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Updated: 18.12.2012 15:51
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Petition als Diskursvehikel!?

Gregor Zattler* zum Versuch, die Arbeitsrechtsprechung parlamentarisch zu ändern

Laut einer Emnid-Umfrage lehnen zwei Drittel der Bevölkerung das Urteil gegen Emmely – die wegen angeblicher Unterschlagung von 1,30 Euro Flaschenpfand gekündigte Kaiser’s-Kassiererin – als ungerecht ab. Bezeichnenderweise ist die Ablehnung unter denen, die weniger als 1500 Euro im Monat haben, noch deutlicher: 77 Prozent.

Emmely ist kein Einzelfall: Aktuell ist z.B. der Fall von Mehmet G., eines Müllmannes aus Mannheim, der ein Kinderbett vor der Müllpresse rettete, um sein Kind darauf zu betten. Fristlose Kündigung. Das Urteil wird wohl im Juli fallen. Interessant ist auch der Fall der Aldi-Verkäuferin aus Remscheid, die nach Ladenschluss noch dringend Damenbinden brauchte und das Geld dafür, 59 Cent, auf einem Tisch im Aufenthaltsraum hinterlegte. Aldi kam in der ersten Instanz mit der Tatkündigung nicht durch und versucht es jetzt noch einmal mit demselben Anlass, diesmal als Verdachtskündigung.

Dimensionen der Empörung

Aus den Leserbriefen, Kommentarspalten zu Online-Artikeln und direktem Feedback zu den Emmely-Urteilen greife ich zwei Dimensionen der öffentlichen Empörung heraus: [1]

1. Die Unverhältnismäßigkeit, nach 31 Beschäftigungsjahren die Existenzgrundlage wegen einer Lappalie zu verlieren. Wer sich in dieser Dimension empört, der/die weiß, dass Lohnarbeit bedeutet, ständig über den Vertrag hinausgehende Leistungen zu erbringen, die nicht honoriert werden, damit der Laden überhaupt laufen kann. In dieser Perspektive wird meist auch auf den Umstand hingewiesen, dass diese Arbeitsrechtsprechung sich besonders eignet, um gegen Widerständige in den Betrieben vorzugehen. Wer weitergehend von einem Ausbeutungsverhältnis ausgeht, für den/die steht der in Frage stehende Betrag in keinem Verhältnis zu dem, was die/der gekündigte Beschäftigte im Laufe der Zeit zum Profit der Firma beigetragen hat. In diese Dimension fällt die Frage des Rechtsanwalts von Emmely, Benedikt Hopmann, worin das Lebenswerk einer Kassiererin besteht und wie es gewürdigt wird.

2. Die Ungleichbehandlung vor den verschiedenen Gerichten: Als StaatsbürgerIn, der/die gegenüber dem Strafrecht die Unschuldsvermutung »genießt«, aber als Lohnabhängige auf Verdacht die Existenzgrundlage verlieren kann. In dieser Dimension geht es darum, mit einem Mindestmaß an Respekt als freies und gleiches Individuum, das nur für seine Taten und entsprechend der selbst und freiwillig eingegangenen Verpflichtungen verantwortlich ist, behandelt werden zu wollen – mit anderen Worten: als gleichberechtigteR BürgerIn. Die von der deutschen Arbeitsrechtsprechung hergestellten Loyalitäts- und Treuepflichten werden in dieser Perspektive als unangemessen autoritär und obrigkeitsstaatlich abgelehnt. So gesehen erscheint die Verdachtskündigung – gerade, wenn mit Bagatellvorwürfen kombiniert – als Sonderstrafrecht für Unternehmen. Auch diese Dimension hat einen sozialen Aspekt: Die Anerkennung des Verlusts der Existenzgrundlage als schwerwiegendere Strafe, als sie ein Strafgericht im Strafprozess zum gleichen »Vergehen« verhängen würde.

In der öffentlichen Diskussion wurde meist auf die Ungleichbehandlung vor Straf- und Arbeitsgerichten hingewiesen. Es gibt aber noch weitere Ungleichheiten, nämlich die zwischen verschiedenen Fachgerichten, die sich alle auf den § 626 BGB [2] beziehen. Während das Urteil gegen Emmely ganz der herrschenden Rechtsprechung der Arbeitsgerichte entspricht, würde ein Beamter oder Soldat im gleichen Fall seit 1992 nicht gekündigt werden, weil eine an der Rechtsprechung der Strafgerichte zum § 248a StGB [3] orientierte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (beziehungsweise seit 2002 die Gesetzgebung (!) im Bundesdisziplinargesetz) eine Bagatellgrenze von ca. 50 Euro anlegt. Liegt ein Eigentumsdelikt unterhalb dieser Schwelle, gilt es nicht als hinreichender Grund für eine Kündigung. Und im Fall eines Geschäftsführers, der gekündigt werden sollte, weil er sein Unternehmen bei einer Abrechnung um 160 DM betrogen hatte, urteilte das Oberlandesgericht Köln: »... angesichts des geringen Betrages nicht geeignet, eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen.« [4]

Diese beiden Dimensionen verletzter Gerechtigkeitsvorstellungen verweisen auf zwei Eigentümlichkeiten deutscher Arbeitsrechtsprechung: Das Institut der Verdachtskündigung und das Fehlen einer Bagatellgrenze, sobald es um Eigentumsdelikte beziehungsweise Vorwürfe derselben geht. Beides wird letztlich mit dem für ein Arbeitsverhältnis notwendigen Vertrauensverhältnis begründet: Langjährig gewachsenes Vertrauen wird durch Kleinigkeiten notwendig sofort und restlos zerstört und kann auch nicht wieder hergestellt werden. Wessen Lebenserfahrung entspricht das?

Bei beiden Eigentümlichkeiten handelt es sich um Richterrecht, d.h. von Gerichten durch Rechtsprechung fortentwickeltes Recht, und nicht um vom Bundestag erlassene Gesetze. Eine wesentliche Änderung dieses Richterrechts auf dem Wege der Rechtsentwicklung qua Richtersprüchen durch die höchsten Gerichte ist nicht zu erwarten: Beides ist seit Jahrzehnten gepflegte Rechtspraxis in Deutschland; das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat erst im Dezember letzten Jahres wieder bestätigt, dass die Verdachtskündigung nicht gegen das Grundgesetz verstößt.

Die Petition: ein Beteiligungsrecht?

Das bedeutet aber nicht, dass der Gesetzgeber, der Bundestag, diese Praxis nicht anders gesetzlich regeln könnte. Er muss nur wollen oder – wahrscheinlicher: – zum Wollen gebracht werden. Nun fehlt aber in der Bundesrepublik dem Souverän das Mittel des Volksbegehrens. Das Volk darf einerseits wählen und sich andererseits in Sachfragen mit einer Bitte (Petition) ans Parlament wenden. Einzelne Sachfragen entscheiden darf das Volk nicht.

Seit 2005 gibt es die Möglichkeit der online-Petition: Eine öffentliche Petition kann beim Petitionsausschuss eingereicht werden. Nach Prüfung verschiedener Kriterien, deren schwierigstes die Originalität der Petition [5] sein dürfte, wird diese gegebenenfalls auf einer entsprechenden Plattform des Bundestages ins Internet gestellt. Auf dieser Plattform, die wesentlich wie ein Onlineforum gestaltet ist, können registrierte Nutzer die Petition diskutieren und/oder mit einem Mausklick unterstützen (das entspricht der Unterschrift bei einer Unterschriftensammlung). Kommen bis drei Wochen, nachdem die Petition vom Bundestag online gestellt wurde, 50000 Klicks und Unterschriften zusammen, dann verhandelt der Petitionsausschuss das Anliegen öffentlich unter Anhörung der Person, die die Petition eingereicht hat (»Petent«) – es sei denn, der Ausschuss bestimmt mit einer Zweidrittelmehrheit, dass er das doch nicht tun will. Darüber hinaus, eine Petition einzureichen und eine Antwort zu bekommen, besteht kein Rechtsanspruch.

Zwei Seelen wohnen, ach! im Komitee

Das Komitee »Solidarität mit Emmely« hat knapp zwei Monate lang diskutiert, ob es eine Petition beim Bundestag einreichen soll. Dagegen sprachen u.a.: politische Zielvorstellungen, wie z.B. Selbstorganisationsprozesse befördern zu wollen, statt Parlamentarismus zu üben; Befürchtungen, Illusionen in den Rechtsstaat zu befördern; Unsicherheit, ob eine Gesetzesänderung nicht den gegenwärtigen Stand der Kräfteverhältnisse festschriebe; Einschätzungen, dass die Kräfte dafür, die Petition zu popularisieren, nicht reichen könnten. Für die Petition sprachen Überlegungen, mit der Petition darauf hinzuweisen, dass Veränderungsbedarf besteht, somit das Thema den Wahl- und Sonntagsreden zu entziehen und wenigstens arbeitsrechtliche Aspekte der Frage sozialer Gerechtigkeit in der Diskussion zu halten: die öffentliche Petition als Kampagneninstrument. Die Petition trifft im Komitee immer noch auf geteilte Zustimmung. Auch aus dem Umfeld kam überwiegend, aber nicht ausschließlich Zuspruch zur Idee einer Petition. Am 28. April habe ich die Petition für das Komitee eingereicht:

Der deutsche Bundestag möge beschließen, gesetzlich zu regeln, dass ein Arbeitgeber wegen eines Fehlverhaltens nicht kündigen darf, wenn der geltend gemachte Schaden gering ist und eine Abmahnung wegen eines vergleichbaren Fehlverhaltens nicht erteilt wurde. Bei Vermögensdelikten ist der Schaden gering, wenn der Wert des Vermögensschadens gering ist. Der Arbeitgeber muss das Fehlverhalten, auf das er seine Kündigung stützt, nachweisen. [6]

Sie wird unterstützt von verschiedenen Organisationen, von denen der Bund der Migrantinnen in Deutschland, die Rechtsabteilung von ver.di und Business Crime Control auf der Pressekonferenz anlässlich der Einreichung der Petition anwesend waren. Eine WebSite (http://1euro30.de externer Link) wirbt für die Petition und informiert anhand vieler Beispiele darüber, mit welcher Regelmäßigkeit Kündigungen aus Bagatellanlässen in Deutschland ausgesprochen werden. Bis jetzt haben die Medien die Petition kaum wahrgenommen, sie findet ihr Publikum z.Z. überwiegend unter engagierten GewerkschafterInnen und BetriebsrätInnen, die dafür auf Papierlisten Unterschriften sammeln.

Multiplikatoren gesucht

Inzwischen hängt die Petition in der Verwaltung des Petitionsausschusses fest: Sie wird von diesem zwar behandelt (Rechtsanspruch), soll aber nicht auf der oben beschriebenen WebSite des Bundestages veröffentlicht werden, weil das Thema bereits behandelt würde – diese Erklärung ist wenig einleuchtend, geht es doch auf der Petitionswebsite nirgends um Kündigungen aus Bagatellgründen. Im Moment scheint es unwahrscheinlich, dass die Entscheidung der Petitionsausschussverwaltung noch zu korrigieren ist. Damit ist sie sozusagen nichtamtlich-öffentlich, denn noch hat sie nicht den amtlichen Segen, es werden aber bereits Unterschriften dafür gesammelt. Diese Unterschriften werden wir auf jeden Fall noch zur weiteren (mindestens nichtöffentlichen) Bearbeitung der Petition beim Petitionsausschuss einreichen. Sie sind also auf keinen Fall vergeblich, z. Z. aber noch zu wenige, um damit öffentlich Eindruck machen zu können. Solange noch die Möglichkeit besteht, dass die Petition doch online geht brauchen wir vor allem Unterschriften auf Papierlisten (eine Vorlage dazu gibt es auf der WebSite) und MultiplikatorInnen, die für die Petition Werbung machen. Besonders hilfreich war bislang das LabourNet, das mächtig die Werbetrommel rührte. Nun setzen wir im nächsten Schritt auf die E-Mail-Verteiler der AktivistInnen in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Da zum Drucktermin des express das Schicksal der Petition in der Schwebe ist, werden wir aktuelle Informationen über einen E-Mail-Verteiler verbreiten. Auf den kann man sich auf http://1euro30.de externer Linkeintragen.

In der Debatte um das Urteil gegen Emmely ist eine soziale Wut spürbar geworden, der solche Schritte nicht genügen. Ich sehe das Solikomitee aber außer Stande, dazu mehr oder Radikaleres beizutragen.

* Gregor Zattler lebt in Berlin.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/09


(1) Auf die Dimension der Unverhältnismäßigkeit, wegen einer Lappalie die Existenzgrundlage zu verlieren, während millionenschwere Steuerhinterzieher und Finanzmarktbankrotteure mit Millionenboni nach Hause geschickt werden, gehe ich hier nicht ein. Diese Dimension wurde von den Medien besonders in den Vordergrund gerückt.

(2) § 626 BGB Fristlose Kündigung aus wichtigem Grund

(3) § 248a StGB Diebstahl und Unterschlagung geringwertiger Sachen

(4) Alles Wissen in diesem Absatz stammt aus: Achim Klueß: »Geringwertige Vermögensdelikte – Keine zwangsläufige Entlassung«, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, Heft 7, Jg. 26, S. 337-400. Der Artikel erschien am 14. April 2009, also relativ kurz nach dem Urteil gegen Emmely, der Autor ist vorsitzender Richter der 15. Kammer des Landesarbeitsgerichtes Berlin, deren siebente Kammer unter Richterin Daniele Reber gegen Emmely urteilte.

(5) Der Gegenstand der Petition darf nicht in derselben Legislaturperiode bereits als Petition behandelt worden sein. Die übrigen Kriterien sind formaler Art (muss in Deutsch abgefasst sein) oder schließen Volksverhetzung, Erwähnung von Personen, Werbung oder die mögliche Überlastung der Systeme des Bundestages aus.

(6) Diese Formulierung des Petitionstextes stammt von Benedikt Hopmann, dem Rechtsanwalt von Emmely. Der etwas sperrige vorletzte Satz soll der herrschenden Rechtsprechung, die über die Konstruktion des zerstörten Vertrauens Eigentumsdelikte im Cent- oder sogar 0 Euro-Bereich (wie abgelaufene Ware, das Grün vom Kohlrabi, das Kinderbett aus dem Müll) zur »schwerwiegenden Verfehlung« macht, den Boden entziehen. Der letzte Satz schließt Verdachtskündigungen aus. Der kurze Text zur Begründung der Petition findet sich auf: http://1euro30.de/petitions-text externer Link


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