber den Sonntag ausnehmen und weiterhin per Bundesgesetz regeln. War die rot-grüne Lösung also, wie aus ähnlichem Anlass oft in Gewerkschaften zu hören ist, das ›geringere Übel‹, und war sie »maßvoll«?

Es ist ganz sicher das geringere Übel – aber es ist ein Übel, und zwar ein Gewaltiges für die Beschäftigten. Denn es geht nicht nur um vier Stunden zusätzliche Arbeitszeit, sondern um die Arbeitszeit samstags zwischen 16 und 20 Uhr. Das bedeutet, dass die Leute praktisch kein freies Wochenende mehr haben. Wer bis 20 Uhr arbeiten muss – und die Großkonzerne werden das ganz sicher durchsetzen, nicht in jedem Ort, aber bundesweit – der kommt, wenn er nicht gerade neben seiner Arbeitsstätte wohnt, angesichts der öffentlichen Verkehrsmittel, die wir haben, um halb zehn bis halb elf samstags nachts nach Hause. Da ist ein Großteil des gesellschaftlichen Lebens, das an den Samstagen stattfindet, gelaufen. Vom Familienleben ganz zu schweigen. Von daher sind die Beschäftigten stinksauer und wütend auf Rot-Grün. Und sie haben recht. Dass die Großkonzerne gerne »Rund um die Uhr« hätten, ist klar. Kapital ist gefräßig und will gerne alles haben. Insofern ist der Kampf um die Arbeitszeit, um die Länge der Arbeitszeit und ihre Lage, eines der zentralen Probleme, seit es die Arbeiterbewegung und ihre Gewerkschaften gibt. Das ist nämlich die Möglichkeit, von der Arbeit wegzubleiben, deshalb heißt es ja auch Freizeit – so verrückt es klingt.

Könntest Du sagen, wie viele Leute das betrifft – Du hattest ja eben die Großkonzerne genannt, das deutet auf eine Unterscheidung hinsichtlich der Auswirkungen des Gesetzes hin...

Im Einzelhandel arbeiten bundesweit ca. 2,5 Millionen Beschäftigte. Davon ca. 80 Prozent Frauen. Jetzt kann man differenzieren: Viele, die im Versandhandel arbeiten, werden von diesen vier Stunden nicht unbedingt bzw. nicht unmittelbar betroffen. Die, die z.B. in Zentral-Lagern arbeiten, sind nicht unmittelbar an diesem Abend betroffen, ggf. verschiebt sich bei ihnen jedoch die Arbeitszeit wegen der Samstags-Auslieferung in den Freitag Abend hinein. Es wird natürlich in vielen Gemeinden, auch in einzelnen Stadtteilen an Samstagen nicht bis 20 Uhr geöffnet sein. Ich gehe für uns im Rhein-Neckar-Raum davon aus, dass mindestens 50 Prozent der Beschäftigten davon betroffen sein werden.

Ver.di, d.h. hier der Bundesvorstand, hat auf ihrer Homepage kommentiert: Insgesamt sei man enttäuscht, doch sei es immerhin gelungen, das Recht auf einen freien Samstag pro Beschäftigtem zu retten – dies nur aufgrund des gewerkschaftlichen Drucks. Zugleich schreiben sie, dass Rot-Grün »zu kurz gesprungen« sei, da die Gewerkschaft diese freien Samstage bereits und besser in Tarifverträgen vereinbart habe. Dafür hätte man also das Gesetz nicht gebraucht. Dazu eine Nachfrage: Inwiefern können Tarifverträge etwas besser als Gesetze regeln – was ist mit dieser Aussage gemeint?

Das sollte man differenziert betrachten: Ein Gesetz, das eingehalten wird, gilt für alle. Ein Tarifvertrag, der eingehalten wird, gilt nur für die Mitglieder der tarifvertragschließenden Parteien. Für Beschäftigte, die in Firmen arbeiten, die nicht dem Arbeitgeberverband angehören bzw. die nicht dem Tarifvertrag unterliegen, hat der Tarifvertrag keine Bedeutung. Das sind im Einzelhandel nicht wenige. Dazu gehört zum Beispiel Wal-Mart. Ganz viele Firmen im Einzelhandel sind nicht Mitglied des Arbeitgeberverbandes, oder sie sind seit drei, vier Jahren Mitglied, allerdings ohne Tarifbindung. Die Argumentation, dass ein Tarifvertrag dies besser regeln könne als ein Gesetz, leuchtet mir überhaupt nicht ein.

Die Formulierung bezieht sich nicht unbedingt auf das neue Gesetz selbst, sondern scheint sich aus positiven Erfahrungen mit Zeitausgleichsregelungen in der Vergangenheit zu speisen. Gibt es die?

Ich gehe davon aus: Ein Gesetz verallgemeinert, und es gilt. Es ist natürlich ein Fortschritt, wenn Sozialstandards in Gesetzen stehen. Das bedeutet nicht automatisch eine Schwäche der Gewerkschaften. Es gibt Leute, die meinen, ein Tarifvertrag sei deshalb besser, weil eine gesetzliche Regelung immer eine Schwäche der Gewerkschaften ausdrücke. Man kann aber auch sagen, dass Gesetze die Fortschreibung vieler Tarifverträge sind und damit eine Verallgemeinerung von Tarifverträgen. Mir leuchtet die Argumentation nicht ein, dass ein Tarifvertrag besser sein sollte. Und was die Kompensationsregelung betrifft: Wenn im Gesetz drinstehen würde: »Wer samstags vier Stunden arbeiten muss, bekommt dafür eine Zeitgutschrift von 6 oder 8 Stunden«, dann müsste man dafür schon mal nicht mehr streiken. So etwas wäre arbeitsplatzwirksam, und es hätte ggf. einen Erholungswert. Vor allen Dingen, und das ist ein ganz wichtiges Argument gegen diese Einschätzung: Wir haben die Deregulierung der Arbeitgeberverbände mit der Deregulierung der Tariflandschaft und allem, was dazu gehört – z.B. aufgrund von Ausgliederungsprozessen, die seit über 20 Jahren im Einzelhandel stattfinden, mit der Folge, dass die Tarifverträge in Bezug auf betriebliche Regelungen inzwischen wie Schweizer Käse aussehen.

Darüber würde ich hinterher noch mal genauer diskutieren wollen, wie angesichts der bekannten Erosion der Tarifverträge Schutzmechanismen entwickelt werden können, die der Tendenz zur totalen Verfügung über die Zeitbedürfnisse der Beschäftigten entgegenwirken könnten. Jetzt würde ich aber gerne noch mal fragen nach der Einschätzung, ob dieser eine freie Samstag Resultat des Drucks der Gewerkschaft war und dies verbinden mit der Frage, wie die Demonstration respektive die politische Lobbyarbeit von ver.di im Vorfeld wahrgenommen worden ist.

Der freie Samstag hängt natürlich mit der Stärke der Gewerkschaften zusammen, vor allen Dingen mit ihrer Verankerung in Rot-Grün. Er hängt auch damit zusammen, dass es das Angebot von Sozialpolitikern bei Sozialdemokraten und Grünen gab: »Wir garantieren Euch einen freien Samstag, und dafür müsst Ihr arbeiten«. Das hat damit zu tun, dass die Damen und Herren Abgeordneten wussten, dass sie Wahlbetrug begehen. Denn es gab Wahlversprechen: Die SPD hatte sich in ihrem Parteiprogramm und in ihren Parteitags-Beschlusslagen eindeutig gegen eine Verschlechterung des Ladenschlussgesetzes festgelegt. Auch im Wahlprogramm der Grünen von 2002 steht nichts von einer allgemeinen Veränderung des Ladenschlussgesetzes, dort war nur etwas zur Mittelstandsförderung vorgesehen – unter dieser Rubrik hatten die Grünen das Thema versteckt. Es geht bei dem Recht auf einen freien Samstag also auch um so etwas wie schlechtes Gewissen und den Versuch, die Gewerkschaften dabei einzubinden, indem man sagt: Ihr bekommt ja ein bisschen was. Es hätte ja noch schlimmer kommen können. Die Beschäftigten sehen es jedoch nicht als Erfolg an. Sie sagen: Einen freien Samstag, den haben wir bisher schon gehabt in vielen Großbetrieben – über die Arbeitszeitvereinbarungen. Was soll ein garantierter freier Samstag, wenn ich dafür an den anderen drei bis 20 Uhr arbeiten muss? Man muss jedoch aufpassen, dass man nicht nur rechnerisch mit dieser Zeit umgeht. Die Zeit von 16 bis 20 Uhr hat – und zwar für die große Mehrheit der Beschäftigten – einen anderen Wert, als die Zeit samstags morgens.

Jetzt noch mal zur Demonstration. Hattest Du den Eindruck, dass die Vorstandsebenen von ver.di die Demo wollten?

Die Demonstration war nicht gewollt von der ver.di-Spitze im Fachbereich Handel.

Woran würdest du das festmachen?

An den Fakten. (Gelächter)

Natürlich, am liebsten an denen, wenn’s nicht anders geht...

Fakt war, dass am 5. Dezember 2002 presseöffentlich wurde, dass Rot-Grün, Schröder vor allem, das Ladenschlussgesetz in der bisherigen Form verändern will. Dann hat dazu eine Diskussion innerhalb von ver.di, Bereich Handel, stattgefunden, dagegen in Berlin zu demonstrieren. Die Entscheidung darüber fiel jedoch erst mehr als acht Wochen später, am 12. Februar. So lange ging die Auseinandersetzung darüber, ob überhaupt demonstriert werden soll, oder ob nicht etwas anderes versucht werden soll.

Was hätte »etwas anders« gehießen?

»Marktwirtschaftliche« Regelungen, ein Tauschgeschäft mit den Regierungsfraktionen: Wir halten uns da raus, dafür bekommen wir von Euch ein paar Vergünstigungen, z.B. die Allgemeinverbindlichkeitserklärung für die Einzelhandelstarifverträge, damit diese für alle Firmen und Beschäftigten des Einzelhandels gelten – damit die Firmen, die nicht dem Arbeitgeberverband angehören, keine Konkurrenzvorteile daraus ziehen können. Es gab eine lange Auseinandersetzung in ver.di über die Strategie des Umgangs mit dem Thema, und die ist erst Mitte Februar entschieden worden: dafür, aber eben sehr spät. Baden-Württemberg war aktiv dran beteiligt, dass es zu dieser Großdemonstration kam. Es waren, auch das gehört zur Geschichte dieser Demonstration, deutlich weniger als 1996. Damals waren es 50000, jetzt sollen es ca. 20000 gewesen sein. Es wurde nach unseren Einschätzungen in vielen Bereichen nicht ernsthaft für die Großdemonstration mobilisiert. Das hängt nicht nur mit der weiten Entfernung Berlins zusammen – obwohl es wirklich eine Riesen-Strapaze war, sonntags dahin zu fahren. Es hängt sicherlich auch damit zusammen, dass die bisherigen Kämpfe um den Ladenschluss in weiten Teilen der Organisationen eher als Niederlagen verstanden worden sind, sowohl bei Alt-HBV als auch bei Alt-DAG, und viele gesagt haben, es bringt ja doch nichts.

Ich glaube nicht, dass das Zögern aus einer zu engen Verbindung der Gewerkschaft ver.di zu Rot-Grün her-stammt. Davon habe ich jedenfalls nichts mitbekommen, eher: einerseits Resignation, es bringt ja doch nichts, andererseits die Frage: Sollen wir nicht ein Tauschgeschäft machen? Und da hat sich der Teil durchgesetzt, der gesagt hat: Nein, wir müssen kämpfen, weil es bei dieser Samstagsregelung, diesen vier Stunden, um mehr als vier Stunden geht. Da geht’s um die Frage: Was habe ich noch vom freien Wochenende? Um die Frage der »Entschleunigung«: Ist Samstags mittags Schluss mit der Hektik in der Gesellschaft, oder wird das ausgeweitet? Diese Veränderung des Ladenschlussgesetzes wird Auswirkungen haben auf die Banken, auf die Apotheken, usw. Weite Teile des Dienstleistungssektors werden da mit reingezogen, weil auch deren Öffnungs-, Schließungs- und die Arbeitszeiten ganz eng gekoppelt sind an die des Einzelhandels.

Das wäre das Thema »Zeitsouveränität und Flexibilisierung«. Darauf würde ich hinterher noch mal im Zusammenhang mit dem Bundestags-Gutachten Ulrich Mückenbergers zurück kommen, der behauptet, beides ließe sich verbinden. Jetzt aber noch mal die Frage nach Deiner eigenen Einschätzung der Demonstration.

Es war gut, dass sie stattgefunden hat. Sie war ganz wichtig für die Leute, die demonstrieren wollten, die es Rot-Grün und ihren Arbeitgebern zeigen wollten. Die zeigen wollten: Ihr schafft es nur gegen uns. Also das Rebellenhafte: Wir machen das nicht mit, wir akzeptieren das nicht, wir wehren uns, und zwar unabhängig davon, wie groß unsere Chance ist zu gewinnen. Und sie war auch ganz klar notwendig, weil die Leute der Regierung die Grenzen zeigen wollten. Das wird Rot-Grün ganz lange treffen, gerade auch, weil die Einzelhandels-Beschäftigten politisch nicht so eindeutig festgelegt sind wie bspw. im Metallbereich. Die Leute in der Regierung wissen überhaupt nicht, wie bedeutsam Einkaufszeiten sind. Da geht’s nicht nur um die Beschäftigten im Einzelhandel, d.h. die 2,5 Millionen und deren Angehörige. Da geht’s auch um die ganzen Vereine, wo plötzlich die Leute fehlen, die nicht mehr teilnehmen können, die jetzt schon unter der Woche erst um Neun kommen. Der Ladenschluss und die Arbeitszeiten dort haben eine gesellschaftliche Bedeutung, die viel größer ist als ›nur Arbeitszeit‹. Deswegen war es notwendig, dass gekämpft wird, und eine Gewerkschaft muss ihren Aktionswilligen Aktionen ermöglichen.

Könnte das auch eine Bedeutung haben für die Haltung zu den Abbauprozessen in den anderen Bereichen des Sozialstaats?

Nach allem, was ich mitbekomme, bin ich davon überzeugt, dass die Bereitschaft der Menschen, ihren Sozialstaat zu verteidigen, größer ist, als viele sich das vorstellen. Ich bin davon überzeugt: Wenn die Gewerkschaften dazu aufrufen, gegen die Zerschlagung der Arbeitslosenversicherung, gegen die Teilprivatisierung der Krankenversicherung offensiv gemeinsam aufzutreten, werden wir Zahlenverhältnisse haben wie bei den Demonstrationen letztes Jahr in Italien, als es um die Zerschlagung des Kündigungsschutzes dort ging. Wir müssen uns nur an die Diskussion um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall mit den Karenztagen zu Kohls Zeiten erinnern, wie groß da die Bereitschaft war.

Zur Frage der Motivation für die abermalige Änderung des Ladenschlusses: Bis jetzt stand dabei immer die ökonomische Argumentation »Ausweitung des Konsums, Erhöhung der Umsatzzahlen, stärkeres Wachstum durch längere Öffnungszeiten« etc. im Vordergrund. Das schien dieses Mal nicht so. Im Mittelpunkt des Re-gierungsentwurfs stand zwar auch der »Bedarfsdeckungsaspekt« für die KonsumentInnen, dann aber der »Dienstleistungs- und Erlebnisaspekt« und das Ziel einer Belebung bzw. Wiederbelebung, wie man korrekter Weise sagen müsste, der Innenstädte. Bevor wir uns diesen auf den ersten Blick scheinbar gar nicht pri-mär von ökonomischen Überlegungen getragenen Zielsetzungen im Einzelnen widmen, würde mich, da de facto eine weitere Ausweitung der Öffnungszeiten stattgefunden hat, interessieren, welche ökonomischen Erfahrungen denn bislang mit der seit langem feststellbaren Ausweitungstendenz gemacht werden konnten. Was hat die feststellbare permanente Ausdehnung der Betriebsnutzungszeiten gebracht in Bezug auf die bislang immer vertretene Argumentation, dass dadurch mehr Umsatz, Wachstum etc. stattfinde?

Neben den drei Aspekten, die Du genannt hast – Bedarfsdeckung, Eventcharakter und Innenstadtbelebung – gibt es drei weitere Gründe, die beide Regierungsfraktionen auch schriftlich verkündet haben: Erstens Um-satz im Einzelhandel ausweiten, dadurch zweitens Wirtschaftswachstum und drittens Arbeitsplätze schaffen...

... also doch, die Ökonomie.

... ja, das ist mit das Dümmste, was sie verkündet haben, weil alle – und auch gerade rot-grüne Bundestagsabgeordnete – nach der Erfahrung von 1996 wissen, dass all dies nicht erreicht wird. Es gab damals – unter dem so genannten Wirtschaftsminister Rexroth – das ifo-Gutachten, wo verkündet wurde, es gebe 50000 Vollzeitarbeitsplätze mehr und 20 Mrd. DM mehr Umsatz, wenn ausgeweitet wird. Wenn man sich die Zahlen anschaut, sprechen die ihre eigene Sprache. Die Arbeitsplätze wurden dennoch – um rund 200000 in den letzten fünf Jahren – abgebaut. Die Umsätze steigen nicht, weil vollkommen klar ist, dass das Kapital Umsätze nur dann macht, wenn es Geld gibt. Es findet eine Umsatzneuverteilung statt: Die Großen fressen die Kleinen und vor allem die Mittleren, und Arbeitsplätze werden nur so geschaffen, wie Arbeitskräfte gerade gebraucht werden, also: Damit der Profit gesichert werden kann, sonst gar nichts. D.h. Rot-Grün ist den alten Märchen aufgesessen, und sie werden ja auch ausgelacht dafür. Auf vielen Betriebsversammlungen, wo Betriebsräte, wo Gewerkschafter, wo wir darüber berichtet haben, werden die ausgelacht. Wenn die Abgeordneten gehört hätten oder hören würden, wie die Leute, von den Aktiven bis zu einfachen Mitgliedern, über sie denken... Die sagen: Ihr habt doch keine Ahnung, wie’s läuft. Wir brauchen mehr Geld, und nicht mehr Zeit zum Einkaufen. Die Ausweitung der Ladenöffnung an den Samstagen bedeutet ja, dass die jetzigen 80 Stunden wöchentliche Öffnungszeit auf 84 erhöht werden. Und all das, was Rot-Grün sich sonst er-hofft mit der Bedarfsdeckung? 80 Stunden reichen! Die Menschen haben noch nie so viel Zeit gehabt, ihren Bedarf zu decken und noch nie so viele Möglichkeiten. Vor 30, 40 Jahren war die Arbeitszeit 44, 48 Stunden, die Ladenöffnungszeit faktisch 55-60. Es gab damals viel weniger Teilzeitarbeit als heute.

Natürlich gibt’s den ein oder anderen, der mal was vergessen hat. Dann kriegt er’s halt nicht. Es gibt ja auch den ein oder anderen, der kein Geld hat – und der kriegt auch nichts. Es gibt keinen Bedarfsdeckungs-Notstand, d.h. etwas, wo man sagen könnte: Es gibt einen Versorgungsnotstand – wie bei Flut- oder Schneekatastrophen –, so dass die Menschen am Verhungern wären oder sich nicht mehr kleiden könnten. Das ist rot-grüner Quatsch. Genau so die Frage des »Eventcharakters«. Was ist »Event«? Beim Aldi einzukaufen ist zweifellos ein Event. Aber was für eins? Aldi macht übrigens, auch unter der Woche, zwischen 18 Uhr bis 18 Uhr 30 zu, die ganze Zeit schon. Was ist der Event, wenn man beim Lidl in den Kartons wühlt oder in der Schlange steht? Die tun alle so, als ob da jeden Tag ein Tanzbär auftreten, als ob es sich um ein gesellschaftlich-kulturelles Ereignis handeln würde. Was dabei genau nicht zur Sprache kommt und wovon viele auch gar keine Ahnung mehr haben, ist die Beziehung »Beschäftigter-Kunde«, d.h. die menschliche Seite der Beziehungen, die für die Gesellschaft wichtig sind. Warum geht man denn als Stammkunde irgendwo hin? Nicht nur, weil die gute Waren haben, sondern weil man freundlich begrüßt wird, weil man ein Schwätzchen halten kann, weil man Informationen bekommt. Ggf. bekommt man auch mal einen Tipp, dass oder wo eine Wohnung frei wird, oder man wird auf Sonderangebote hingewiesen. Das ist viel mehr ›Erlebnis‹-Aspekt des Einzelhandels als das andere. Auch wenn man mit jüngeren Beschäftigten redet, die oft herangezogen werden, wenn es um ein Interesse an flexiblen Arbeitszeiten geht, dann wollen die nicht für »Events« verantwortlich sein, sondern sie wollen sich – ggf. – mit Kunden austauschen über ihre Arbeit. Deshalb machen sie es auch – trotz der relativ schlechten Bezahlung im Einzelhandel.

Und das andere – Belebung der Innenstädte... na ja. 1989 wurden die Innenstädte »gerettet« durch die Einführung des langen Donnerstags bis 20 Uhr 30. Ergebnis war, dass er schneller weg war, als es gedauert hat, ihn einzuführen. 1996 wurden unter Kohl, Kinkel etc. die Innenstädte »gerettet« durch die Ausweitung der Öffnungszeiten auf 20 Uhr von montags bis freitags. Das war alles dummes Zeug, und zwar weil die Innenstädte nicht von der verlängerten Öffnungszeit leben, sondern davon – und das kann sich jeder selbst überlegen, wenn er sich anschaut, wie er seine Einkäufe, seinen Alltag organisiert –, was man wo will: Wann fahre ich wohin? Was kaufe ich im Stadtteil ein, was will ich dort einkaufen können? Was kaufe ich da ein, wo ich mit dem Auto hinfahren kann oder muss? Möbel z.B. oder schwere Getränkekisten, die schleppe ich nicht durch die Fußgängerzone in der Innenstadt, das weiß doch jeder. Was heißt also »Belebung der Innenstädte«? Wenn man sich damit beschäftigt, muss man sich vorher überlegen, was derzeit an Banalisierung des Einzelhandels in den Innenstädten der Großstädte stattfindet. Diese kleinen Filialen, überall die gleichen, ob Benetton, H&M, man könnte sie jetzt alle aufzählen...

Mit Banalisierung meinst du Monokulturen? Laden-Monokulturen? Das Phänomen der Dumping-Läden mit ihrer scheinbar unendlichen Vielfalt der immer gleichen Wegschmeiß-Artikel... Könnte man diese Tendenz zu Produkten mit hoher Verfallsgeschwindigkeit und geringer Lebensdauer ebenso als Ausdruck einer ökonomischen Krise im Einzelhandel begreifen wie den Versuch, die Betriebsnutzungszeiten auszuweiten, ohne dass damit automatisch mehr Umsatz verbunden ist? Als was würdest Du den Versuch der permanenten Ausdehnung der Betriebsnutzungszeiten, deren Reflex die letzten Änderungen des Ladenschlussgesetzes waren, interpretieren? Wer braucht diese Ausdehnung ökonomisch und warum?

Ich denke, dass man da noch mal in die Konkurrenzwirtschaft rein muss. Längere Ladenöffnungszeiten bedeuten längere Konkurrenzzeiten der Einzelhandelskapitalien. Und die Großkapitalien, konkret die Großketten, haben damit mehr Zeit, um die Kleinen und Mittleren zu vernichten. Es gibt ggf. eine zweite Fraktion, die Interesse an der Ausdehnung in den Abend hinein hat: Spezialgeschäfte mit Spezialkunden. Nischen. Entscheidend sind aber Konzerne wie Metro mit seinen Kaufhöfen, seinen Reals, oder Wal-Mart mit all seinen Läden – die haben das Interesse an längeren Öffnungs- und Umsatzzeiten, weil sie wissen, dass sie in dieser Konkurrenz unschlagbar sind.

Das heißt: Nicht die kurzfristige Steigerung der Umsatzzahlen ist für sie maßgeblich,

... ihrer Umsatzzahlen

sondern Vernichtung ihrer Konkurrenten...

... indem sie anderen Umsätze wegnehmen bzw. Konkurrenten übernehmen!

Die Ausweitung der Öffnungszeiten wäre also das Mittel, um zu einer marktbeherrschenden Position zu kommen...

... das ist zu beobachten. Man sieht genau, welche Kapitalien die längeren Ladenöffnungszeiten wollen. Es sind die Großen, und es sind die mit wenig Personal. Weil ein SB-Warenhaus mit 7-9 Prozent Personalkosten am Nettoumsatz im Verhältnis zum Facheinzelhandel, der mit 14-16 Prozent annähernd doppelt so hohe Personalkosten hat, alle Vorteile auf seiner Seite hat, vor allem, wenn die Waren dann auch noch konkurrenzfähig sind.

Wenn man sich diese Konzentrationsprozesse ansieht und sich in Erinnerung ruft, mit was ver.di bei der Demonstration angetreten war, nämlich »Wochen ohne Ende? Schluss jetzt!«, wirft das die Frage auf, wie man umgeht mit dieser Tendenz. Es gibt in dem Sinne keine, gewissermaßen ›natürliche‹ Begrenzung dieses Strebens mehr. Insofern war diese Ladenschlussänderung sicher auch nicht die Letzte, und als nächstes wäre vielleicht der Sonntag dran. Gibt es in ver.di eine Debatte darum, wie man sich diesem Problem stellen will?

Ich denke, dass vom einfachen Mitglied bis zum Bundesvorstandsmitglied allen klar ist, dass mit dieser Änderung kein Schlussstrich gezogen wurde, sondern dass es weiter geht. Die Konzerne und bestimmte Parteien mit ihrem Gefolge werden weiterhin sagen: »Rund um die Uhr«. Wenn Leute bei Rot-Grün oder andere glauben, dass damit jetzt Frieden hergestellt wäre, dann ist das eine Illusion. Der Einzelhandel lebt vom Umsatz, und wenn der konkrete Einzelhandel feststellt, dass es zur Umsatz-Stagnation kommt, dann müssen die schauen, wie sie ihren Kuchenanteil vergrößern. Das weiß ver.di, das weiß jeder. Deswegen ist vollkommen klar: Ein Deal, der darauf beruht, dass mit Samstag 20 Uhr ein Ende erreicht wäre, ist nicht zu machen. Der Sonntag bleibt natürlich für das Kapital im Blickpunkt. Die sagen, da wird am wenigsten gearbeitet, da kann man die Leute am ehesten gewinnen, z.B. die ganze Familie mit Events – was auch immer das sein soll. In die Kirchen gehen sie nicht mehr, vielleicht gehen sie in die Konsumtempel. Auch deswegen geht es bei den Öffnungszeiten eigentlich um eine gesellschaftliche Auseinandersetzung. Es geht um gemeinsame Zeiten unter der Woche, aber es geht auch um das freie Wochenende, um eine »Entschleunigung« der Gesellschaft, wie die Gottlosen sagen würden, oder wie die eher Religiösen sagen: Man braucht den Sonntag zur Erbauung, zum Finden, für seine religiösen Bedürfnisse. Darum wird die Auseinandersetzung stattfinden. Da hängt es ganz stark auch davon ab, inwieweit die Kirchen noch Einfluss haben. Ob sie nur gut gelitten sind, wenn sie gerade Regierungsposition in Sachen Krieg & Frieden vertreten, oder ob sie auch beachtet werden, wenn es um solche Sachen geht.

Was man daran sieht, ist: Hier kulminiert die gesellschaftliche Bedeutung des Ladenschlusses, die mehr ist als Verkaufszeit, weil sie so viele Aspekte betrifft. Ich bin mal gespannt, wann es die anderen merken, die Sozialdemokraten z.B., dass ihre Leute, die im Einzelhandel schaffen, gar nicht mehr zu Veranstaltungen kommen können. Und das sind viele! Wir haben sie mal getestet, indem wir mit 20, 30 Leuten zu Veranstaltungen mit Abgeordneten gekommen sind, und zwar um kurz vor neun, nach der Arbeit. Da saßen dann 10 oder 15 SPDler, bei der CDU genauso, und dann kamen wir mit einer großen Gruppe, und die haben erstaunt gefragt: Wo kommt Ihr denn her? Da haben die Beschäftigten gesagt: Aus dem Einzelhandel, vom Arbeiten, aber Ihr nehmt ja keine Rücksicht auf uns. Das Schlimmere ist, dass das ein Beitrag zur Entdemokratisierung ist, weil eine Gesellschaft, eine Demokratie im Sinne von Herrschaft des Volkes für sich selber und durch sich selber Zeit braucht, gemeinsame Zeiten.

 

Teil II des Interviews erscheint in der nächsten Ausgabe des express.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/03

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