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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Kommentar von Mag Wompel zum Aufruf von Peter Grottian: "Hungerstreik gegen Hartz IV-Minus - existenzielle Zumutungen mit existenziellen Protestformen beantworten!"[1] Der Aufruf von Peter Grottian hat bei mir große Bestützung ausgelöst. Und da er breit gestreut wurde und einen konkreten, baldigen Termin beinhaltet ("beginnend vom Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober" - warum eigentlich ausgerechnet an diesem Tag?), ist ein Kommentar hierzu überfällig. Das Wichtigste zuerst: Ich halte einen Aufruf zum Hungerstreik für fahrlässig und zynisch! Dabei ist dem Autor zuzustimmen: "Ein Hungerstreik ist ein existenzieller Notschrei der Verzweiflung, der nur dann legitim und angemessen erscheint, wenn fast alle Artikulations- und Protestformen ausgelotet sind und nichts mehr bleibt, um die menschenrechtlich unzumutbare Not in einer reichen Gesellschaft auszudrücken." So ist es. ABER es ist keinesfalls der Fall, dass "fast alle Artikulations- und Protestformen ausgelotet sind"! Es stimmt zwar unbedingt, dass "Streik oder Arbeitsniederlegungen als sozialer Widerstand (...) nicht länger tabu sein" dürfen. Ebenfalls stimme ich Peter Grottian schon lange darin zu, dass wir dringend neuer Protestformen bedürfen: "Doch angesichts der Tatsache, dass noch so viele Menschen bei zentralen Großdemonstrationen und dezentralen Montagsdemos nichts an den verabschiedeten unsozialen Gesetzen verändern konnten (und ohne breite Arbeitsniederlegungen nicht hätten verhindern können) sowie ziemlich sicher ihre absehbaren Fortsetzungen (z.B. Kürzung der Sozialhilfe für die als nicht erwerbsfähig aussortierten Menschen) nicht werden verhindern können, braucht eine ernsthafte Bewegung dagegen einen langen Atem und regionale Strukturen für den notwendigen und viel wichtigeren Alltagswiderstand. Meine - seit Jahren mehrfach geäußerten - Kriterien an diese neuen Protestformen lauten daher:
Vor diesem Hintergrund sind eben NICHT "fast alle Artikulations- und Protestformen ausgelotet", dies mag lediglich individuell für diejenigen der "ca. 20-80 Hartz IV Betroffene"(n) gelten, die nun für alle, die glauben, sich durchwurschteln zu können oder nicht betroffen zu sein, in einen stellvertretenden "auf 2-3 Wochen angelegten Hungerstreik" treten sollen. Weil es uns bisher nicht gelungen ist "Solidaritätsdemonstrationen, persönliche oder kollektive Arbeitsniederlegungen, Protestversammlungen" hinzukriegen, sollen ausgerechnet die Betroffensten der Betroffenen ihre Gesundheit für eine nicht vorhandene "Bewegung" einsetzen und diese dadurch erst initiieren? Dies ist zynisch. Denn es steht fest: Hungerstreik ist vor dem aktuellen Hintergrund keine adäquate Protestform, sondern potentieller Selbstmord. Und es funktioniert mit Nichten, diese Gesundheits- und Lebensgefährdung auszuschließen, wie es hoffnungsfroh geplant ist: "Die menschliche Fürsorge sollte so ausgestaltet sein, daß Menschen keine Gesundheitsschäden erleiden (medizinische Begleitung). Zivilcourage ist gefragt, aber kein Heroismus". Hungerstreik ist auch deshalb keine adäquate Protestform, weil sie eben nicht das Kriterium der Zielgerichtetheit erfüllt. "Das Ziel sollte zunächst sein, die Große Koalition dazu zu bringen, fest zuzusagen keine Hartz IV-Senkungen zu verfügen und zum 1.1.2007 die Alg II-Sätze auf 500 Euro anzuheben sowie die Repressionen zu reduzieren." Warum sollte dieses Ziel erreichbar sein, wenn die bloße Androhung von weiteren Verschlechterungen die Betroffenen in den Hungerstreik treibt, was aus der Sicht der Herrschenden sich eher als willkommener vorbeugender Gehorsam, denn als eine Druck ausübende Protestform darstellt? Wem nützt und wem schadet ein Hungerstreik, wenn die Überflüssigen und Aussortierten ohnehin ausgehungert werden sollen? Daher ist Peter Grottian zuzustimmen: "Der Hungerstreik birgt die Gefahr einer mitleidserheischenden Moralkeule" - das Mitleid ist aber gerade, weil die herrschende Politik von ihm richtig als unmoralisch eingeschätzt wird, nur von ohnehin Mitbetroffenen und bereits Aufgeklärten zu erwarten! Allerdings hat Peter Grottian den Hungerstreik gegen die aktuelle "Sozialpolitik" nicht erfunden. Es gab z.B. einen Hungerstreik 2004 in Göttingen und einen in Seerhausen bei Meinersen 2005. Die Redaktion des LabourNet Germany erreichte erst die Tage die Ankündigung eines solchen langsamen Selbstmordes eines Hartz IV-Empfängers, der hoffentlich umgestimmt werden konnte. Ebenso wie einzelne Übergriffe auf Fallmanager sollten wir diese Fälle keinesfalls als ersehnte Proteste ansehen, sondern als verzweifelte, nur gegen sich selbst gerichtete Taten der Ohnmacht vereinzelter Opfer. Destruktive Aktionen gegen sich selbst sind geradezu dazu angetan, offensive Protestformen zu verhindern. Denn den eigenen Körper in die Waagschale zu werfen, impliziert Resignation, Handlungsunfähigkeit und Lähmung. Destruktive Aktionen gegen sich selbst sollten uns daher erschrecken, nicht ermuntern und Anlass sein, unsere Bemühungen um kollektive und kollektivierende Verweigerung aller Formen von Menschenverachtung und Zwang im Alltag von (Noch)Erwerbstätigen und bereits Erwerbslosen zu verstärken. Noch ist nichts "ausgelotet". Anmerkungen: 1) Der Aufruf vom 16.08.2006 im Netz . Alle kursiven Zitate sind diesem Aufruf entnommen. 2) So Z.B. in Vom Protest zur Revolte? Artikel von Mag Wompel in dem Buch "Klassen und Kämpfe","Klassen und Kämpfe" herausgegeben von der jour fixe initiative berlin |