Die "große" Demo in Berlin
Die Ärzte am Krankenbett des Kapitalismus liefen unbehelligt vorneweg
Die DGB-Demo am 16.5. in Berlin zeigte eine große Spaltung: Vorneweg die Stützen von Kapital und Regierung: Müntefering, Künast, Sommer, Bsirske, Özdemir. Also die Verantwortlichen für Sozialabbau, Agenda 2010 und Rente mit 67. Später dann als Redner auf der Bühne an der Siegessäule: Sommer, Huber, Bsirske.
Dem Anlaß gemäß, legten die Redner die kämpferische Platte auf gegen die geldgierigen Manager. Am Montag schon schalteten sie wieder um auf konstruktive Zusammenarbeit mit Regierung und Kapital bei der gemeinsamen Aufgabe: Der Krisenlösung.
Es ist schwer abzuschätzen, wieviele der etwa 80 000 Anwesenden auf die kämpferischen Töne abfuhren und Beifall klatschten. Deutlich sichtbar waren allerdings Gruppen und Blocks mit antikapitalistischen Parolen. Am schönsten fand ich Transparente mit dem Slogan: "Vorsicht, der Kapitalismus zuckt noch", kleine Zettelchen mit eben dieser Parole wurden zu tausenden auf die Straße gestreut. Köstlich: Vorneweg die Ärzte am Krankenbett des "noch zuckenden Kapitalismus" und dahinter tausende jüngerer DemonstrantInnen, die nichts von deren Heilkünsten halten und das Ende des Krisenkranken herbeiwünschen - aber die Ärzte unbehelligt werkeln lassen.
Obwohl sich Stützer und Stürzer ja wie Feuer und Wasser gegenüberstehen haben sie anscheinend einen gegenseitigen Nutzen und tun sich deswegen (noch) nichts. Für die Stützer haben die Stürzer den Nutzen der Füllmasse, d.h. die Teilnehmerzahl erhöht sich von sagen wir 40 000 auf 80 000. Für die Stürzer haben die Stützer den Nutzen, die kostenlosen Busse (inklusive Lunchpaket) zu stellen und die Gelegenheit zu bieten, sich während der Demo darzustellen. Keiner tat dem anderen was: Im Gegensatz zum 1. Mai in Berlin diesmal kein Versuch der DGB-Ordner, die Lautsprecherwagen linker Gruppen aus dem Zug zu drängen. Auf der Gegenseite keine Eier- oder Tomatenwürfe auf die Apologeten der Herrschenden in der 1. Reihe. Stattdessen entfernten sie sich schnell, um der Beschallung von der Siegessäule her zu entkommen.
Wir lesen immer öfter, daß die Krise die Massen erreicht. Aber die DGB-Führung erreicht die Massen nicht. Wenn nur die Hälfte der Krisenopfer, der über 170 000 entlassenen LeiharbeiterInnen, der Millionen in Kurzarbeit Befindlichen nach Berlin gefahren wäre, wäre das Ausdruck eines massenhaften Widerstandswillens im Volke gewesen. Vielleicht haben die Massen ja ein feines Gespür dafür, daß da Stützer des Systems Wählerstimmen absahnen wollen bei den beiden bevorstehenden Wahlen? Aber immerhin: Es gab etliche Transparente von Belegschaften, deren Betriebe von Schließung bedroht sind, auch ein Bus aus Hannover mit Conti-ArbeiterInnen war gekommen.
Als ich am Montag die Bilder in der Zeitung sah, mit Müntefering, Künast, Sommer, Bsirske usw., ohne sichtbare Bodyguards, unbehelligt in der ersten Reihe, fragte ich mich: Was sagen diese Bilder ihren Kumpanen, den Herrschenden? Sie sagen, seht mal, da trotten 80 000 Lämmer hinter uns her, lassen alles mit sich machen. Hier bei uns gibt es keine französischen Verhältnisse, kein bossnapping. Wir haben alles voll im Griff!
(In Frankreich gab es eine Demo, wo ein Boss von den Demonstranten stundenlang eingeschlossen wurde).
In Frankreich sagte der CGT-Sekretär Xavier Mathieu, nachdem die Conti-Arbeiter eine Polizeipräfektur besetzt und ein Conti-Büro demoliert hatten voll Stolz: Ihr seid keine Lämmer mehr sondern Löwen. In Deutschland suchen die Arbeiter nach den bereits abgebauten Automaten für die Bahnsteigkarten.
Franz Rehbein aus Hamburg
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