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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Aus: Semesterspiegel, Nummer 362, Juli 2006, S. 28 - 29 Schwarz- oder Schwatzbuch? Harzt IV aus der Sicht der Betroffenen Von Thomas Günther Die Proteste bei der Planung und Umsetzung der Arbeitsmarktreformen der "Rot-Grünen"-Bundesregierung waren groß. Schließlich wurden gar die Bundestageswahlen vorgezogen, da Kanzler Schröder argumentierte, dass nicht genug Vertrauen in ihn und seine Politik der Agenda 2010 gesetzt werden würde. Nun hat sich der öffentliche Widerstand gelegt. Eine individualisierte Problemverarbeitung und umfangreiche Buchpublikation hat begonnen. In diesem Zusammenhang ist auch ein neues Schwarzbuch erschienen. Schwarzbücher sind in letzter Zeit in Mode gekommen. Da gibt es welche über Globalisierung, Öl, Markenfirmen, Steuerverschwendung usw. Das bekannteste Schwarzbuch der vergangenen Jahre ist das über den Kapitalismus von Robert Kurz (welches mit über 800 Seiten doch eher lang geraten ist). Trotz dieser sintflutartigen Erscheinungsweise von Schwarzbüchern ist die Grundidee recht traditionell und geht auf christliche Überlieferungen zurück. Dabei sind die Offenbarungen als Beschreibung von guten Taten einer Person in dem Goldenen Buch für das Jüngste Gericht zusammengefasst. Dieses wird auch als Weißbuch bezeichnet. Ein Schwarzbuch ist dem entgegen ein Buch, in welchem die Sünden dargestellt werden. Vor diesem Hintergrund entwickelten sich Schwarzbücher als Enthüllungsliteratur. Ihr Sinn dabei besteht in der Anprangerung von Missständen. Damit ist dieses Genre aus der katholischen Tradition entwachsen und in eine moderne Sachbuchform überführt worden. Peter Hartz, Gerhard Schröder und Wolfgang Clement brauchen also durch die Veröffentlichung des Schwarzbuches Hartz IV keine gesteigerte Angst vor der Entscheidung an der Himmelpforte und einer Verbannung in die Hölle samt Fegefeuer haben. Ganz irdisch hingegen müssen sie mit der Wut und Organisierung der Betroffenen rechnen. In den Betrachtungen der Hartz-Reformen im Schwarzbuch ist ein Focus auf die Zwangs- und Kontrollmaßnahmen gelegt. So erscheint vieles im Trend einer neuen Unmittelbarkeit. Die gesellschaftlichen Vermittlungsprozesse hingegen, wie sie sich in dem Motto "Fördern und Fordern" ausdrücken, werden etwas vernachlässigt. Dies erklärt sich aus den Erfahrungen, wie sie die Betroffenen gemacht haben. Zum zweiten nahm die Bundesregierung ihr "Vermittlungsproblem" selbst war, wobei einige Aspekte an diesen Arbeitsmarkt- und Sozialreformen einfach nicht vermittelbar sind. Aus dem normativ entstammenden und sich wunderschön anhörenden "Fordern" und "Fördern" wurde - so wird in dem Buch argumentiert - ein bewusstes "Überfordern" mit Vorgaben an den Arbeitslosen von Seiten der Arbeitsagenturen und ein anschließendes "Herausbefördern" aus dem Leistungsbezug. In den Kantinen der ARGEn und Arbeitsagenturen hat sich für diese Praxis der Begriff "Verfolgungsbetreuung" gebildet. Dies meint, dass man dem "Kunden" so lange unannehmbare "Angebote" unterbreitet, bis damit eine Leistungskürzung begründet werden kann. In den Arbeitsloseninitiativen nennt man dies "raushartzen". Die versprochenen Wunder am Arbeitsmarkt konnten die Hartz-Reformen nicht einlösen. Somit bleibt nur noch die Kürzung bei sozial Schwachen übrig. Das Schwarzbuch ist nicht nur wichtig da man in ihm über die Arbeitsmarktpolitik im untersten Segment recht viel erfährt, sondern auch über die Betroffenen. Denn über kaum eine andere gesellschaftliche Gruppe (wenn dieser Begriff angesichts des abnehmenden wohlfahrtsstaatlichen Elements des Statuserhalts noch verwendet werden kann) bestehen so viele Missverständnisse wie über Arbeitslose. Im öffentlichen Diskurs sind recht negative Stimmungen gegen diese Menschen vorhanden. Dadurch wurden die Hartz-Reformen erst möglich. Im Alltagsbewusstsein wird die Problematik der Arbeitslosigkeit nicht als strukturelles Problem des entwickelten Kapitalismus wahrgenommen, sondern dem Verhalten der einzelnen Betroffenen zugeordnet. Dabei hatte sich die Subjektivierung und Individualisierung von sozialen Problemlagen schon vor den Reformen der Rot-Grünen Bundesregierung gesellschaftlich durchgesetzt. Dies wurde mit den Hartz-Gesetzen über das "Fallmanagement" und die "Ich-AG" verstärkt. Um so mehr erstaunte die Organisationsfähigkeit von Arbeitslosen wie sie sich in den Protesten zeigte. Dies gilt, auch wenn das eigentliche Ziel einer Rücknahme der Hartz-Gesetze nicht erreicht wurde. Bei einer Betrachtung über den Tellerrand, nämlich nach Frankreich, zeigt sich ein anderes Ergebnis. Dort musste am Anfang dieses Jahres die Regierung nach massiven Protesten, an denen sich auch viele Studierende beteiligten, die Gesetze zur Verschlechterung der Position von Berufseinsteigern zurücknehmen. Proteste und politisches Engagement sind also keineswegs historisch überholt. Zur Aktivierung von Widerstand kann das Schwarzbuch Hartz IV einen Beitrag leisten, da es die Arbeitsmarktreformen aus der Perspektive der Betroffenen darstellt und die Aktionen am Anfang des Jahres 2005 dokumentiert und reflektiert. Und dies passiert nicht im Stil des Geschwatzes wie bei Sabine Christiansen, wo dann zumeist ein Betroffener eingeladen wird und alle Mitleid haben, mit demjenigen der dabei plötzlich der Einzige zu sein scheint, der nicht in der "Hängematte" liegt und Sozialleistungen hinterzieht. In diesem Sinne ist das Schwarzbuch Hartz IV ein sinnvoller Beitrag und bei weitem kein Schwatzbuch. Es ist eine durchaus ernsthafte, wenn auch an manchen Stellen leicht erregte Auseinandersetzung. Agenturschluss (Hrsg.): Schwarzbuch Hartz IV, Sozialer Angriff und Widerstand - Eine Zwischenbilanz, Berlin 2006: Verlag Assoziation A, 188 Seiten, 11 Euro |