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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Geschlafen wird am Monatsende Erfahrungen ›on the road‹ – aus dem Logbuch von Jochen Dieckmann Alljährlich im Herbst begeht die internationale Gewerkschaft der Transportarbeiter (ITF), der auch ver.di angehört, ihre globale Aktionswoche, in der sie mit oft grenzüberschreitenden Aktionen u.a. auf die Probleme der Fernfahrer aufmerksam macht. Nach jahrelangen Protesten und der ITF-Kam-pagne »Übermüdung tötet« hat sich deren Situation zumindest innerhalb Europas und zumindest auf dem Papier verbessert: Seit 2006 gilt die europaweite Verordnung zu Lenk- und Ruhezeiten. An der Realität hat sich allerdings wenig geändert, wie unser ehemaliger Redaktionskollege Jochen Dieckmann in seinem letzten Job als Trucker erfahren, in Logbüchern festgehalten und nun als Buch veröffentlicht hat.* Seine Touren führen die LeserInnen von Rotterdam durch Südosteuropa nach Istanbul, von Marokko über Wales nach Kiew – oder von den Niederlanden ins Niemandsland... »On passant« wird berichtet über Umbrüche in der Speditionsbranche, die Auswirkungen der Just in Time-Produktion auf die Arbeitsbedingungen der Fernfahrer, ›heimliche‹ Leiharbeit für Einzelhandelskonzerne, Rechtsstaatlichkeit und Rechtsbewusstsein in Osteuropa vor und nach 1989, Harakas – illegale Flüchtlinge in Nordafrika, das Geschäft mit den Schrott- und Mülltransporten – und immer wieder über Manipulation und Korruption in Speditionen und den zuständigen Behörden. Pünktlich zu Ferienbeginn dokumentieren wir Auszüge aus Jochen Dieckmanns Buch und laden ein, den Autor lesend und damit zumindest ideell auf weiteren Etappen seiner Reisen zu begleiten: Verschollen im Niemandsland Seit letzter Nacht gibt es mich nicht mehr, ich bin ein Niemand im Niemandsland. Ich stehe mit meinem Vierzig-Tonner-Sattelzug mit Kühlauflieger in einer idyllischen Gegend an der Theiß, im Grenzgebiet zwischen Ungarn und der Ukraine, kann weder vor noch zurück und habe keine Ahnung, wie dieses Problem nun gelöst werden soll. Ich hatte die Chefs gewarnt, aber ich bin ja nur ein Trucker, und auf uns hört sowieso niemand. Und ich habe plötzlich etwas, was in meinem Beruf sehr, sehr selten ist: Zeit! Viel Zeit, sogar mehr Zeit, als mir lieb ist. In gut zwei Metern Umkreis um mich herum habe ich in meiner Fahrerkabine alles, was ich brauche, um halbwegs komfortabel überleben zu können, selbst wenn ich hier mehrere Tage warten müsste. Ich hatte erst kürzlich all meine Wäsche waschen können und auf der Durchreise irgendwo in Tschechien Wein, Brot und Käse eingekauft. Auch meine Trinkwasservorräte sind aufgefüllt, ich habe fast zwanzig Liter dabei. Hinter dem Sitz befindet sich mein Bett, ich habe eine Taschenlampe, meinen privaten Werkzeugkasten, gute Bücher und Hörbücher, Laptop und noch einige DVDs. Außerdem ein Handy mit deutschen, ungarischen und ukrainischen SIM-Karten sowie einen dicken Stapel guter Straßenkarten von vielen Ländern. Aber die brauche ich gerade nicht, denn an Fahren ist derzeit nicht zu denken. Um mich herum ist alles dunkel und wunderbar ruhig. Ab und zu bellt von weitem ein Zollhund, und irgendein Nachtvogel singt ein Klagelied. Das wäre ja ganz romantisch, wenn ich nicht in dieser misslichen Lage im Niemandsland wäre. Eigentlich sollte ich auf dem Weg nach Kiew sein. Letzte Nacht kam ich von Budapest und habe nach »nur« wenigen Stunden die ungarischen Grenzformalitäten im Grenzdorf Zahony hinter mich gebracht. Ich habe offiziell die EU verlassen, was mir durch viele wichtig aussehende Stempel auf meinen diversen Papieren bestätigt wurde. Um Mitternacht verlasse ich Ungarn, überquere den Grenzfluss Theiß und gelange nach wenigen hundert Metern zur ukrainischen Grenzstation. Die Gegend hier nennt sich Transkarpatien, die ukrainische Grenzstadt heißt je nach Schreibweise Chop oder Tschop, auf den Schildern steht aber nur auf Kyrillisch: Чоп. An der Grenzstation beginnt die übliche Prozedur: Waage, Laufzettel, erste Kontrolle der zahlreichen Papiere, dann fünfzig Meter Fahrt zum Zollparkplatz. Nun sollte eigentlich der Hürdenlauf an den diversen Abfertigungsschaltern beginnen, doch bereits am ersten Schalter gibt es Probleme. Hier residiert die in Trucker-kreisen gefürchtete Behörde SMAP, die nationale ukrainische Transportkontrollbehörde. Zuerst scheint alles reibungslos zu verlaufen, an den rund zwei Kilo Zoll- und Fahrzeugpapieren gibt es nichts zu beanstanden. Als der uniformierte Beamte jedoch die Taschenlampe aus dem Schrank holt, ahne ich schon, was nun folgen wird: Fahrzeugkontrolle. Ich weiß, was er sehen will, sie kontrollieren immer das Gleiche. Unter anderem die Reifen an den drei Hinterachsen. Zumindest auf jeder einzelnen Achse sollte links und rechts das Profil gleich sein. Die Vorschrift ist sinnvoll, in EU-Ländern wird das allerdings eher selten kontrolliert. Nicht so bei der SMAP. Meine holländische Firma hatte schon oft Probleme damit, und ich verstehe einfach nicht, wieso die Büromenschen nicht darauf achten, dass dieses Detail eingehalten wird – im Allgemeinen wegen der Verkehrssicherheit und im Besonderen bei Fahrten in die Ukraine wegen der SMAP. Nun haben wir den Salat, und ich muss innerlich ein wenig grinsen. Viele ukrainische Polizisten und Zöllner sind korrupt. Man kann durch die diskrete Überreichung eines kleineren Euro-Scheins viele Probleme aus der Welt schaffen. Ausgerechnet bei der SMAP sind allerdings relativ wenige Beamte bestechlich, von »meinem« Kontrolleur weiß ich von früheren Grenzübertritten, dass ich es gar nicht erst zu versuchen brauche. Er bleibt sehr freundlich, weist mich aber darauf hin, dass ich mit diesen Reifen mit Sicherheit nicht in die Ukraine einreisen dürfe. Zurück im Büro, sammelt er die Papiere zusammen, gibt mir den ganzen Packen zurück und fordert mich auf, mitsamt meinem Lkw die Ukraine wieder zu verlassen. Ein Kollege erklärt mir das alles auf Englisch. Man habe meine Firma schon lange im Auge, jedes Mal gebe es Beanstandungen an den Fahrzeugen, nun reiche es, ihre Geduld sei zu Ende, ich dürfe nicht einreisen, und damit basta. Irgendwie sehe ich sogar ein, dass sie recht haben. Ich verlasse also die Ukraine wieder, ohne überhaupt richtig eingereist zu sein. Die Ungarn aber wollen mich nicht wieder in ihr Land lassen. Ich habe keine Einfuhrpapiere für die Ware, denn deren Ausfuhr aus der EU war ja erst vor wenigen Stunden amtlich bestätigt worden. Da es weder vor noch zurück geht, bleibt mir keine andere Wahl, als im Niemandsland zu warten und für heute Feierabend zu machen. Dieses Problem sollen morgen Leute lösen, deren Meinung höher bezahlt ist als meine. In der Kantine der ukrainischen Grenzstation habe ich mir noch ein kühles Feierabendbier kaufen können. Während ich es genieße, überdenke ich meine Situation. Seit einem Jahr bin ich also nun wieder Fernfahrer. Seitdem bin ich fast pausenlos unterwegs in ganz Europa und darüber hinaus. Ich war in 24 Ländern, immer eilig und getrieben, fast jeden Tag in einem anderen Land. Weihnachten war ich in Kiew, Ostern in Istanbul, Pfingsten in Leicester, und an meinem 50. Geburtstag stand ich in einem Industriegebiet in der Vorstadt von Marseille. Zu Hause in meinem eigenen Bett habe ich schon seit Monaten nicht mehr geschlafen. Kurz gesagt: Ich habe einen ganz normalen Truckerjob. Mit Romantik hat diese Arbeit allerdings ungefähr so viel zu tun wie das Weihnachtsgeschäft am vierten Adventssamstag mit Besinnlichkeit und Frieden. »Kapitän (oder gar König) der Landstraße«, »Freiheit und Abenteuer«, »lonesome Cowboy« – all diese Klischees haben mit der Wirklichkeit eines Fernfahrers absolut und überhaupt nichts zu tun. Diejenigen, die das am besten wissen und – wenn sie ehrlich sind – bestätigen können, sind wir selbst. Jede Sekunde meiner Arbeit wird dokumentiert, über Satellitenpeilung kann die Firma nicht nur meinen aktuellen Standort sehen, sondern auch, ob ich fahre, stehe oder die Türen öffne. Für jede Pinkelpause habe ich mich zu rechtfertigen, ich muss sieben Tage die Woche 24 Stunden der Firma zur Verfügung stehen, der kleinste Fehler kann mich noch Wochen später bei einer Lkw-Kontrolle teuer zu stehen kommen. Oder zwei Monate später zu einem Lohnabzug führen. Auch die Tatsache, dass ich oftmals in Gegenden fahren muss, die meine Landsleute normalerweise nur mit Urlaub assoziieren, reißt mich nicht mehr vom Hocker. Dafür habe ich dort schon zu viel hinter die Kulissen schauen können. (...) Ich fahre für einen niederländischen Familienbetrieb mit einigen Dutzend Lkw, der dieses Geschäft in der dritten oder vierten Generation betreibt. Daher habe ich leider auch gleich mehrere Chefinnen und Chefs. Neben dem Buchhalter und der Putzfrau arbeiten als Angestellte in dem Betrieb noch zwei bis drei sogenannte Disponenten, das sind die Planer der Touren. Sie sind zwar eigentlich Kollegen und auf unsere Zusammenarbeit angewiesen, aber diese Schreibtischhengste behandeln alle Fahrer so, als wären sie ebenfalls unsere Vorgesetzten. In dieser Firma herrscht ein rauer Ton. Vorher hielt ich Niederländer immer für freundlich und tolerant. Von diesem Bild ist nichts mehr übrig geblieben. Sowohl den Chefinnen und Chefs als auch den Disponenten scheint es wichtig zu sein, die Fahrer so schlecht wie möglich zu behandeln. Zu den niederländischen Kollegen sind sie unfreundlich, zu uns Ausländern geradezu feindselig. Die Chefs sind zudem launisch und oft auch cholerisch. Es herrscht ein Klima von Angst, Einschüchterung und guter Miene zum bösen Spiel. Wir Fahrer sind immer froh, wenn wir endlich wieder auf Tour gehen und uns dieser aggressiven Atmosphäre entziehen können. Möglicherweise ist dieser Betrieb extrem ausbeuterisch und verstößt mit geradezu krimineller Energie gegen zahlreiche Gesetze, aber das Muster kennt fast jeder Trucker. Folgende Dinge gehören in der gesamten Branche zum Alltag der Fahrer: Respektlosigkeit, Einschüchterung, Kontrollen, Unregelmäßigkeiten bei der Abrechnung von Spesen und Arbeitsstunden, Lohnkürzung, Lohnausfall, Lügen gegenüber Kunden und Fahrern, Verstoß gegen zahlreiche Sicherheitsauflagen sowie der ständige Druck, gegen alle möglichen Gesetze verstoßen zu müssen. Aber begleiten Sie mich doch am besten auf einigen Touren und machen Sie sich selbst ein Bild von den Lebensbedingungen der sogenannten »Könige der Landstraßen«. (...) Lenk- und Ruhezeiten: Gut gemeint... Die Vorschriften über Lenk- und Ruhezeiten für Lkw-Fahrer sind mittlerweile einheitlich in der gesamten EU. Die Verordnung (EG) 561/2006 ist sehr ausgefeilt, dadurch jedoch hochkompliziert und bietet auch an Fernfahrerstammtischen immer wieder Anlass zu ausgiebigen Diskussionen. Dennoch wird von jedem Trucker in ganz Europa erwartet, dass er sie kennt und befolgt. Nicht mal von den kontrollierenden Polizisten verlangt man das – sie haben ein Gerät, mit dem sie die digitalen Tachos auswerten können. Nicht selten meldet diese Technik irgendeinen Verstoß, und die Beamten müssen dann selbst erst mal lange nachblättern, ehe sie herausfinden, gegen was genau verstoßen wurde. Die Verordnung ist zudem ein Musterbeispiel für effektiven Lobbyismus. Gerade die deutschen Regierungen jedweder politischer Couleur haben sich immer vehement gegen eine sozialere (und dadurch verkehrssichere) Gestaltung dieser Arbeitszeitregelung gewehrt – die Interessen der Wirtschaft sind SPDCDUFDPGRÜ-NEN offensichtlich wichtiger als die Verkehrssicherheit der Allgemeinheit. Begriffe wie Acht-Stunden-Tag oder Vierzig-Stunden-Woche klingen für Trucker wie Märchen aus einer fremden Welt. Die Brüsseler Bürokraten haben extra für sie den Begriff der Doppelwoche erfunden. Neunzig Stunden Lenkzeit dürfen es in einer Doppelwoche maximal sein, jedoch immerhin bis zu 56 Stunden innerhalb einer Woche. Das sind wohlgemerkt nur die Lenkzeiten, hinzu kommen noch Wartezeiten, Be- und Entladen, Reparaturen, Grenzabfertigungen, Tanken, und so weiter. Diese Zeiten sind zwar eigentlich auch Arbeitszeit, da das Fahrzeug nicht bewegt wird, ist das jedoch schwer zu kontrollieren und wird meistens als Freizeit eingestuft. Übrigens gilt das auch für den Lohn: Viele Speditionen bezahlen nur für die Zeit, in der der Wagen rollt, bei mir war das auch so. Wenn ich also selbst ausladen musste, bekam ich diese Zeit noch nicht einmal bezahlt. Ein paar weitere Zahlen: Jedes Wochenende muss/darf der Fahrer 24 Stunden Pause einlegen, jedes zweite 45 Stunden. Die tägliche Lenkzeit darf bis zu neun Stunden und zweimal pro Woche auch bis zu zehn Stunden betragen. Nach spätestens viereinhalb Stunden muss man 45 Minuten Pause einlegen. In der Praxis werden Be- und Entladezeiten, Grenzabfertigungen oder Verzollung oft offiziell als Pause deklariert, der Wagen ist ja schließlich nicht gerollt. Dann hat also nur der Truck Pause, der Fahrer steht währenddessen in irgendeiner Schlange am Schalter, wuchtet Paletten durch die Gegend, wechselt einen Reifen oder betankt das Fahrzeug. In der Pause darf das Fahrzeug nicht einen Meter bewegt werden. Wenn ein Fahrer nach 25 Minuten Pause den Lkw einige Meter weiter bewegen muss, etwa damit jemand anderes aus- oder einparken kann, ist die (offizielle) Pause im Eimer. So etwas kann dann zwei Wochen später tausende Kilometer entfernt in einer Kontrolle richtig teuer werden, wenn ein Polizist schlechte Laune hat oder seine Arbeit tausendprozentig ernst nimmt: Der Fahrer muss die letzten 28 Tage Arbeitszeit lückenlos nachweisen können. Dieses Detail der ansonsten sehr sinnvollen und eigentlich noch viel zu liberalen Gesetzgebung finde ich diskriminierend. Es ist ja richtig und berechtigt, dass die Einhaltung der Ruhezeiten kontrolliert wird. Dass das aber gleich für die kompletten letzten 28 Tage gilt, halte ich für übertrieben. Ob man ausgeschlafen im Straßenverkehr unterwegs ist, ergibt sich aus den Lenk- und Ruhezeiten der letzten zwei bis drei Tage und nicht der letzten vier Wochen. Auch die Einhaltung der anderen Bestimmungen sollte kontrolliert werden, aber das könnte ja – wie in jeder anderen Branche – bei jährlichen Betriebsprüfungen geschehen anstatt bei täglichen Polizeikontrollen, schließlich sitzen dort auch die Verantwortlichen für eventuelle Vergehen. (...) Uns Fahrern hingegen drohen ständige Kontrollen, die oftmals auch schikanös ausfallen. Man muss bezahlen für kleinste bürokratische Verfehlungen. Wer die Tachoscheibe erst nach 24 Stunden und fünf Minuten wechselt, kann dafür in Spanien oder Ungarn ein halbes Monatsgehalt abgeknöpft bekommen. In Istanbul musste ich mal drei Tage warten und bin in ein Hotel gegangen. Weil ich in dieser Zeit aber die Tachoscheibe nicht gewechselt habe, sollte ich in Bulgarien mehrere hundert Euro Strafe bezahlen. Da nutzte weder die Hotelrechnung etwas noch die Tatsache, dass der Wagen in dieser Zeit null Kilometer zurückgelegt hatte. (...) Neben der reinen Lenkzeit gibt es auch Höchstgrenzen für die Schichtzeiten. Eine Schicht darf bis zu dreizehn Stunden und zweimal wöchentlich unter bestimmten Bedingungen sogar bis zu unglaublichen fünfzehn Stunden betragen! ... flächendeckend missachtet Doch selbst diese arbeitgeberfreundlichen Gesetze werden von vielen Spediteuren systematisch übertreten. Zwar gibt es mittlerweile in den meisten europäischen Ländern viele Kontrollen, aber es gibt auch viele Tricks, mit denen versucht wird, die Kontrolleure hinters Licht zu führen. Und wenn die Kontrolleure nicht extra auf solche Vergehen spezialisiert sind, gelingt das auch oft. Aber spätestens in einer Kontrolle, die auf Lkw-Transporte spezialisiert ist, oder bei einem Unfall fliegt das alles sowieso auf. Bei den Spezialkontrollen wird auch regelmäßig entlarvt, wie flächendeckend die Gesetze im Speditionsbereich übertreten werden. Üblicherweise liegt der Anteil der Fahrzeuge, an denen die Kontrolleure etwas zu beanstanden haben (Ladungssicherung, Mängel am Fahrzeug, Arbeitszeitüberschreitungen und vieles mehr) bei über fünfzig Prozent, nicht selten sogar bei über achtzig Prozent. In der Presse liest man hin und wieder von diesen Spezialkontrollen, aber außer den Kontrolleuren scheint das kaum jemanden zu stören. Ich wundere mich immer wieder darüber, dass es so gut wie keinen Politiker und keinen Verkehrsteilnehmer stört, was da für rollende Zeitbomben auf unseren Autobahnen unterwegs sind. Verkehrstote werden scheinbar so widerspruchslos hingenommen wie Nieselregen oder Schnupfen. Bis vor wenigen Jahren wurde die Arbeitszeit nur durch einen Fahrtenschreiber dokumentiert, alle 24 Stunden muss der Fahrer die Tachoscheibe wechseln. Seit Mai 2006 ist jedoch der elektronische Fahrtenschreiber europaweit Pflicht bei allen Neufahrzeugen. Alle Daten werden 365 Tage lang auf einem Chip im Fahrzeug und 28 Tage lang auf der Chipkarte des Fahrers, der sogenannten Fahrerkarte, gespeichert. Manipulationen und Tricksereien sind mit dem digitalen Tacho zwar sehr viel schwieriger, aber immer noch möglich. Manch eine Spedition legt sich nur deswegen keine Neuwagen zu, weil der alte Fahrtenschreiber mehr Manipulationsmöglichkeiten bietet. Immer Urlaub – auf Schein Die gängigste Manipulationsmethode ist der sogenannte Urlaubsschein, auf Niederländisch »Vakantiebrief«. Diese Urkunde bescheinigt dem Fahrer, dass er die letzten vier Wochen nicht gearbeitet hat, weil er Urlaub hatte oder krank war. Das Gesetz schreibt Format und Inhalt dieses Schreibens bis ins Detail vor. So kann ein Polizist in einem fremden EU-Land die Bescheinigung sofort erkennen, selbst wenn sie in einer anderen Sprache ausgestellt ist, und sieht das Ausstellungsdatum und von wann bis wann der Urlaub gedauert hat. Das Dumme und Unglaubliche daran ist nur: Das kann erfunden und gelogen sein, denn jeder Spediteur darf dieses Dokument für seine Fahrer selbst ausstellen! Ich bekam einen solchen Vakantiebrief von meiner Firma zu Beginn jeder Tour, also alle ein bis zwei Wochen. Der Chef hat dadurch gleich drei Vorteile: Er muss sich erstens nicht um die maximal erlaubte Arbeitszeit in der Doppelwoche kümmern, kann seinen Fahrer also jede Woche 56 Stunden fahren lassen. Er braucht ihm zweitens auch kein langes Wochenende zu gestatten, 24 Stunden am siebten Tag reichen dann – ich habe zeitweise über Monate kein Zwei-Tage-Wochenende gehabt. Der dritte Vorteil für den Chef ist schließlich der für die Verkehrssicherheit gefährlichste: Ich bekam den Vakantiebrief meistens nachmittags oder abends in die Hand gedrückt und hatte an diesen Tagen oft schon zwölf Stunden gearbeitet, hätte also eigentlich elf Stunden Pause machen müssen. Mit diesem frischen, oder besser gesagt, frisch gefälschten, Dokument musste ich dann ohne Pause an die volle Schicht eine weitere anhängen. Bei Polizisten erregt dieser Urlaubsschein selbstverständlich Misstrauen. Mir ist es mehrfach passiert, dass die Polizei meine Kabine durchsucht hat, wenn ich den Schein bei einer Kontrolle vorgezeigt habe. Ob sie das ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl überhaupt darf, ist gar nicht so klar, aber sie tut es eben. In der Praxis musste ich in den unterschiedlichsten Ländern mit geballter Faust in der Tasche zusehen, wie Polizisten und sogar privater Werkschutz bei allen möglichen Anlässen mein Bettzeug, meine persönlichen Sachen, ja sogar meine Dreckwäsche durchwühlt haben. Die Polizisten suchen nach Belegen dafür, dass ich in der Vorwoche sehr wohl gearbeitet habe. Hätten sie auch nur eine einzige Quittung gefunden, ein von mir unterschriebenes Formular oder irgendeinen anderen Beleg, dann hätte mich das mehrere tausend Euro gekostet. Denn dann wäre nicht nur eine satte Geldstrafe wegen Überschreitung der zulässigen Lenkzeit fällig gewesen, sondern auch ein Strafverfahren gegen meinen Chef und gegen mich wegen Betrugs und Urkundenfälschung. Mitschuldig oder Job los Als Fahrer befindet man sich mal wieder in der Zwickmühle: Einerseits soll man das befolgen, was der Chef sagt, ansonsten droht die Kündigung. Andererseits soll man die Gesetze einhalten, ansonsten drohen Geldstrafen, Führerscheinentzug, Punkte in Flensburg, Strafverfahren und Schlimmeres. Wenn nun das Gesetz und der Chef unterschiedliche Dinge von einem wollen, dann muss man, will man den Job nicht verlieren, gezwungenermaßen zum Rechtsbrecher werden. Das erinnerte mich an den alten Sponti-Spruch: »Du hast keine Chance, nutze sie!« Da ich immer einen gefälschten Urlaubsschein bei mir hatte, war es auch nur schwer möglich, Aufzeichnungen über meine Touren zu machen, gar Tagebuch zu führen sowie die gefälschten Dokumente aufzubewahren. Aber ich habe einen Weg gefunden, zahlreiche Beweise für die ständigen Gesetzesverstöße zu dokumentieren. Die Urlaubsscheine müssen vom Chef sowie vom Fahrer unterschrieben werden. Das habe ich nie gemacht, da ich mir die illegale Praxis nicht zu eigen machen wollte. Einmal bin ich in Frankreich nachts um drei Uhr an der Autobahnzahlstelle bei Tours in eine große Kontrolle gekommen. Zum Glück hat es mir in Frankreich oftmals geholfen, dass ich recht gut französisch spreche, das freute die Polizisten immer. Der Beamte betrachtete den Urlaubsschein mit größtem Misstrauen. Er sagte, den müsse ich ja noch unterschreiben, »vergaß« aber zum Glück, darauf zu bestehen – ich hätte das nämlich nicht gemacht. Stattdessen sah er mir in die Augen und fragte mich, ob ich denn wirklich letzte Woche nicht gearbeitet hätte. Da war es wieder, das unlösbare Dilemma: Was auch immer man antwortet, es kann jede Menge Ärger einbringen. Ich wollte ihn nicht anlügen und mich so zum Komplizen meines Chefs machen. Ich dachte an den braven Soldaten Schwejk und antwortete ihm: »Das ist jetzt eine schwierige Frage. Mein Chef hat gesagt, wenn mich ein Polizist danach fragt, dann solle ich ihm dieses Papier in die Hand drücken. Und darüber hinaus kann ich Ihnen nur Folgendes erklären: Wenn Sie das denken, was ich denke, dass Sie es denken, dann sind Sie ein guter Polizist. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.« Damit hatte ich mal wieder Glück gehabt. Der Polizist sah mich an, grinste, gab mir meine Papiere zurück und ließ mich weiterfahren. In der Slowakei hingegen hat mich ein Polizist einmal aufgefordert, das Papier zu unterschreiben. Ich habe das verweigert mit der Notlüge, das sei auf Niederländisch und ich wisse nicht, was ich da signiere. Dass ich damit durchkam, war ebenfalls nur Dusel, kurz vor Feierabend wollte der Polizist anscheinend keinen Stress mehr haben. Ich hatte beschlossen, andernfalls die Wahrheit zu sagen, egal in welchem Land ich kontrolliert werde. Dann wäre nur mein Chef wegen der Straftat der Urkundenfälschung dran. Teuer wäre es jedoch auch für mich geworden, weil immer noch die Ordnungswidrigkeit der erheblichen Arbeitszeitüberschreitung bliebe. Wir Fahrer bekommen oft vorgehalten, dass wir uns mitschuldig machten, wenn wir uns bereit erklären, ge-gen die einschlägigen Gesetze zu verstoßen. Auch die wenigen Kollegen, die das Glück haben, dass sie in ihrem Job ganz legal bleiben dürfen, äußern sich oft dahingehend. Dieser selbstgerechte Vorwurf ist jedoch lebensfremd, besonders in Krisenzeiten. Wer sich weigert, Arbeitszeiten zu überschreiten, fliegt in vielen Be-trieben ganz schnell raus. Wer zehn Stunden an einer Grenze oder einer Ladestelle warten muss und danach Feierabend macht mit Verweis auf die Gesetze, wird in diesen Klitschen keine große Zukunft haben. Natürlich wird irgendeine andere Begründung vorgeschoben, die Spediteure sind ja nicht blöd. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Krisen ist es sehr schwierig, eine neue Arbeit zu finden – und praktisch unmöglich, wenn man nur Jobs annehmen will, bei denen man hundertprozentig legal bleiben kann. Wenn die Politik nicht so von Lobbyismus zerfressen wäre, sondern ein ernsthaftes Interesse hätte, dieses Problem zu lösen, dann gäbe es dazu eine ganz einfache erste Maßnahme: Straffreiheit bei Selbstanzeige – aber das gibt es nur für Steuerbetrüger. Wie gern hätte ich manches Mal die Polizei gebeten, mich aus dem Verkehr zu ziehen, weil ich so müde war. Aber selbst der verständnisvollste, freundlichste Polizist hat rechtlich gar nicht die Möglichkeit, dann ein Auge zuzudrücken. Würde das geändert – nicht wenige Fahrer würden davon Gebrauch machen, da bin ich mir sicher, und außerdem würde die Verkehrssicherheit garantiert verbessert. Wenn man die Vernunft als Maßstab nähme und nicht wirtschaftliche Interessen, dann gäbe es überhaupt keinen Grund, der gegen eine solche Gesetzesinitiative einzuwenden wäre. Doch nun springen wir an einem beliebigen Tag rein in das Leben eines internationalen Fernfahrers. Alle Begebenheiten aus dem folgenden Logbuch sind wirklich so passiert – teilweise mir, teilweise meinen Kollegen. Ich hatte viel Streit mit meinen Chefs, weil ich auf der Einhaltung der geltenden Vorschriften bestand. Da ich weiß, dass etliche meiner Kollegen zu Übertreibungen neigen, war ich kritisch in der Recherche, habe mir Tachoscheiben und Schriftliches von ihnen zeigen lassen oder war gemeinsam mit ihnen unterwegs und stehe dafür ein, dass der Ich-Erzähler im Folgenden leider nichts als die reine, traurige Wahrheit erzählt. Jochen Dieckmann: »Geschlafen wird am Monatsende. Ich, mein Truck und der alltägliche Wahnsinn auf Europas Straßen«, Westend Verlag, Frankfurt a.M. 2011, ISBN: 978-3-938060-63-6, 16,95 Euro Die Verlagshomepage zum Buch im Westend Verlag mit Bestellmöglichkeit * Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6/11 express im Netz unter: www.express-afp.info , www.labournet.de/express
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