letzte Änderung am 25. Sept. 2003

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Die "Rettung" des Alstom-Konzerns - Wohltat für Arbeitsplätze oder Lehrbeispiel europäischer Industriepolitik ?

GLIEDERUNG:

 

Der Marktradikalismus ist eine gute Sache - aber nur für die anderen, jedenfalls wenn`s drauf ankommt. Diese Devise charakterisiert die Politik der führenden EU-Regierungen ebenso wie jene der US-Administration Bush.

Soeben ging, wenngleich mehr oder minder ergebnislos, der Gipfel der Welthandelsorganisation WTO im mexikanischen Cancun zu Ende. Anlässlich der Tagungen in der Karibikstadt hatte die EU - ähnlich wie die USA - massive Forderungen an die Länder der so genannten Dritten Welt gestellt, die auf freien Kapital- und Investionsfluss in zahlreichen Sektoren, auf Liberalisierung verschiedener gesellschaftlicher Bereiche und Schutzmaßnahmen für private Investoren hinaus liefen.

Innerhalb der Europäischen Union gilt seit längerem ein - seit Inkrafttreten des Binnenmarkts im Jahr 1986 sukzessive heraus gebildetes - Handels- und Konkurrenzrecht, das vorrangig dem Schutz der "freien" transnationalen Konkurrenz dienen soll. Doch sobald die lupenreine Anwendung der  Marktregeln, die den wirtschaftlich Unterlegenen zum Untergang verurteilen, einschneidende Konsequenzen für die Nationalökonomie eines der führenden EU-Länder nach sich ziehen würde, verwandelt sich die wirtschaftsliberale Dogmatik in bloße Theorie. Das jedenfalls scheint die Anfang dieser Woche vorläufig zu Ende gegangene Alstom-Affäre zu belegen, auf ähnliche Weise wie das politisch konzertierte Eingreifen der deutschen Bundesregierung zur Abwendung der Pleite des Baukonzerns Philipp Holtzmann zum Jahreswechsel 1999/2000.

 

Der erste "Rettungsplan"  vom August

Am 6. August dieses Jahres wurde ein "Rettungsplan"  für den Alstom-Konzern, der als Anlagenbaugesellschaft vor allem im Energie- und Verkehrsbereich tätig ist und etwa den französischen Hochgeschwindigkeitszug TGV oder Bauteile für Nuklearanlagen herstellte, bekannt. Dieser war während der ersten Sommerwochen zwischen dem Wirtschafts- und Finanzministerium unter Francis Mer, den führenden Gläubigerbanken des Unternehmens sowie leitenden Managern von Alstom ausgehandelt worden. Heimlich, denn wenn die Kunden des Konzerns davon Wind bekommen hätten, bevor der Plan spruchreif sein würde, dann hätte Alstom auch gleich den Bankrott anmelden können. Die Anlagen, die das Unternehmen liefert, benötigen durchschnittlich 20 Jahre lang technische Betreuung, ob es sich um Reparaturen oder Ersatzteile handele. Sofern kein Vertrauen in die zukünftige "Zuverlässigkeit"  des Konzerns vorhanden ist, werden solch teure Anschaffungen eben woanders vorgenommen.

Doch Alstom hatte zu diesem Zeitpunkt 900 Millionen Euro Eigenvermögen bei 4,9 Milliarden Schulden, nachdem das vorige Geschäftsjahr mit insgesamt 1,38 Milliarden Verlust (bei einem Umsatz von 21 Milliarden Euro) abgeschlossen wurde.  Zudem waren soeben die Verkaufszahlen für den Monat Mai 2003 eingetrudelt, und die sahen rabenschwarz aus. Nachdem noch bei der Hauptversammlung der Aktionäre am 2. Juli, die eine finanzielle Sanierung des Konzerns beschloss, Optimismus an den Tag gelegt worden war, war es mit diesem wenige Wochen später vorbei.

Die Pariser Abendzeitung "Le Monde" hat am 12. August beschrieben, wie diese Verhandlungen sich abspielten. Während der letzten Juliwoche und der ersten Augusttage trafen sich die Führungskräfte von Banken, Alstom-Konzern und Ministerialkabinett täglich zwischen 22 Uhr und 5 Uhr früh im persönlichen Büro von Francis Mer, der sich freilich seinerseits im Urlaub befand ­ im Zigarrenqualm und nicht ohne sämtliche Kühlschränke zu leeren. Die Idee, die zuerst im Raum spukte, lief darauf hinaus, dass die im Staatsbesitz befindliche Atomtechnologie-Firma Areva in das Kapital bei dem vom Bankrott bedrohten Unternehmen einsteigen und 51 Prozent davon übernehmen solle. Doch die Areva-Präsidentin Anne Lauvergeon ließ darüber nicht mit sich reden: Die anvisierte Lösung hätte Areva zur direkten Konkurrentin des deutschen Siemens-Konzerns in dessen Tätigkeitsbereichen gemacht. Das aber wollte die Areva-Direktion vermeiden, da man gemeinsam mit Siemens die nächste Generation von Atomanlagen ­ den deutsch-französischen Reaktor EPR ­ zu bauen beabsichtigte.

Also einigte die traute Runde im Büro von Francis Mer sich auf eine andere Lösung: Der französische Staat selbst sollte 300 Millionen Euro Kapitaleinlage bei Alstom leisten, womit er danach 31,5 Prozent der Gesellschaftsanteile hielte, und zudem 200 Millionen Euro Kredite mit einer Laufzeit von fünf Jahren geben. Die beteiligten Banken wiederum sollten zusammen 2,3 Milliarden Euro vorschießen, davon die sieben französischen Gläubigerbanken allein 1,3 Milliarden und insgesamt 25 ausländische Banken den Rest. Das allerdings setzte voraus, dass keine einzige der potenziell Beteiligten, auf die dabei gezählt wurde, abspringen würde.

Allerdings waren die Haltungen in Wirklichkeit  durchaus geteilt: Die französischen Banken - vor allem das "G3" genannte Konsortium aus BNP, Société générale und Crédit agricole - suchten ihre Interesse durch Sanierung des Konzerns zu retten, während die ausländischen Banken sich lieber so schnell wie möglich zurückziehen wollten aus Furcht, noch mehr "faule Kredite"  hinterherzuwerfen. Der französische Staat warf daher sein ganzes Gewicht in die Waagschale und bestellte die Bankiers ­ sehr verärgert, ein heißes Augustwochenende im August "opfern" zu müssen ­ am ersten Samstag und Sonntag im August am Amtssitz des Wirtschaftsministers ein. Die ausländischen Banken akzeptierten den Plan schließlich, da sie durch die Aussicht auf eine Staatseinlage beruhigt wurden.

 

Die Verhinderung der Pariser Pläne

Doch andernorts sah man die nicht wirklich marktliberalen Lehrsätzen gehorchende Lösung, die da gebastelt worden war, mit anderen Augen. Der französische ultraliberale Politiker Alain Madelin ewa, der 1995 kurzzeitig Wirtschaftsminister gewesen war, meldete seine Bedenken an und forderte eine parlamentarische Untersuchungskommission. Auch der deutsche Wirtschaftsminister Hans Eichel ­ der Rettungsplan betraf auch deutsche Kreditinstitute ­ soll nach einem Bericht der Financial Times nicht begeistert gewesen sein; möglicherweise fühlte er sich auch einfach den Interessen von Siemens stärker verbunden als denen des französischen Partners, aber auch Konkurrenten dieses Unternehmens.

Der entscheidende Zwischenruf kam aber dann aus Brüssel: Der für das Konkurrenzrecht zuständige EU- Kommissar, der italienische Wirtschaftsliberale Mario Monti, betrachtete den Plan als möglichen Verstoß gegen die europäischen Handelsregeln. Denn den EU-Staaten sind "strukturelle Hilfen"  für Unternehmen verboten, sofern diese dazu führen könnten, die Bedingungen des Wettbewerbs zu verzerren. Am 4. September drohte er gar damit, von seinem Recht einer Suspendierung der Pariser Entscheidung und einer autoritären Weisung Gebrauch zu machen. Der Theaterdonner zwischen Paris und Brüssel rollte: In derselben Woche verkündete Frankreichs Premierminister Jean-Pierre Raffarin die Regierungsentscheidung, die Steuergeschenke für Frankreichs oberste Einkommensklassen doch zu verasbschieden, obwohl Paris in diesem Jahr eindeutig die vom EU-Stabilitätspakt vorgesehene Defizitgrenze verletzen wird.

Die vermeintliche"Provokation"  an die Adresse der EU-Kommission ist freilich nur höchstens eine halbe, denn zu Hause analysierte die französische Presse, dass Raffarin zugleich den daraus resultierenden Druck aus Brüssel einkalkuliert habe ­ als Druckmittel, um "strukturelle Reformen" etwa gegen die Sozialhaushalte zu beschleunigen. Doch als Raffarin am 6. September auch noch im französischen Fernsehen über die seelenlosen Bürokraten in Brüssel und ihre "buchhalterischen Gleichungen" herzog, tobte das heimische Theaterpublikum. Im Hintergrund soufflierte der "EU-skeptische" Linksnationalist Jean-Pierre Chevènement- - Bürgermeister am Alstom-Sitz Belfort ­ eifrig, notfalls solle Paris sich einfach über eine Weisung aus Brüssel in Sachen Rettungsplan für den Konzern hinwegsetzen.

 

Der Kompromiss vom Montag zwischen Paris und Brüssel

Doch zu einer solchen Ausweitung der Krise kam es dann nicht. Paris überarbeitete seinen Plan nochmals. Um den Anforderungen aus Brüssel zu genügen, griff die französische Regierung auf eine juristische Eigentümlichkeit in Gestalt der so genannten TSDDRA zurück ­ es handelt sich um "Bedingte Werttitel auf Zeit, die in Aktien rückzahlbar sind". Es handelt sich um eine Art von juristischer Zwittergestalt, eine so genannte Wandeleinlage: Wenn eine vorab festgeschriebene Bedingung eintritt, in diesem Fall das spätere grüne Licht aus Brüssel, bilden die 300 Millionen, die vom Staat für diese Wertpapiere ausgegeben werden, eine Kapitaleinlage. Bleibt die Bedingung aber aus, dann verwandeln sie sich in einen Langzeitkredit über 20 Jahre, der dann zurückbezahlt werden muss.

Zugleich mit der Umwandlung der 300 Millionen Euro staatlicher Kapitaleinlage in TSDDRA für ebendiese Summe gewährt der Staat nunmehr zusätzlich 200 Millionen Euro Langzeitkredite über 15 Jahre an Alstom (die bis dahin nicht vorgesehen waren), plus 300 Millionen (statt bisher geplanter 200 Millionen) an Krediten mit einer Laufzeit von 5 Jahren. Insgesamt also schießt der französische Staat nunmehr 800 Millionen Euro zu, statt "nur" 500 Millionen nach dem alten Plan vom 6. August dieses Jahres.

Dies, während die französischen Banken ihrerseits ihr Kreditvolumen für den Konzern von 1,3 auf 1,4 Milliarden Euro angehoben haben. Für die ausländischen Banken ändert sich hingegen nichts durch die Neuauflage des Plans; sie haben dem neuen Plan am Montag abend zugestimmt, als letzte ­ und nach einigem Zögern ­ die deutsche Kommerzbank. Die Deutschen hatten zuletzt gezögert, die sie auf das Beispiel der Holtzmann-Pleite hinwiesen, wo trotz der politischen Intervention der Bankrott letztendlich nicht abgewendet wurde.

Die Brüsseler Kommission hat damit ihr Gesicht gewahrt und ihrem juristischen Standpunkt Geltung verschafft ­ auch wenn sie mit ihrem vorläufigen grünen Licht vom Montag abend einem Plan zugestimmt hat, der letztendlich (durch die Aufstockung der vom Staat aufgebrachten Gelder um 200 Millionen Euro längerfristiger Kredite) mehr Staatsintervention vorsieht als jener, der im August zurückgewiesen worden war. Brüssel will sich nunmehr einige Zeit lassen ­ Kommissar Mario Monti bezeichnete eine Frist von sechs Monaten bereits als "ehrgeizig kurz" - , um zu prüfen, ob die 300 Millionen letztendlich als Kapitaleinlage getätigt werden dürfen oder nicht.

Zugleich hat die EU-Kommission eine stärkere politische Krise vermieden. Im Falle eines Bankrotts des Alstom-Konzerns wäre ohne Zweifel alle Schuld für die Vernichtung von Zehntausenden Arbeitsplätzen auf ihre Schultern abgeladen worden.

Denn der französische Staatberuft sich vor allem auf die Rettung von Arbeitsplätzen. Seiner Position hat sich, nach dem Chirac-Schröder-Gipfel am 18. September in Berlin, nunmehr auch die deutsche Bundesregierung angeschlossen. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement nutzte den Anlass, um sich zum Superlobbyisten der Industrie aufzuschwingen: Die EU-Kommission, verlautete er am Rande der Tagung des "deutsch-französischen Ministerrats" vom 18. September in Berlin, solle doch gefälligst auch mal an die Bedürfnisse "der Industrie, die 45 Millionen Menschen in Europa beschäftigt", denken.

Dabei scheint sich die, nunmehr (anders als noch Anfang August) nahe an der Pariser Position liegende, Haltung der deutschen Bundesregierung wohl mit jener des Siemens-Konzerns zu decken ­ also jenes wirtschaftliche Akteurs, der wohl die größten Eigeninteressen im betreffenden Bereich hat. Wie die Wirtschaftszeitung "Les Echos" (vom 22. September) nach einem Gespräch mit Siemens-Vorstandschef Heinrich von Pierer analysiert, habe der Siemens-Konzern in Wirklich eine ambivalente Position: Einerseits wünsche er die Aufrechterhaltung eines zweiten größeren europäischen Unternehmens im Bereich des Anlagenbaus und des Infrastruktur-, Energie- und Transportsektors, "um der amerikanischen und japanischen Konkurrenz begegnen zu können". Das bedeutet konkret, um zu verhindern, dass der US-Konzern General Electric ­ "der" große Rival ­ eine vorherrschende Position gewinnt und etwa bei größeren Infrastrukturprojekten in Europa einsteigen kann. Andererseits aber schließe das für Siemens den Wunsch nicht aus, Teile des Tätigkeitsfelds des Konkurrenten selbst zu übernehmen. (Tatsächlich hat Siemens soeben Alstom zwei Geschäftsbereiche, die beide den Bau von Turbinen betreffen, für 1,1 Milliarden Euro abgekauft.)

 

Das Arbeitsplatz-Argument: Treibendes Motiv der Politik ??

Tatsächlich zielt das Regierungshandeln bestimmt nicht in erster Linie auf die Bewahrung von Arbeitsplätzen ab, sondern darauf, ein Spitzentechnologie-Unternehmen als wichtigen Bestandteil des nationalen Prestiges am eigenen "Standort" zu behalten. Der französische Hochgeschwindigkeitszug TGV etwa ist sowohl ein nationales Prestigeprojekt als auch (in jüngerer Vergangenheit jedenfalls) ein Exportschlager, mit dem französische Regierungschefs in China und Korea hausieren gingen.

Zwar trifft es zu, dass der unmittelbare Untergang von Alstom sehr kurzfristig mehrere Zehntausende zusätzlicher Erwerbsloser bedeutet hätte. Allerdings beinhaltet der jetzige Rettungsplan keinerlei verbindliches Engagement in Sachen Beschäftigungssicherung, was vor allem die Gewerkschaften wie die CGT bei Alstom beklagen. Und die Arbeitsplatz-Entwicklung bei Alstom weist ohnehin eine deutliche Tendenz nach unten auf, auch ohne brachialen Einschnitt durch einen Bankrott. Im Jahr 2001 beschäftigte der Konzern weltweit noch 143.000 Beschäftigte. Derzeit sind es noch 118.000 (davon 28.000 in Frankreich, 11.000 in Deutschland und rund 5.000 in der Schweiz).

Anteilsmäßig arbeiten 57 Prozent der Alstom-Beschäftigten in verschiedenen EU-Ländern, weitere 14 Prozent in anderen europäischen Staaten. 14 Prozent arbeiten in (Ost-)Asien, 9 Prozent in Nordamerika, 5 Prozent in Lateinamerika und nur 1 Prozent in Afrika und dem arabischen Raum.

Doch bereits jetzt ist ein weiterer Abbau von Arbeitsplätzen garantiert. Seit Juni dieses Jahres ist die Reduzierung der Beschäftigtenzahl in Großbritannien von derzeit 10.000 auf 5.000 beschlossene Sache. Außerhalb Europas sollen zur gleichen Zeit weitere 2 000 Stellen abgebaut werden. Dieser Gesamtabbau von 7.000 bis 8.000 Arbeitsplätzen ist am Montag erneut bekräftigt worden, um die in Gang befindliche Sanierung des Konzerns herauszustreichen.

Und da der Verkauf des Sektors "Energieleitungen"  an Areva sowie ein Teil des Turbinengeschäfts an Siemens ebenfalls beschlossene Sache sind, werden damit weitere 35 000 Arbeitsplätze aus dem Alstom-Konzern ausgegliedert. Sie werden dabei zunächst bewahrt, doch vermutlich wird ein Teil von ihnen wegen Überkapazitäten in den übernehmenden Betrieben später abgebaut werden. Dem Alstom-Konzernen werden damit (nach "Les Echos" vom 23. September) in absehbarer Zukunft 75.000 Beschäftigte verbleiben, gegenüber den genannten 143.000 noch vor zwei Jahren.

Die Gewerkschaften fürchten weiter Stellenverluste, zumal Alstom nunmehr im Rahmen des Rettungsplans zu einer baldigen "Gesundschrumpfung" gezwungen sein wird. Derzeit wird insbesondere an ein Abstoßen des Schiffbausektors gedacht, nachdem der bisher größte Auftrag, jene für den Dampfer "Queen Mary 2"  (ein Schiff der Superlative) bis Ende dieses Jahres abgeliefert sein wird. Denn für die Zeit danach droht, nach bisherigem Stand, im Wesentlichen Leere in den Auftragsbüchern des Sektors zu herrschen. Deswegen sind auf den Werften im westfranzösischen Saint-Nazaire die Befürchtungen unter den Beschäftigten auch derzeit am sichtbarsten. Während an anderen französischen Alstom-Standorten zu Anfang der Woche das bange Abwarten überwog, kam es im Atlantikhafen Saint-Nazaire am Montag zu Warnstreiks, bevor am Abend das vorläufige"grüne Licht" aus Brüssel eintraf. Rund 2.000 Beschäftigte hatten zuvor die Arbeit niedergelegt und sich an einer Versammlung vor den Werkstoren beteiligt. Doch auch nach der Nachricht von der vorläufigen" Rettung" des Alstom-Konzerns überwog hier die Skepsis, wie die Tageszeitung "Le Parisien"  in ihrer Reportage vor Ort unterstreicht.

 

Woher rühren die roten Zahlen ? Vorstandspolitik und Beschäftigteninteressen

Dass Alstom überhaupt in die roten Zahlen geriet, hat wenig bzw. gar nichts damit zu tun, dass die Ausbeutung der Lohnabhängigen nicht effektiv genug funktioniert hätte. Im Gegenteil hat Alstom hier zu "modernsten"  Methoden gegriffen, etwa in seinen Werften im Atlantikhafen von Saint-Nazaire. Die "Queen Mary 2" etwa wurde (und wird) hier großenteils von ausländischen Subfirmen gebaut, die jeweils für nur wenige Monate ausländische Arbeitskräfte unter prekärsten Bedingungen ­ und oft unter arbeitsrechtlichen Verhältnissen, wie sie in den Herkunftsländern üblich sind ­ importier(t)en.

Das lässt sich an den sozialen Konflikten auf den Alstom-Werften in den "Chantiers Navals de lčAtlantique" in Saint-Nazaire ablesen: Im März 2003 streikten dort die Inder, im April die Griechen, und Mitte August blockierten rumänische Arbeiter die Werft. Deren Firma, die rumänische Gesellschaft Impex, bildete ein Sub-Sub-Unternehmen bei der Fertigstellung der QM2 ; es arbeitete, im Auftrag des selbst von Alstom eingesetzten italo-indischen Subunternehmens Avco, an den Klimaanlagen für die QM2. Die Sub-Sub-Unternehmen stand kurz vor der Pleite. Bis Mitte August hatte es noch immer nicht die Löhne für die Monate Juni und Juli ausgezahlt, geschweige denn die Vergütung für zahllose Überstunden, die die 92 Rumänen seit ihrer Ankunft in Saint-Nazaire im Januar 2003 geleistet hatten. (Eine nähere Beschreibung des Konflikts findet sich u.a. in der Wirtschaftszeitung "La Tribune" vom 28. August 03. Das Blatt präzisiert, insgesamt 8.200 Beschäftigte arbeiteten in Saint-Nazaire für 800 Subunternehmen von Alstom; darunter seien circa 1.400 EU- und circa 1.100 Nicht-EU-Ausländern. Bezüglich der kurzzeitig "importierten" Arbeitskräften schreibt die Wirtschaftszeitung: "In der Mehrzahl der Fälle beträgt die Arbeitszeit rund 60 Stunden pro Woche für einen Lohn, der unterhalb des französischen gesetzlichen Mindestlohns SMIC liegt, und von dem der Arbeitgeber dann noch die Unterbringungskosten abzieht.")

Wenn Alstom in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet, dann liegt es zum größten Teil an der Unternehmenspolitik der Konzernleitung. Etwa, als im Jahr 1998 bei Börseneinführung des neuen Konzerns GEC Alstom ­ hervorgegangen aus einer Fusion des französischen Elektro-Unternehmens Alcatel (in den Achtziger Jahren noch unter dem Namen Compagnie Générale de lčElectricité bekannt) und dem vergleichbaren britischen Unternehmen General Electric Company ­ einfach mal beschlossen wurde, eine "Superdividende" von 1,22 Milliarden Euro an die Aktionäre auszuschütten. Oder als Alcatel dem Produkt seiner eigenen Fusion mit der britischen GEC seine Filiale Cegelec, die im Telefonanlagenbereich tätig ist, für teure 1,5 Milliarden Euro vermachte. Das Eigenkapital des neuen Konzerns wurde so durch seine Eigentümer "ausgetrocknet", obwohl gerade im Anlagenbau eine langfristige "Verlässlichkeit" des Unternehmens seitens der Kunden erfordert wird.

Fehlspekulationen beim Kauf eines Turbinenbereichs des schweizerisch-schwedischen Unternehmens ABB (Asean Brown Bowery), bei dem Alstom sich 1999/2000 finanziell übernahm ­ die Gasturbinen funktionierten nie so, wie sie eigentlich sollten, und wurden zum riesigen Verlustgeschäft ­ kamen hinzu. Nachdem Alstom auf diese Weise ohnehin angeschlagen war, riss die Krise in der US-Tourismusbranche nach dem 11. September 2001 den Konzern zusätzlich hinab. Die Pleite des nordamerikanischen Kreuzfahrtunternehmens Renaissance, Ende September 2001, bedeutete den Verlust eines Großkunden für die Alstom-Werftbetriebe. Die Pleite des größten US-Energieunternehmens Enron im Jahr 2001 sorgte daneben für Umsatzrückgänge des gesamten Energiesektors.

Das hatte den am 11. März dieses Jahres durch Patrick Kron ersetzten Ex-Vorstandsvorsitzenden von Alstom, Pierre Bilger, zunächst nicht daran gehindert, sich zum Abschied satte 5,1 Millionen Euro Abfindung auszahlen zu lassen. Doch Mitte August, unter dem Druck der Ereignisse, sah Bilger sich zu einer spektakulären Geste veranlasst: Er erklärte in einem Brief an seinen Nachfolger vom 15. 08, vor allem aber mittels eines ganzseitigen Interviews in "Le Monde" (vom 19. 08.) und damit öffentlichkeitswirksam, von der Summe 4,1 Millionen Euro zurückzuzahlen. (Eine Million Euro behält er nach eigener Aussage als "mein Gehalt zwischen April 2002 und seinem Abgang am 11. März".) Seit der Enron-Pleite steht das Kapital weltweit unter einem gewissen moralischen Druck.  

Bernhard Schmid (Paris)

ERGÄNZUNG

Zum gestrigen Artikel betreffend die "Rettung" des Alstom-Konzerns soll folgendes nachgetragen werden: Neben der in dem Text erwähnten Entlassungen, die in Großbritannien (5.000 Beschäftigte) und im außerhalb der EU gelegenen Ausland (2.000 Beschäftigte) bereits angekündigt sind, kommen auch am französischen Alstom-Hauptsitz selbst weitere 900 Entlassungen hinzu.

So soll die Beschäftigtenzahl im ostfranzösischen Belfort, wo Alstom - ehemals Compagnie Générale de l'Electricité - seit 125 Jahren seinen Hauptsitz hat und wo 10 Prozent der Wohnbevölkerung im Konzern arbeiten, von derzeit 3.300 auf demnächst 2.400 reduziert werden. Dieser Stellenabbau ist,
wie in den anderen o.g. Fällen, bereits im Juni dieses Jahres angekündigt und Anfang dieser Woche (mit dem grünen Licht aus Brüssel zum "Rettungsplan") nur bekräftigt worden. Damit beträgt die Gesamtzahl der geplanten Entlassungen 8.000.

Nach Darstellung der Pariser Tageszeitung "Libération" vom Mittwoch (24. September) haben in den Werkstätten in Belfort die Vorarbeiter bereits damit begonnen, die Statistiken über Krankheit- und Fehlzeiten abzugleichen, um die alsbald zu Entlassenen auszusortieren.

Übrigens hat auch in Belfort am Montag, an dem es um die Fortexistenz des Alstom-Konzerns ging, eine Demonstration stattgefunden. Diese versammelte laut "Libération" knapp 1.000 Personen vor der Präfektur von Belfort. Nach Angaben der Zeitung habe es sich aber vorwiegend um Rentner, Familienangehörige von Beschäftigten, andere Einwohner sowie örtliche Politiker (wie der linksnationalistische Bürgermeister Jean-Pierre
Chevènement) gehandelt, "aber nur wenige aktiv Beschäftigte" seien gekommen. Wie an anderen Alstom-Standorten auch überwiegen derzeit eher (lähmender) Pessismus und Misstrauen gegenüber der näheren Zukunft. Ein Beschäftigter wird in "Libération" zitiert: "Wollen Sie die Wahrheit wissen? Die 800 Millionen vom französischen Staat werden dazu dienen, die Sozialpläne und Entlassungen für uns zu finanzieren."

B. S., Paris

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