Home > Diskussion > Arbeit: Aktionen > 2006 > DGB > dgb_querl
Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Auf eigenen Beinen stehen, selber laufen lernen, langen Atem entwickeln!
- Gegen den Ausverkauf der sozialen Bewegungen -

Gleichgeschaltet?

Seit in den sozialen Bewegungen bekannt wurde, dass die Gewerkschaften für den 21. Oktober zu Großdemonstrationen aufrufen, wurde an dem Motto "Das geht besser" kein gutes Haar gelassen. Die Kritik richtete sich gegen die darin enthaltene Aussage, es sei schon gut, aber auch gegen die inhaltliche und organisatorische Planung ganz ohne Beteiligung der sozialen Bewegungen. Es gab die Ahnung, dass die böse Erfahrung mit dem Gewerkschafts-"Protest" gegen die Agenda 2010 im Frühjahr 2004 sich wiederholen und vom wortstarken Protest auf Demos in der Praxis nichts übrig bleiben würde. Vor allem aber gab es Kritik an der völligen Unterbelichtung der gesamten Auseinandersetzungen um Hartz IV.

Egal aus welcher Ecke grundsätzlich und im besonderen Kritik formuliert wurde, am Ende gab es immer wieder die gleiche überraschende Wende: Trotz aller Kritik riefen die "sozialen Bewegungen" allesamt zur Teilnahme an diesen Demos auf.

Die Begründung blieb im wesentlichen das "trotzdem". Wofür und was eine "gesamtgesellschaftliche Mobilisierung" zur Zeit sein soll, blieb genauso unbeantwortet wie die Frage, warum überhaupt und ausgerechnet auf diesen Demonstrationen eigene Positionen und Forderungen offensiv in die Gewerkschaften hinein getragen oder für weitergehende Ziele und Aktionsformen geworben werden müsse.

Falsche Hoffnungen geweckt?

Seit Ende September 2006 ist die Aktionsplanung des DGB für die "Herbst-Aktivitäten 2006" bekannt. Es gibt weder offiziell noch inoffiziell das Ziel, auch nur irgendeine der "Reformen" der Großen Koalition zu Fall zu bringen, noch z.B. ernsthafte Ansätze, einen Mindestlohn tatsächlich durchzusetzen. Die weiteren bis Frühjahr 2007 geplanten Aktivitäten der "Kampagne" provozieren schon beim Lesen heftiges Gähnen.

Die Demonstrationen am 21. Oktober haben diese Planungen nur konsequent umgesetzt. In keiner der gewerkschaftlichen Reden vom 21. Oktober 2006 wird das Ziel formuliert, eine "Reform" zu kippen. Ulrich Thöne, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, formuliert es in Frankfurt am ehrlichsten:
". die Gewerkschaften werden die Reformpolitik der Koalition im Herbst begleiten. Kritisch, mit Alternativen und durch Mobilisierung unserer Mitglieder. Wir wollen nicht die Regierung zur Hölle schicken. Wir wollen verhandeln und den Fraktionen klar machen, dass sie sich auf dem politischen Holzweg befinden. Wir nehmen politisch Einfluss und damit Demokratie ernst. Es bringt nichts, sich in Resignation oder Apathie zu flüchten. Wir müssen für unsere politischen Konzepte streiten. Wir haben zu allen Politikbereichen Ideen und Alternativen aufgezeigt. Wir wollen die Regierenden zu Reformen bewegen, die den Namen auch verdient haben. Mit Anhörungen und öffentlichen Veranstaltungen werden wir auf den politischen Prozess in Berlin einwirken."

Weder Arbeitszeitverkürzung noch eine vernünftige Grundsicherung, geschweige denn die aktuellen Verschärfungen bei Hartz IV sind überhaupt Thema der gewerkschaftlichen Reden.

Wer glaubt, die Gewerkschaften werden gegen die aktuellen Verschärfungen bei Hartz IV außer vielleicht einer müden Presseerklärung auch nur den kleinen Finger rühren, kann ruhig weiterschlafen.

Durchhalteparolen wie bei den K-Gruppen?

Die Teilnahme an einer Demonstration kann einen hohen Aufklärungs- und Organisationswert haben. Man kann Spaß in solidarischer Gemeinschaft haben und seinen Zusammenhalt festigen, man kann bei Regelverletzungen etwas über den wahren Charakter von bürgerlicher Demokratie und Polizei lernen, man kann das Gefühl von Kraft, Mut und Zuversicht bekommen - man kann aber auch das Gefühl bekommen, mit seinen Anliegen irgendwie verdammt allein dazustehen.

Welche Erfahrungen sollen Menschen und Gruppen aus den sozialen Bewegungen am 21. Oktober gemacht haben?

"Die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen gingen auf die Straße und 220.000 Menschen kamen. Es ist offensichtlich: die Leute haben die Schnauze voll. Sie wissen: ohne Druck kein Ruck in der Politik. Eindrucksvolle und mächtige Demonstrationen haben gezeigt: die Kraft ist da, jetzt muss sie genutzt werden."

"Daran wird um so deutlicher: wichtigster Kraftquell für den Protest, für den Widerstand ist: Soziale Bewegung und Gewerkschaften kämpfen gemeinsam."

"Was sie [die Große Koalition, d.V.] aber hören muss, was sie nicht ignorieren kann, ist die geballte Kraft des Widerstandes, wie sie sich im Streik und insbesondere im Generalstreik zeigt. Das hat die Bewegung in Frankreich gegen das CPE (das Gesetz, das den Kündigungsschutz für Berufsanfänger aufheben sollte) eindeutig vorgeführt.

Nur so kann die Würde der Menschen, die von Kapital und Kabinett mit Füßen getreten wird, wiederhergestellt werden."

(www.die-soziale-bewegung.de: Erstes Resumee und strategischer Ausblick nach dem 21. Oktober)

  • Wieso beschleicht einen wider besseres Wissen das unangenehme Gefühl, man würde ein Flugblatt der MLPD lesen?
  • Wieso sind 220.000 Menschen auf fünf Demos angesichts der anstehenden Umstrukturierungen ein Erfolg?
  • Wo zum Teufel ist irgendein Anzeichen für einen politischen Streik zu sehen?
  • Welche Gewerkschaft kämpft mit den sozialen Bewegungen für 10 Euro Mindestlohn, 30 Wochenstunden bei vollem Lohn- und Personalausgleich und 500 Euro Regelsatz für die Grundsicherung?
  • Was ist in der öffentlichen und internen Auswertung von diesen Demonstrationen hängen geblieben?

Wir haben hingegen das wenig schöne Gefühl, allein gelassen zu werden. "Verraten und verkauft"? Die sozialen Bewegungen verkaufen zarte Ansätze eigenständiger Organisation ohne Not an die Sozialdemokratie?

In dem Augenblick, wo mit inhaltlicher und organisatorischer Konsequenz die sozialen Bewegungen als ernst gemeinte und integre Opposition sich hätten bewähren können - mit ihrem ehrlichen Widerstand in öffentlicher Abgrenzung zur Verlogenheit gewerkschaftlicher Scheinopposition - kneifen sie den Schwanz ein und schlüpfen unter den warmen Mantel von Pappi? Sicherlich: Jede Bewegung bekommt die Führung, die sie verdient.

Über Organisation neu nachdenken

Vielleicht müssen wir über unser Verhältnis zu den Gewerkschaften und über Organisation neu nachdenken. Liegt nicht in der Struktur der kapitalistischen Umstrukturierung selbst materiell begründet, warum eine "gesamtgesellschaftliche Mobilisierung" mit den Gewerkschaften zumindest zur Zeit nur für eine nationale "Standortsicherung" und den "Erhalt deutscher Arbeitsplätze" möglich wäre?

Das ganze Unbehagen, das einen überfällt, wenn der Sozialstaat als Produktivkraft angepriesen wird, wenn die Löhne als Kaufkraft zur Stärkung des Wachstums verteidigt werden, wenn Gesamtbetriebsratschefs die Ausweitung des deutschen Exports fordern, um "die Japaner" auf dem nordamerikanischen Automarkt zurückzudrängen, wenn mit der Weltmeisterschaft im Export die deutsche Wettbewerbsfähigkeit unter Beweis gestellt werden soll und gleichzeitig der UN Menschenrechtsrat meldet, dass die Armut 2005 wieder weltweit gestiegen ist und alle fünf Sekunden ein Kind an Unterernährung und Krankheit stirbt - dieses Unbehagen erinnert uns daran, dass wir - übrigens früher mal gemeinsam mit "den sozialen Bewegungen" - gegen kapitalistisches Wachstum sind, weil es die Natur zerstört, weil es die Menschen kaputt macht, weil es keine Perspektive für alle Menschen auf der ganzen Welt sein kann. Es zeigt uns aber auch, wie weit der Kampf um den Erhalt deutscher Arbeitsplätze vom Kampf für eine international gerechte Weltordnung entfernt ist. Und das ist nur der materialistische Blick auf die Realität.

Die ideologische Seite ist: Je übler den Arbeitslosen mitgespielt wird, desto mehr sollte man mit der Solidarität der Beschäftigten rechnen können. Die Wahrheit ist umgekehrt: Objektiv führt Hartz IV reale Verarmung vor Augen und ist zum Symbol für gesellschaftliche Ausgrenzung geworden. Es ist das drohende Schwert über den Köpfen der Menschen, das bei Verlust des Arbeitsplatzes erbarmungslos zuschlagen wird. Es treibt die Beschäftigten dazu, alles für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes zu tun, und sei er noch so beschissen. Inzwischen arbeiten wohl zwei Millionen für weniger als Alg II, freiwillig, oder sie merken es nicht mal. Subjektiv treibt Hartz IV die Beschäftigten zur Verdrängung permanent drohender Arbeitslosigkeit und zur inneren wie äußeren Abgrenzung von den "Verlierern": Das könnte mir nie passieren, ich wäre da schnell wieder draußen.

Ich behaupte: Mehr als die Hälfte auch der gewerkschaftlich organisierten Kolleginnen und Kollegen befürwortet auch noch die geplanten Verschärfungen bei Hartz IV mit dem Argument: Wer von "unseren Steuergeldern lebt" muss sich auch gefallen lassen, dass seine Wohnung mal kontrolliert wird!

Die deutschen Gewerkschaften wollten oder konnten mit Beginn der Massenarbeitslosigkeit in den 1980er Jahren die Arbeitslosen und Prekären nicht organisieren. Nun bleibt ihnen gegen die doppelte Erpressung durch das internationale Kapital und das Heer der industriellen Reservearmee nur, gemeinsam mit dem Kapital stärkeres Wachstum zu fordern, auf Lohn zu verzichten und weitere Spezialisierung und Flexibilisierung in Kauf zu nehmen, um "deutsche Arbeitsplätze zu retten".

Für arbeitslose und prekarisierte Gewerkschaftsmitglieder bleibt Demo-Rhetorik - und der verdi-Erwerbslosenausschuss.

Eigentlich haben wir damit soviel oder so wenig zu tun wie Ärzte oder Fluglotsen.

Sag mir, was Du forderst, und ich sag Dir, wie ich später arbeiten muss.

Einen gesellschaftlichen Ausweg aus diesem Dilemma könnten die Arbeitslosen, Armen und Ausgegrenzten aufzeigen, weil allein ihre massenhafte Erscheinung die strukturelle Koppelung des menschlichen Existenzrechts an kapitalistische Arbeit in Frage stellt. Ihr Ausdruck als soziale Bewegung ist nichts anderes als die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen.

Nicht umsonst scheiden sich deshalb an dieser Forderung und gesellschaftlichen Perspektive die Geister. Sei es das "qualitative" oder "nachhaltige" Wachstum einer wie auch immer reformierten kapitalistischen Wirtschaft oder die gesamtgesellschaftliche Planung einer zukünftigen sozialistischen Ökonomie: Ihre mehr oder weniger linken Verfechter stammen allesamt aus dem gewerkschaftlichen Lager oder dem ehemaligen DDR-Umfeld und scheuen den Gedanken an die Nicht-Arbeit wie der Teufel das Weihwasser. Alle sollen immer arbeiten müssen. Manch einer droht gegen das bedingungslose Grundeinkommen gar schon mit dem Arbeitseinsatz im maroden deutschen Kanalisationssystem.

Angesichts des immensen gesellschaftlichen Reichtums, Ergebnis immer geringerer menschlicher Arbeit, aber wachsender gesellschaftlicher Kooperation, besteht die vordringliche Sorge dieser Planer darin, vor allem für andere zu planen, damit diese bloß nicht nicht arbeiten könnten. Aber die Wahrheit ist, dass der großen Gefahr, dass die einen (zwanghaft) arbeiten müssen, während die anderen etwa satt und ungestört auf der faulen Haut liegen dürfen, am effektivsten mit Marktwirtschaft und Massenarbeitslosigkeit zu Leibe gerückt werden kann. Deswegen werden sie wohl auch irgendwie dabei bleiben.

Sich dagegen selber zu organisieren, die freie Assoziation freier Produzenten, Verantwortung und Selbstbestimmung mündiger Menschen im selbst gewählten Kollektiv - das ist gar nicht so einfach, wie nicht nur die Geschichte der SU und DDR, sondern auch der Verlauf zahlreicher Alternativprojekte der jüngeren Geschichte zeigt.

Wie jetzt - wir sind die "Auserwählten"?

Zugegeben: Wie Millionen von Arbeitslosen sich ohne nennenswerten Widerstand demütigen und ausgrenzen lassen, stimmt nicht gerade optimistisch für die These, dass sie die "Auserwählten" für die Befreiung von kapitalistischer Arbeit und Vergesellschaftung sein sollen. Irgendwie scheinen sie auch noch nicht allzu viel davon gehört zu haben.

Nichtsdestotrotz: Wir arbeiten dran. Wir erhalten ein Arbeitslosenzentrum am Laufen, das übrigens auch von vielen anderen Gruppen genutzt wird. Darin bieten wir z.B. für alle offene Beratung an, und wir mischen uns in die Kommunalpolitik ein. Wir versuchen auch zu organisieren, dass niemand, der es nicht will, allein aufs Amt muss. Unser Anspruch ist, auch wenn wir ihn nicht immer einhalten, dass die widerlichen Schnüffler erst gar nicht in die Wohnung kommen. Wir haben so manches mal nicht übel Lust, dem Schergen auf der Behörde, der z.B. einer Frau mit einem Säugling aus Schikane oder blöder Untertanengesinnung wochenlang die Leistung verweigert, die Fresse zu polieren. Zumindest wer bei uns organisiert ist, kann immer auf unsere solidarische und tatkräftige Unterstützung rechnen.

Wenn zehn organisierte Menschen gegen Amtsschimmel und drohenden Polizeieinsatz das seit Wochen ausstehende Alg II in bar aus der Behörde rausholen, dann hat das einen höheren Aufklärungs- und Organisationswert für alle Beteiligten - und irgendwann auch darüber hinaus - als zehn schlappe Trillerpfeifen-Demos ohne Konsequenzen.

Vielleicht schaffen wir es sogar schon für das nächste Schuljahr, dass die Stadt für die Kinder von Arbeitslosen die Schulkosten übernimmt. Wer weiß, vielleicht entsteht daraus ja mal eine "gesamtgesellschaftliche Mobilisierung"?

Ist das eigentlich gewerkschaftliche Arbeit?

Michael Bättig, ALSO (Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg)

[Vorabveröffentlichung aus quer, der Zeitschrift für Erwerbslose, Heft 4/2006; Postfach 1363, 26003 Oldenburg, quer.infos@web.de]

Trau keiner Trillerpfeife

Kämpferische Kreativität und Aussagekraft deutscher Gewerkschaftsdemos stehen in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Anzahl der verteilten Trillerpfeifen. Trillerpfeifen werden an die Kleinen verteilt, damit sie mal so richtig Dampf ablassen dürfen - denn vernünftig äußern können sie sich ja noch nicht.

Dass auf der Demo am 3. Juni 2006 in Berlin so erfrischend wenig Trillerpfeifen gehört und gesehen wurden, ist allein schon ein Zeichen, dass ein eigenständiger Organisationsansatz richtig war.

Wenn wir (wieder) gleichzeitig Wut und optimistische Parolen haben, Trauer verspüren und witzige Einlagen bringen, fröhlich sind und ergreifende Lieder singen - dann sind auch unsere Demonstrationen wieder attraktiv.


Die Wolken deutscher Gewerkschaften

"Der Sozialstaat ist immer auch Produktivkraft. So gefährdet der drohende Fachkräftemangel die technologische Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Noch befindet sich Deutschland in der Produktion von Hochtechnologiegütern auf einem internationalen Spitzenplatz. Es ziehen jedoch Wolken auf. In der Spitzentechnologie eilen die skandinavischen Länder mit Siebenmeilenstiefeln davon. Von unten hohlen [sic!] die Schwellenländer kräftig auf. Will Deutschland auch zukünftig in der ersten Reihe der internationalen Arbeitsteilung sitzen, muss die Unterfinanzierung des Bildungssystems beendet werden. Niedriglohnstrategien sind hier völlig fehl am Platz. [.]
Wirtschaft und Sozialstaat sind kein Gegensatz. Ein moderner Sozialstaat setzt den Rahmen für eine leistungsfähige Volkswirtschaft.
"

(Dierk Hirschel, Chefökonom des DGB, in der FR vom 21. Oktober 2006)



Home | Impressum | Über uns | Kontakt | Fördermitgliedschaft | Newsletter | Volltextsuche
Branchennachrichten | Diskussion | Internationales | Solidarität gefragt!
Termine und Veranstaltungen | Kriege | Galerie | Kooperationspartner
AK Internationalismus IG Metall Berlin | express | Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken
zum Seitenanfang